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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 185 Bewertungen
Bewertung vom 10.04.2021
Bogners Abgang
Platzgumer, Hans

Bogners Abgang


ausgezeichnet

Der Künstler Andreas M. Bogner wartet auf seinen Durchbruch. Exzentrische Ideen sind genügend vorhanden, doch noch immer hat er nicht das Projekt gefunden, das zumindest in der Innsbrucker Kunstszene für Aufruhr sorgen könnte. Neuerdings arbeitet er daran, die unterschiedlichsten Waffen mit Tusche auf Papier zu bringen. Vielleicht überzeugt ja dieser Zyklus seinen schärfsten Kritiker Kurt Niederer. Aktuell liegt eine Pistole vor ihm, eine Walter PPK, ausgeliehen von seinem Schwiegervater. Als es an einem Aprilabend zu einem schweren Autounfall in der Nähe seines Ateliers kommt, ändert sich nicht nur Bogners Leben schlagartig...

"Bogners Abgang" von Hans Platzgumer ist ein vom Umfang her ausgesprochen kurzer Roman von nicht einmal 150 Seiten, der es trotzdem auf grandiose Weise schafft, eine eigenwillige und intensive Spannung zu erzeugen, mit der der Autor die Grenzen zum Kriminalgenre streift. Doch das Buch ist viel mehr als ein Krimi. Es stellt die großen Fragen nach Schuld und Moral, ohne seine Figuren zu verurteilen. Und was ist der Unterschied zwischen Schweigen und Lügen? Es bleibt den LeserInnen vorbehalten, ein eigenes Urteil zu fällen. Auch die Figurenzeichnung ist gelungen, insbesondere der ambivalente Charakter Bogners wirkt authentisch und mitreißend

Formal ist "Bogners Abgang" ohnehin ein Erlebnis. Neben einer stringenten Erzählung der Handlung nach dem Autounfall aus zwei Perspektiven gibt es Auszüge aus Bogners Arbeitsnotizen, Protokolle seiner therapeutischen Sitzungen, Rückblicke, Zeugenaussagen, Sprachnachrichten und Unfallmeldungen der Polizei. Das Ganze vermischt Platzgumer äußerst gelungen zu einem stimmigen Gesamtbild und erschafft damit das Kunstwerk, nach dem sich Protagonist Bogner vergeblich streckt.

Erwähnenswert sei dabei insbesondere eine Szene, in der sich der Protagonist an ein wirklich extremes Kunstprojekt heranwagt. In einem Genueser Hotelzimmer legt er sich auf den Boden, um durch gasförmig werdendes Trockeneis eine Nahtoderfahrung zu provozieren, deren Ergebnis er mit Kohlezeichnungen festhalten will. Die Szene ist eine Art Herzstück des Romans, die zeigt, was die Figur Bogner und ihren unbändigen Erfolgswillen ausmacht. Auf fast zehn Seiten schreibt sich Platzgumer in einen dramatischen Rausch voller philosophischer Fragen, der auf mich äußerst spannend wirkte. Durch den Tempuswechsel ins erzählerische Präsens ensteht eine soghafte Unmittelbarkeit. Wer "Bogners Abgang" liest, wird diese Szene nicht vergessen, sie ist eine der aufregendsten, die ich seit längerer Zeit in der deutschsprachigen Literatur zu lesen bekommen habe.

Im letzten Drittel nimmt der Roman fast Züge eines antiken Dramas der alten Griechen an. Während es im vorigen Verlauf immer wieder tragikomische Momente gab, überwiegt hier die große Tragödie um Schuld und Moral. So erhält auch der "Abgang" aus dem Titel seine ganz eigene Bedeutung in diesem kriminalistischen Drama. "Eine Pistole ist niemals unschuldig", urteilt Bogner gleich zu Beginn des Romans und erlebt am Ende eine Art selbsterfüllender Prophezeiung - wenn auch ganz anders als gedacht.

Fazit: Mit "Bogners Abgang" ist Hans Platzgumer ein kluger, spannender und bewegender Roman gelungen, der nicht nur durch seine Figuren und die Handlung überzeugt, sondern auch formal brilliert. Geschickt spielt es mit den Erwartungen der LeserInnen, um sie ein ums andere Mal über den Haufen zu werfen. Ein Buch, das trotz seiner Kürze lange nachwirkt.

Bewertung vom 03.04.2021
Gästebuch
Shapton, Leanne

Gästebuch


sehr gut

"Gespenstergeschichten" lautet der Untertitel von Leanne Shaptons "Gästebuch", in dem die Künstlerin, Illustratorin und Autorin eine ungemein originelle Mischung aus Fotos, Aquarellen und Texten zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk verarbeitet.

Wer sich allerdings auf typische Schauergeschichten einstellt, die durch ein paar Fotos untermalt werden, wird vom "Gästebuch" wahrscheinlich enttäuscht sein. Vielmehr ist es so, dass der Grusel im Kopf entsteht und man als LeserIn seiner Kreativität freien Lauf lassen kann, um die Bedeutung einer der "Geschichten" herauszubekommen.

Was hat der unsichtbare Freund Walter damit zu tun, dass Tennis-Ass Billy Byron nach seinen Matches immer kollabiert? Wie viele Veranstaltungen an nur einem Tag kann Edward Mintz in seinem blauen Anzug eigentlich besuchen? Und was steckt hinter dem Familiengeist der Percys im Georgehythe Place?

Man betrachtet die wirklich gelungenen Fotos und nach und nach entsteht im Kopf eine Geschichte. Wenn man sich darauf einlässt, bleibt aus jeder dieser Geschichten etwas hängen. Manchmal sah ich mich genötigt, bestimmte Personen (wie beispielsweise Edward Mintz) im Internet zu suchen, da es Leanne Shapton gelingt, eine ebenso unheimliche wie realistische Atmosphäre zu schaffen. Bei anderen Geschichten oder Bildern passierte bei mir jedoch nichts. Das könnte allerdings auch daran liegen, dass man das "Gästebuch" immer wieder zur Hand nehmen und neu betrachten kann. Vielleicht ensteht beim nächsten Mal eine andere Inspiration, ein unerklärlicher Schauder.

Unbestritten ist, dass Shapton mit diesem höchst kreativen, unkonventionellen und skurrilen Buch etwas wirklich Eigenes und Besonderes erschaffen hat. Und auch wenn in meinen Augen die Qualität der Texte manchmal hinter den überwiegend großartigen Bildern zurückbleibt, ist das "Gästebuch" ein mehr als lohnenswertes Experiment für LeserInnen ohne Scheuklappen, die sich gern gruseln möchten.

Bewertung vom 02.04.2021
Kronsnest
Knöppler, Florian

Kronsnest


ausgezeichnet

Das holsteinische Dorf Kronsnest in den 1920er-Jahren: Hier lebt der 15-jährige Hannes mit seinen Eltern auf einem Hof. Die Landarbeit ist hart, der Vater gewalttätig - und dann gibt es auch noch Mara, Tochter aus einem besseren Hause, die Hannes den Kopf verdreht. Wie geht ein empfindsamer Jugendlicher mit seinen Gefühlen um, wenn um ihn herum die Welt langsam aber sicher auf dem Kopf steht? Wenn ihm vor dem Erwachsenwerden schon die ganz großen Themen wie Liebe, Freundschaft und Tod streifen? Darüber und über noch viel mehr erzählt Florian Knöppler in seinem großartigen Debütroman "Kronsnest".

Als bekennender Freund von Entwicklungs- bzw. Coming-of-Age-Romanen möchte ich behaupten, dass ich in den letzten Jahren sehr viele Bücher aus diesem Bereich gelesen habe. Doch kaum eines konnte mich von vorn bis hinten so begeistern, wie es Knöppler mit "Kronsnest" geschafft hat.

Da ist zunächst einmal die große Empathie, die der Autor seinem Protagonisten Hannes entgegenbringt. Tatsächlich gibt es in diesem fast 450 Seiten schweren Werk nicht eine einzige Szene, die ohne ihn auskommt. Durchaus riskant, wenn beispielsweise eine Hauptfigur nicht die Erwartungen des Lesers erfüllt oder ihn gar langweilt. Nicht so in "Kronsnest": Das Vertrauen, das Knöppler Hannes entgegenbringt, ist mehr als gerechtfertigt. Von Beginn an spürte ich eine große Verbundenheit zu ihm. Er ist ein Junge, dem durchaus viel zugemutet wird. Er macht Fehler, auch schwere, wie sie ein Jugendlicher in seinem Alter eben macht. Und dennoch konnte ich Hannes sofort in mein Herz schließen. Auf seinem Weg zum Erwachsenen überwindet er zahlreiche Fallstricke und zeigt dabei einen fast schon unermüdlichen Kampfgeist. Der Tod eines ihm nahestehenden Menschen, unerwiderte Liebe und der beste Freund drauf und dran, ein Nationalsozialist zu werden? Hannes gibt nicht auf und geht seinen Weg.

Ein weiteres großes Plus von "Kronsnest" ist der eindringliche und einnehmende Schreibstil Florian Knöpplers. Vielleicht ist es von Vorteil, wenn man auch aus Norddeutschland kommt und eine Vorstellung hat von der Elbmarsch und ihrer für viele Menschen vielleicht unwirtlich wirkenden Rauheit. Ich konnte jedenfalls nahezu komplett abtauchen in dieser Landschaft, weil Knöppler es schafft, die Natur in all ihrer Schönheit zu erkennen und zu beschreiben. Dazu gehört auch die Empathie, die nicht nur Hannes, sondern auch der Autor den zahlreichen Tieren des Romans entgegenbringt.

Die Dialoge sind authentisch und klug. In Hannes' Verhältnis zu Mara, das immer zwischen Liebe und Faszination schwankt und zu dem später auch ein bewegender Briefwechsel gehört, erinnert "Kronsnest" in seiner Einzigartigkeit sogar an große Klassiker der Empfindsamkeit oder des Sturms und Drangs. So wundert sich nicht nur Hannes auf S. 361 über seinen Brief: "Wie von einem anderen, wie aus einem Roman, war der erste Gedanke", sondern auch ich blieb erstaunt darüber zurück, dass ein Roman der Gegenwart noch solche Worte findet.

Und auch wenn Hannes im Großen und Ganzen unpolitisch ist, gehen die politischen Wandel der Zeit nicht an ihm und an Kronsnest vorbei. Die aufbegehrende Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein, der wachsende Antisemitismus - all dies sind Themen, von denen Hannes direkt betroffen ist, denn sein bester Freund Thies entwickelt sich in eine besorgniserregende Richtung.

Fazit: Mit "Kronsnest" hat Florian Knöppler einen atemberaubend-schönen Roman geschrieben, der trotz der durchweg ernsten Themen eine große Wärme und Intensität ausstrahlt, der man sich nicht entziehen kann. Schon jetzt gehört das Buch zu meinen absoluten Lieblingsbüchern und damit zu den Büchern, die ich immer wieder lesen möchte. Ein Muss, nicht nur für Freunde von Entwicklungsromanen, sondern auch für LeserInnen, die dem Charme der norddeutschen Landschaft erliegen möchten. Unvergesslich.

Bewertung vom 27.03.2021
Die Welt neu beginnen
Hesse, Helge

Die Welt neu beginnen


sehr gut

Was haben George Washington, Johann Wolfgang von Goethe, James Cook und Marie Antoinette gemeinsam? Sie alle prägten die Zeit des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts. Und sie sind ProtagonistInnen des neu bei Reclam erschienenen Sachbuchs "Die Welt neu beginnen: Leben in Zeiten des Aufbruchs 1775 - 1799" von Helge Hesse.

Hesse zeigt in einem unterhaltsamen Ritt durch dieses bewegte und bewegende Vierteljahrhundert die bahnbrechenden Ereignisse und Erfindungen auf, die die moderne Welt, wie wir sie kennen, bis in die Gegenwart hinein prägen. Vom Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg über die Erfindung der Dampfmaschine und die Vorboten der Industrialisierung bis zum Ende der Französischen Revolution: Helge Hesse richtet den Blick auf das große Ganze. Dabei erweist er sich als begnadeter Erzähler - egal ob es um politische, kulturelle oder gesellschaftliche Themen geht.

Sechs Jahre hat Hesse für "Die Welt neu beginnen" recherchiert - ein Aufwand, den man als Leser spürt, denn der Autor zeigt sich fast schon selbst als "Universalgenie", wie er einige seiner wichtigsten Figuren im Buch nennt. Besonders gelungen ist dabei, wenn sich die Lebensläufe von Menschen kreuzen, die man so nicht erwartet hätte, oder wenn sich Hesses Blick auf Personen richtet, über die ich noch nicht so viel wusste. Zentral ist beispielsweise der Lebenslauf Georg Forsters, deutscher Weltreisender und späterer Revolutionär, dem in "Die Welt neu beginnen" bestimmt mindestens genauso viele Episoden gewidmet werden wie einem George Washington.

Überhaupt sind es diese kurzen Episoden, die anekdotenreich dafür sorgen, dass man fast das Gefühl hat, einen Roman zu lesen und aus dem Sachbuch eine über weite Strecken abwechslungsreiche und mitreißende Erzählung machen. Und auch die Bezüge zur Aktualität werden vor allem dann deutlich, wenn es um die Entwicklung eines Impfstoffs gegen die Pocken geht - damals wie heute ein Wettlauf gegen die Zeit.

Der vermeintliche Vorteil der Abwechslung entpuppte sich für mich im letzten Viertel des Buches jedoch auch als ein Nachteil: In meinen Augen ist das "Personenverzeichnis" schlicht ein wenig zu umfangreich geworden. Das sieht man schon zu Beginn des Buches, wenn Hesse "Einige Personen der Handlung" aufführt und dabei sage und schreibe 54 Namen nennt. Hier wäre es vorteilhafter gewesen, sich auf weniger Personen zu konzentrieren. Denn je länger das Buch andauerte, stellte sich bei mir eine gewisse Überfrachtung an Informationen und Menschen ein. Und auch wenn Hesses Werk ein populärwissenschaftliches Sachbuch ist, wäre die ein oder andere Quelle bei Zitaten wünschenswert gewesen.

Insgesamt ist "Die Welt neu beginnen" aber ein informatives und unterhaltsames Buch, das eine breite Leserschaft ansprechen wird. Denn egal ob Marie Antoinette, Mozart oder Schiller - wohl jeder wird in ihm Menschen finden, die ihn besonders interessieren.

Bewertung vom 22.03.2021
Inseln
Francis, Gavin

Inseln


ausgezeichnet

"Wir alle sind Insulaner" - mit diesem bemerkenswerten Satz endet "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" von Gavin Francis. Nicht minder bemerkenswert ist dieses Buch, erschienen bei Dumont, denn "Inseln" lässt sich kaum klassifizieren. Es ist kein Sachbuch im eigentlichen Sinne, es besteht nicht nur aus Reiseberichten, es sind auch keine reinen Essays - sondern die eigentümliche und empathische Mischung aus allem. Die thematische Basis sind allein die Inseln - vornehmlich die kleinen, nordeuropäischen.

Francis untersucht in seinem Buch die Bedeutung von Isolation und Verbundenheit, fragt mal philosophisch, welcher Mensch wieviel Isolation überhaupt benötigt. Andererseits zitiert er aus anderen Sachbüchern, auch aus Romanen und berichtet immer wieder von Reisen und Aufenthalten auf Inseln, die für ihn eine besondere Bedeutung haben.

Dabei spürt man vor allem die große Empathie des Autoren - zur Natur, zu den Inseln - aber auch zum Menschen. Francis schreibt nicht nur, er arbeitet auch als Mediziner und spürt dort zwangsläufig eine große Verbundenheit zu den Mitmenschen.

Seine Reisen zu den Inseln sind dabei jedoch keine Flucht vor dem Menschen, vielmehr ist es die Liebe zu den oftmals wenig berührten Landfleckchen und zu ihrer Vegetation. Am häufigsten landet der Autor dabei auf der Isle of May - verständlich, denn diese Insel begleitet ihn seit seiner Kindheit. Vom gegenüberliegenden Festland beobachtete er bereits als Kind beim Campen den altehrwürdigen Leuchtturm - die Basis seiner Inselliebe oder sogar Inselsehnsucht wurde in diesen frühen Tagen gelegt.

Wenn Francis das Meer und sein Rauschen beschreibt, die diversesten Vögel beobachtet oder die Besonderheiten der Inseln aufzeigt, möchte man als Leser teilhaben an dieser Welt. Menschen, die immer mal wieder das Bedürfnis nach Isolation verspüren, dürften sich durch die fast körperliche Atmosphäre in "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" besonders angesprochen fühlen. Hinzu kommt ein starker Bezug zur Aktualität. Als Francis mit dem Schreiben dieses Buches begann, konnte er noch nicht ahnen, welche Bedeutung der Begriff "Isolation" in den Folgejahren bekommen sollte. Umso lohnenswerter scheint es in diesen Tagen, sich nicht nur mit der Isolation an sich auseinanderzusetzen, sondern auch die Vor- und Nachteile dieser einmal zu überdenken. "Inseln" ist dafür die gelungene und warmherzige Einladung.

Zu erwähnen sei auch die auffällige Schönheit des Buches. Die goldumrandete Stevenson-Schatzinsel auf dem Cover, die dezent-eleganten Farbtöne, vor allem aber auch die historischen und aktuellen Kartenausschnitte, die das ganze Buch wie ein goldener Faden durchziehen - all das macht aus "Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht" ein wunderbar abgestimmtes und absolut lesens- und staunenswertes Gesamtpaket.

Fazit: Mit "Inseln" hat Gavin Francis ein bemerkenswertes Buch zum richtigen Zeitpunkt herausgebracht. Die klugen Essays, empathischen Reiseberichte und liebevoll ausgewählten literarischen Zitate regen zum Träumen und Nachdenken an. Ein lesenswertes Gesamtkunstwerk für alle, die die Inseln und das Meer lieben - und sich vielleicht selbst manchmal wie ein Insulaner oder gar eine Insel fühlen.

Bewertung vom 20.03.2021
Dunkelnacht
Boie, Kirsten

Dunkelnacht


ausgezeichnet

Penzberg, April 1945: Während die Amerikaner schon vor der Tür stehen, bereitet sich die bayerische Kleinstadt auf den Frieden vor. Der alte Bürgermeister holt sich sein Amt zurück, das er schon vor Beginn der NS-Diktatur innehatte. Die Stadt widersetzt sich den Plänen der Nationalsozialisten, infrastrukturelle Besonderheiten wie das Bergwerk zu zerstören. Doch es sind nicht die amerikanischen Soldaten, die die Stadt zuerst erreichen, sondern die Wehrmacht auf ihrem Weg in die Alpen...

Kirsten Boie hat mit "Dunkelnacht" eine sprachlich wie inhaltlich brillante Novelle verfasst, der es gelingt, auf gerade einmal knapp 130 Seiten eine so intensive und berührende Atmosphäre zu erschaffen, wie ich sie lange nicht mehr in einem Jugendbuch verspürt habe.

Sie vermischt historische Fakten wie eben die "Mordnacht von Penzberg", von der ich zuvor noch nie etwas gehört hatte, mit dem Schicksal zweier Jugendlicher, die in den Unwirklichkeiten des Zweiten Weltkrieges eine zarte erste Liebe erleben. Schorsch und Marie, so die Namen der ProtagonistInnen, sind dabei trotz der Kürze des Textes so authentisch wie berührend gezeichnet. Gleich von Beginn an gelang es mir, ein hohes Identifikationspotenzial mit den beiden aufzubauen. Während eine erste Liebe in vielen Lebenssituationen aufregend und überfordernd erscheint, wirkt sie in "Dunkelnacht" nahezu unmöglich. Zu viele Faktoren stören das Verhältnis der Figuren: die unterschiedlichen politischen Ansichten der Eltern, das ständige Leben zwischen Krieg und Frieden - und dann gibt es ja auch noch Gustl, an dem Marie auch Interesse hatte und den es seinerseits zum Werwolf Oberbayern gezogen hat, einer Art Untergrundorganisation des Terrors.

Sehr besonders ist die Stimme des auktorialen Erzählers, der der Novelle etwas Filmisches verleiht, nicht nur, weil die ProtagonistInnen vor jedem Abschnitt namentlich erwähnt werden. Vielmehr ist es die Mischung aus kurzen, lakonischen Sätzen, die dennoch ihre Wirkung alles andere als verfehlen, und der unglaublichen Dynamik des Textes, einen so bedeutenden Tag in so wenigen Worten verdichten und intensivieren zu können. Während der Erzähler anfangs noch so wirkt, als könne er den Lauf der Geschichte beeinflussen ("Ja, lasst uns den Vollmond wählen, in der folgenden Nacht können wir ihn brauchen., S. 8), wird nach und nach deutlich, dass es kein Entrinnen gibt, vor dem Grauen, welches buchstäblich vor der Tür steht. Fast schon resignierend heißt es auf S. 67: "Aber ich greife ja vor. Die Morde müssen doch zuerst noch geschehen."

Diese Perspektive und der Ton des Erzählers haben in mir mehr als nur einmal für Gänsehaut gesorgt. Durch die zusätzliche Wahl des erzählerischen Präsens erzeugt die Novelle zudem eine wahnsinnig intensive Unmittelbarkeit. Ich hatte das Gefühl, ein Teil von Penzberg zu sein und fand "Dunkelnacht" dadurch ungemein eindringlich und wirklich spannend.

Im informativen Nachwort und dem Anhang wird die Autorin auch der jugendlichen Zielgruppe gerecht, die noch nichts vom Werwolf oder von Gauleitern gehört hat. Um nicht zu vergessen, wie grausam die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Terrordiktatur der Nationalsozialisten war, bietet es sich förmlich an, "Dunkelnacht" zu einer Art Pflichtlektüre im Deutschunterricht zu machen. Insbesondere in Penzberg und Umgebung, aber auch auf den gesamten deutschsprachigen Raum bezogen.

Fazit: Mit "Dunkelnacht" beweist Kirsten Boie auf so berührende wie geniale Weise, was für eine großartige Erzählerin sie ist. Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein so kurzes Buch dermaßen bewegen und mitreißen kann. Das liegt einerseits an den wunderbar herausgearbeiteten Figuren und deren Ängsten und Hoffnungen, aber vor allem an der melancholischen Grundstimmung, die der Erzähler mit seinen lakonischen Sätzen erzeugt. Unbedingt lesenswert für alle jugendlichen und erwachsenen LeserInnen.

6 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.03.2021
Reigen Reloaded
Rieger, Barbara

Reigen Reloaded


sehr gut

Als der Wiener Dramatiker Arthur Schnitzler 1920 in Berlin seinen "Reigen" uraufführen ließ, entfachte er damit einen der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts. Mehr als 60 Jahre lang wurde das Stück sogar verboten.

Mehr als 100 Jahre später hat sich die österreichische Autorin Barbara Rieger des Reigens angenommen und gemeinsam mit zehn weiteren AutorInnen den "Reigen Reloaded" herausgebracht, der jetzt bei Kremayr & Scheriau erschienen ist. Die Vorgabe bestand wie beim Original darin, einen Reigen aus zehn unterschiedlichen Szenen zu konzipieren, die auf verschiedene Arten Moral und Sexualität beinhalten - allerdings in Prosaform. Eine der beiden Figuren aus jeder Szene taucht dabei im darauffolgenden Kapitel wieder auf.

Zunächst einmal sticht die ausgesprochen gelungene Aufmachung des Bandes ins Auge. In lila-schwarzem Leinen und einer Typografie, die sofort auffällt und den Leser in die 1920er-Jahre zurückkatapultiert, besticht "Reigen Reloaded" durch eine ungemeine Eleganz, die durch den in Zartrosa abgegrenzten Originaltext komplettiert wird.

Eingeleitet wird der neue "Reigen" durch ein Vorwort von Daniela Strigl, bei dem es sich meiner Meinung nach anbietet, es sowohl vor, als auch nach der Lektüre des Buches zu lesen. Es führt den Leser informativ in die Thematik hinein, genauere Bezüge daraus erfasst man allerdings erst, wenn man den neuen und den Ur-"Reigen" gelesen hat.

Während sich die erste Szene zwischen der 14-jährigen Leonie und dem etwa 40-jährigen Schulhausmeister noch virtuell und angelehnt an Schnitzler als Drama abspielt, sind die folgenden neun Texte in ihrer Form freier und präsentieren sich mal als innerer Monolog, als Dialog mit Perspektivwechsel oder ein auktorialer Erzähler nimmt den Leser an die Hand - und die Begegnungen der Figuren sind real.

Dabei gelingt es den österreichischen AutorInnen in den meisten Fällen sehr gut, dem Ur-"Reigen" ein Denkmal zu setzen und darüber hinaus mit eigenen, modernen Interpretationen zu punkten. Der immer wieder durchscheinende, in Teilen recht böse Humor in Verbindung mit dem Drama der Sexualität hat mir dabei vor allem im Mittelteil außerordentlich gut gefallen. Insbesondere die Beiträge von Michael Stavaric, Angela Lehner und Martin Peichl schaffen es sowohl inhaltlich, als auch literarisch, dass aus "Reigen Reloaded" mehr als eine Hommage an Arthur Schnitzler wird - und bildeten somit für mich eine Art Herzstück des Bandes. Das stakkato-artig-lyrische "Kardamom" von Petra Ganglbauer bietet zudem ein außergewöhnliches und gelungenes Finale, das den "Reigen Reloaded" in unruhigen, aber aufregenden Gewässern nach Haus geleitet.

Nicht ganz so spannend fand ich es, wenn sich die Texte der AutorInnen in Inhalt und Form ein wenig zu sehr ähnelten, wie es gerade im ersten Drittel des "Reigen Reloaded" noch manchmal der Fall ist. Vergleicht man zudem den Ur-"Reigen" mit dem neuen Werk, kommt man zum Ergebnis, dass die neue Fassung - unter Berücksichtigung des Moralverständnisses damals und heute - doch verhältnismäßig brav ausgefallen ist. Liebe und Sexualität ist heutzutage dann doch mehr als normativ-heterosexuelle Beziehungen und um auch nur ansatzweise die Aufregung des Urtextes erreichen zu können, wäre hier vielleicht ein wenig mehr Risiko gefragt gewesen. Der Sexchat mit der Schülerin ist gleich zu Beginn der größte Aufreger.

Insgesamt ist "Reigen Reloaded" aber ein gelungenes Experiment, das zum Nachdenken über Moral und Sexualität anregt und dabei über weite Strecken sehr gut unterhält. Der Abdruck des Originaltextes ist dabei ein Gewinn, denn so ermöglicht das Buch dem Leser einerseits eigene Einblicke in Schnitzlers Text und andererseits kann er sich als Forscher betätigen und Referenzen und Unterschiede zwischen damals und heute selbst herausfinden. "Reigen Reloaded" ist somit mehr als eine lesenswerte Hommage an Arthur Schnitzler, die auch einmal mehr die Kreativität der österreichischen Literaturszene beweist.

Bewertung vom 17.03.2021
Der letzte Satz
Seethaler, Robert

Der letzte Satz


gut

Auf der Überfahrt von den Vereinigten Staaten nach Europa lässt der sterbenskranke Gustav Mahler, Dirigent und Komponist, Stationen seines Lebens Revue passieren. Während der Künstler sich seinem Tod immer stärker nähert, ist es ausgerechnet ein Schiffsjunge, der ihn auf dieser letzten Reise einen gewissen Halt gibt...

Ausgerechnet ein Schiffsjunge? Natürlich stehen dem Leser nicht nur Bilder aus Thomas Manns "Tod in Venedig", sondern auch die dazugehörigen Szenen der kongenialen Visconti-Verfilmung vor Augen: Tadzio in seinem Matrosen-Kostüm. Und obwohl die berührenden Dialoge zwischen dem Halbwüchsigen und Mahler mit Abstand die stärksten Szenen in Robert Seethalers "Der letzte Satz" sind, erreicht der Roman nicht einmal ansatzweise die melancholische Wucht, die mich beim erstmaligen Lesen von Manns Novelle über den Künstler Gustav von Aschenbach überwältigte.

Mit gerade einmal 128 Seiten ähnelt "Der letzte Satz" dann tatsächlich auch mehr einer Novelle als einem Roman, was mich im Grunde nicht gestört hätte, wenn der Inhalt denn insgesamt ergiebiger gewesen wäre. Problematisch ist einerseits, dass Mahler selbst in Zeiten relativer Gesundheit als permanenter Nörgler und Zweifler präsentiert wird. Einen glücklichen Moment erlebt dieser eigentlich nur beim einmaligen Schwimmen mit seiner früh verstorbenen kleinen Tochter Maria. Ansonsten zeugen die Rückblenden vom großen Leid des genialen Komponisten. Egal, in welcher Stadt er sich gerade befindet, welchen Auftrag er erfüllen muss - nichts scheint ihm zu gefallen, seinen Ansprüchen gerecht zu werden. Das kann man sicherlich so schreiben, doch dafür hätten in meinen Augen die sprachlich berührenden Momente stärker sein müssen.

Diese gibt es dann tatsächlich auf Mahlers letzter großer Überfahrt zu bewundern. Während der Dirigent sich auf seinen Tod vorbereitet, sind es die naiv-philosophischen Gegenreden des Schiffsjungen, die ihm das Leben erträglicher machen und die auch bei mir immer wieder eine Gänsehaut erzeugten. Hier zeigt sich, dass viel mehr emotionale Tiefe möglich gewesen wäre.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die große Stärke Mahlers - die Musik - praktisch überhaupt nicht vorkommt. Die Figur Mahler wischt die Frage des Schiffsjungen wie eine lästige Fliege weg: "Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht." Dass Seethaler es sich hier ein bisschen zu einfach macht und nicht einmal versucht, eine literarische und emotionale Bindung zu den wunderbaren Kompositionen aufzubauen, sie neu erstrahlen zu lassen, halte ich schlichtweg für bedauerlich.

Und so ist "Der letzte Satz" dann auch ein eher unbefriedigender Roman für mich gewesen, der lediglich in Ansätzen andeutet, welch großes, sprachliches Werk hier hätte entstehen können. Schade.

Bewertung vom 15.03.2021
Hundert Augen
Schweblin, Samanta

Hundert Augen


ausgezeichnet

Es kostet 279 Dollar, sieht aus wie ein Plüschtier auf Rädern und hinter seinen Augen versteckt sich eine Kamera. Sein Name: Kentuki. Ein Kentuki kann ein Panda sein, eine Krähe, ein Drache, ein Kaninchen oder eine Eule. Doch egal, welches Tier man auswählt - dahinter steckt immer ein Mensch. Ein Mensch, der ein Haus weiter wohnen kann oder am anderen Ende der Welt. Abhängig ist das Kentuki von seinem "Herrn", sprich von demjenigen, der es käuflich erworben hat. Oder ist es genau andersherum?

Samanta Schweblin erzählt in ihrem Roman "Hundert Augen" von einer Gesellschaft voller Einsamkeit, Schmerz und Wut - und das ungemein beeindruckend. Was auf den ersten Blick wie eine Dystopie wirkt, ist in Wahrheit gar keine. Zwar können wir (noch) keine Kentukis kaufen, doch ansonsten sind es Menschen von heute, die diesen Roman prägen. In der immer stärker digitalisierten Welt, in der wir heute leben, wirkt es gar nicht so unwahrscheinlich, dass man beim nächsten Besuch eines Verwandten ein kleines Stofftier auf Rädern bei ihm entdeckt.

Die Kentukis aus dem Roman sind mehr als stille Beobachter. Sie wollen ihrer Einsamkeit entkommen, indem sie am Leben eines völlig fremden Menschen teilnehmen wie Emilia aus Lima, deren Sohn wegen der Arbeit nach Hongkong gezogen ist. Sie sehnen sich nach Freiheit und nach Schnee und wollen den Tod der Mutter vergessen lassen wie der kleine Marvin, der auf Antigua lebt. Manchmal müssen sie eingreifen, um ein Verbrechen zu verhindern wie Grigor aus Kroatien, der sogar mit Kentuki-Schauplätzen handelt.

Schweblin hat ihren Roman als Episodenroman konstruiert, wobei fünf Figuren im Mittelpunkt stehen, die entweder Kentuki spielen oder sich selbst ein Kentuki angeschafft haben. Zwischendurch setzt sie immer wieder einzelne Blitzlichter von Kentuki-Geschichten, die nur einmal auftauchen, den fünf Haupterzählungen aber einen facettenreichen Unterbau liefern.

"Hundert Augen" ist dabei so klug wie unterhaltsam, ein Roman, der zum Lachen und Weinen anregt - manchmal sogar gleichzeitig. Tieftraurige Episoden wie der Suizid eines Kentukis, der ohne seinen verstorbenen "Herrn" nicht mehr weiterspielen will, bleiben dabei ebenso lange im Gedächtnis wie die auf den ersten Blick äußerst skurril wirkende Episode um Alina, die Freundin eines Künstlers, die ihre eigene Unsichtbarkeit nicht mehr aushält und ihre Wut komplett am Kentuki auslässt - mit gravierenden Folgen.

Samanta Schweblin hält den LeserInnen dabei gekonnt den Spiegel vor. Hätten wir nicht auch Lust, einem solchen kleinen Kameraden ein Zuhause zu geben? Oder machen wir das vielleicht sogar schon, indem wir uns mit Geräten unterhalten, die Frauennamen tragen und auf alles eine Antwort wissen? Oder andersherum: Wie weit würden wir eigentlich gehen, wenn wir plötzlich die Möglichkeit hätten, einen fremden Menschen nahezu rund um die Uhr zu beobachten - wobei: Haben wir diese Möglichkeit nicht in diversen Fernsehformaten schon?

Fazit: Mit "Hundert Augen" ist Samanta Schweblin ein bewegender und mitreißender Gesellschaftsroman gelungen, der die großen Fragen nach Moral, Liebe und Menschlichkeit stellt, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger die Antworten zu geben. Ein lange nachwirkendes Ereignis.