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MarcoL
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Füssen

Bewertungen

Insgesamt 203 Bewertungen
Bewertung vom 19.04.2022
Stadt der Mörder / Kommissar Julien Vioric Bd.1
Habekost, Britta

Stadt der Mörder / Kommissar Julien Vioric Bd.1


ausgezeichnet

Paris 1924. Lysanne aus einem Dorf in Süden macht sich auf den Weg, um ihre Schwester in Paris zu suchen. Seit vier Jahren hatte sie keinen Kontakt mehr, und die Ungewissheit nagt an ihr. Auf ihrer Suche trifft sie sehr bald auf zwei Personen: Den Polizisten Vioric, der auf der Jagd nach einem bestialischen Mörder ist, und Louis Aragon, Mitglied der neu gegründeten Gruppe der Surrealisten. Die Wege und Schicksale der Personen beginnen sich zu verweben, sie verstricken sich in ein Knäuel aus alten Geschichten und neuen Bewegungen. Erst die Lösung des Rätsels um den Mörder, der die komplette Stadt in Atem hält, wird sich wohl als das Schwert des Damokles erweisen. Aber bis es soweit ist erleben wir einen Roman voller Spannung und Intensität. Die Autorin versteht es derart gut, Bilder zu erzeugen, als würde man selbst in jenem Jahr durch die Gassen von Paris streifen. Dieser historische Kriminalroman zeichnet sich durch eine besondere Detailtreue aus. Und was mir am allerbesten gefallen hat, und die eigentliche Kriminalgeschichte in den Hintergrund treten lässt, ist die Welt der Surrealisten. Aragon, André Breton, Ray Man, oder Robert Desnos, um nur einige zu nennen, treten derart plastisch hervor, man fühlt sich hineinversetzt in die euphorische Stimmung jener Anfänge dieser Kunstrichtung.
Somit ergänzen sich hier fiktive Mordfälle mit realen Personen perfekt, und ein damals verbotenes Buch wird zum Urknall vieler Ereignisse. Vioric selbst, gepeinigt von seiner Vergangenheit und traumatisiert durch den ersten Weltkrieg, wird selbst in den Strudel einer Welt gezogen, die ihm nicht besonders behagt, aber ihn dennoch unausweichlich inmitten seiner Ermittlungen torpediert, ein wankendes Schiff und gleichzeitig noch ein Fels in der Brandung.
Die Sprache, bildhaft, aber nicht zu sehr, mit sehr schönen Sätzen, hat mich begeistert und in den Bann gezogen. Gleichsam bin ich nun immens neugierig, mehr über jene Surrealisten zu erfahren (was ich auch tun werde).
Dieser historische Kriminalroman, man merkt es, hat mich fasziniert, und somit gebe ich mehr als gerne eine absoluten Leseempfehlung für alle, die gerne historische Krimis mögen und sich in eine Welt entführen lassen möchten, welche ein Stück über dem logischen und realen Denken angesiedelt ist, und sich gerne in traumwirre Sequenzen (abseites der Literatur) verlieren möchten.

Bewertung vom 12.04.2022
Aibohphobia
Fleisch, Kurt

Aibohphobia


sehr gut

Das war eine sehr interessante, und auch anspruchsvolle Lektüre, welche tief in so manch möglichen Abgründe der menschlichen Psyche eintaucht.
Dr. H, seines Zeichens angesehener Psychiater, schreibt Briefe an seinen Patienten Herrn S. Die Gegenbriefe erfahren wir, wenn überhaupt, nur am Ende des Romans, wir können aber gut erahnen, welchen Inhalt sie wohl haben mögen. Schließlich geht H so gut wie immer auf den vorangegangenen Inhalt ein. Es folgen meist Diagnosen und Medikationen, aber H berichtet auch über sich, seine Selbstdiagnosen und wie er sich ins Irrenhaus einweist. Denn es gibt sehr schöne Irrenhäuser in Wien, muss man wisssen. Und sehr oft erscheint uns der Inhalt tatsächlich (w)irr. Erst im vierten Abschnitt des Buches, als auch S zu Wort kommt, verdichten sich all die schleichend aufgebauten Verdachtsmomente, die sich so allmählich Brief für Brief aufschaukeln, und manifestieren sich zumindest für mich zu einem kleinen Aha-Erlebnis (so nach dem Motto: ich hab's ja geahnt).
Es ist schwierig, darüber etwas zu schreiben, ohne zu spoilern. Denn es kommt auch eine andere Person vor, zwar nur mit dem Vornamen benannt und anhand zweier Aufenthaltsorte zu identifizieren (das Rätsel muss aber jeder für sich lösen). Diese Person, nennen wir sie mal F, gilt einer der größten Denker, und fristete seine letzten Jahre in absoluter geistiger Umnachtung.
Und was kann schon passieren, wenn alles gedacht wurde, was es zu denken gibt … Delirium und Größenwahn geben sich mit unter die Hand …
… ich habe das Buch genossen, auch wenn es nicht einfach war, all den Gedankengängen zu folgen. Mit einer Leseempfehlung bin ich mal vorsichtig, auch wenn ich die Zeilen letztendlich genial fand (und der Grat zwischen Genie und Wahnsinn immer wieder mal sehr schmal ist – der Autor möge mir verzeihen).

Bewertung vom 09.04.2022
Der Markisenmann
Weiler, Jan

Der Markisenmann


ausgezeichnet

Das ist mal ein richtig nettes Büchlein. Es ist eine schöne Geschichte, welche man in die Kategorie comingofage bzw. Sommerbuch stecken könnte. Aber sie ist so viel mehr. Es steckt sehr vieles darin, es kommt doch immer wieder Kritik auf an unserer Konsumgesellschaft mit all seinen Folgen, meist die Familie betreffend. Es wird auch kein Hehl daraus gemacht, wie es in der damaligen DDR so ablief. Und dennoch ist es auch ein Buch über Freundschaft, Kameradschaft, vom Ausbruch aus dem System und von gewissen zwischenmenschlichen Werten.
Die 15 jährige Kim wächst mit ihrer Mutter Susanne, Stiefvater Heiko und Stiefbruder Geoffrey in einer heilen Welt ohne Mangel auf. Es ist immer mehr als genug Geld da, man leistet sich einfach alles, ob man es braucht oder nicht. Aber glücklich ist Kim nicht so richtig, auch wenn sie das über sich selbst gar nicht weiß. Konsumüberdruss und aufwallende Pubertät prallen derart immens zusammen, dass die Familie eine Notbremse ziehen muss. Während es sich die Familie in den Sommerferien in Miami gut gehen lässt, wird Kim zu ihrem richtigen Vater abgeschoben, den sie nicht mal kennt. Dieser wohnt im tiefsten Ruhrpott, und versucht seit 14 Jahren, Markisen zweifelhafter Ästhetik zu verkaufen. Er lebt in sehr bescheidenen Verhältnissen in einer Lagerhalle … nicht gerade ein Ambiente, welches Kim bis jetzt gewohnt war. Flucht war ihr erster Gedanke. Und während sie sich an ihrem ersten Tag in ihrer Ferienumgebung umsieht, ihr Vater ist mit seinen Markisen unterwegs, trifft sie auf die Nachbarn, und … mehr verrate ich nicht … nur so viel: mit viel Humor und Feinfühligkeit erzählt uns Jan Weiler von jenem sehr besonderen Sommer aus Kims Leben.
Wie gesagt: vergnüglich, unterhaltsam, eine nette Geschichte mit Tiefgang. Daher gebe ich für dieses kurzweilige Buch sehr gerne eine Leseempfehlung

Bewertung vom 07.04.2022
Feenstaub
Travnicek, Cornelia

Feenstaub


ausgezeichnet

Was für ein wunderschönes, ergreifendes, und auch trauriges Buch dies doch ist.
Drei junge Burschen, eigentlich noch Kinder an der Schwelle zum Jugendlichen, fristen ihr kümmerliches Dasein auf einer Insel in einem Fluss, dessen Ufer eine Stadt säumen. Niemand kennt und sieht die Insel, verborgen in einem ständigen Nebel. Genausowenig kennt jemand diese Kinder, welche gezwungen werden, Tag für Tag die Bewohner der Stadt um so manche Dinge zu erleichtern. Klammheimlich versteht sich, und mit viel Geschick streunen die jungen Taschendiebe durch die Gegend, nur um dann so gut wie alles abliefern zu müssen.
Pedru erzählt aus seiner Sicht, er macht das alles nur, damit seine schwer kranke Großmutter die dringend benötigten Medikamente bekommt. Sein Freund Cheta wird von Mutter und Stiefvater ausgesetzt. Und so „kümmert“ sich der Krakadzil um jene Ausgestoßene, wohlwollend verhaltet er sich natürlich nur seiner eigenen Börse gegenüber.
Der „Feenstaub“, ein glitzerndes Pulver, scheint immer nötig zu sein, und macht alles für die Kinder erträglicher. Aber der Wunsch in eine heile, bessere Welt auszubrechen besteht ständig, denn Pedru erfährt anhand seiner „Freundin“ Marja, dass es auch gute Familien gibt, welche als Metapher für eine heile, verständnisvolle Welt steht, inmitten von sozialer Kälte.
In sehr knappen Kapitel mit einer enormen sprachlichen Dichte und Aussagekraft führt uns die Autorin durch diese kalte Welt aus Nebel und Ausbeutung. Sieht versteht es, mit wenigen Worten Bilder zu erzeugen, als wäre man mitten drinnen, kauert mit Pedrus Kumpanen hinter einem Stoffvorhang auf der Insel, bekommt diesen Feenstaub in die Augen, der einen anstatt zu blinzeln scharf und klar sehen lässt.
Ganz große Leseempfehlung für diesen einzigartigen Roman!

Bewertung vom 24.03.2022
Der Hauptmann und der Mörder / Die 18/4-Serie Bd.1
Haohui, Zhou

Der Hauptmann und der Mörder / Die 18/4-Serie Bd.1


ausgezeichnet

Ein Thriller aus China? Ja, das hat mich sehr neugierig gemacht, zumal ich sehr gerne für Zwischendurch mal Spannungsliteratur mag. Und was soll ich sagen: ich bin mehr als auf meine Kosten gekommen. Extrem spannend vom ersten bis zum letzten Buchstaben, eine super Story welche mit sehr viel Einfallsreichtum und so mancher Überraschung umgesetzt wurde. Einziges Mini-Manko sind die ungewohnten chinesischen Namen. Aber das ist nicht schlimm.
Achtzehn Jahre sind vergangen, seit dem zwei junge begabte Polizist:innen, kurz vor Akademieabschluss mit Auszeichnung, einem Wahnsinnigen zu Opfer fallen. Eine geheime Sondereinheit hat es nie geschafft, den Fall zu lösen. Der damalige Täter nannte sich Eumenides. Jetzt taucht Eumenides wieder auf, gibt an, wer und wann getötet werden wird. Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen schafft er es. Er spielt mit der neu gegründeten SpezialTaskForce Katz' und Maus, und scheint über so manche Tatsachen, was damals passierte, sehr genau informiert zu sein. Er gibt sich als Rächer und sühnt alle jene, welche ungestraft durch das Netz der Polizei geschlüpft sind.
Was geschah damals wirklich? Hauptmann Pei, der damals mit den ermordeten Kommilitonen zwei ihm sehr nahe stehende Freund:innen verlor, ist mit in der Gruppe – und die Schatten der Vergangenheit bewegen sich …
Wie gesagt, ein herausragender Plot, und eine sehr gut gelungene Beschreibung der Charaktere lassen einen beim Lesen derart mitfiebern, als wäre man seit Jahren mit dabei.
Dies ist der erste Band einer Reihe um jenen Tag 18/4 – der 18. April 1984. Ich bin sehr begeistert und gebe für alle Thriller-Fans sehr gerne eine #Leseempfehlung

Bewertung vom 22.03.2022
Ein Ring aus hellem Wasser
Maxwell, Gavin

Ein Ring aus hellem Wasser


sehr gut

Das Buch ist im Original bereits 1960 erschienen (und auch verfilmt), und wurde im Englischsprachigen Raum ein Besteller, während sich in Deutschland kaum jemand für das Buch interessierte. Nun ist dieses Werk erneut aufgelegt worden. Der Autor schreibt über Teile seines Lebens, besonders über jene Jahre in einem Cottage an einer einsamen Bucht im Westen Schottlands. Die nächsten Nachbarn sind acht Kilometer entfernt, und nur über einen beschwerlichen Fußweg, oder mit einem Ruderboot, erreichbar. Eine Straße gab es nicht.
Maxwell, selbst Autor und Abenteuerreisender, war keineswegs ein Aussteiger, denn die Wintermonate verbrachte er meistens in London. Und dennoch mutet das Buch im ersten Augenschein wie eine Aussteigerbibel an. Eindrücklich beschreibt er seine selbst gewählte und gewollte Flucht vor der Zivilisation, lediglich die Tiere, und hier ganz besonders zahme Otter, teilen sein Leben in der Einöde. Er erzählt sehr viel über diese possierlichen und sehr intelligenten Tiere, werden behütet wie Kinder und auf Abenteuer mitgenommen wie die besten Kumpel.
Das Buch, welches mir sehr gut gefallen hat, ist auf den zweiten Blick weit mehr das Schüren einer Sehnsucht. Maxwell zeigt zwar sehr viel Empathie und Zärtlichkeit zu den Ottern, aber auf der anderen Seite ging er gerne auf die Jagd. Auch der Umstand wie der erste Otter, Mijbil, zu ihm kam, mag jetzt nicht unbedingt dem ursprünglichen Wunsch genügen, Tieren gegenüber Mitgefühl zu zeigen. Ich denke sehr wohl, dass da eine nicht unbeachtliche Spur Egoismus dahinter steckt.
Dennoch ist das Buch auf eine gewisse Art und Weise faszinierend und ganz bestimmt keine moderne Adaption des Dr. Dolittle Themas. Das Werk wird dem „Nature Writing“ dazugezählt, ein Leitfaden für die Einsamkeit à la Thoureau ist es aber bei weitem nicht. Viel mehr ist es eine Erzählung des Autors über sich selbst.
Das mag jetzt zwar alles einen kleinen negativen Touch haben – aber ganz so düster ist es dann auch nicht. Man muss sich allerdings darauf einlassen können, dann kann man als Leser in die Abgeschiedenheit der Küste sehr gut eintauchen und die Sehnsucht schwelen lassen.

Bewertung vom 17.03.2022
Vielleicht wird morgen alles besser
Geda, Fabio

Vielleicht wird morgen alles besser


sehr gut

Ercole hat es nicht leicht in seinem jungen Leben. Als er sechs Jahre alt war, ging seine Mutter einfach weg. Ohne Worte, ohne Abschied. Zurück blieben er mit seiner damals elfjährigen Schwester Asia und seinem Vater. Der bringt außer Gelegenheitsjobs und Alkoholismus nichts auf die Reihe. Asia übernimmt das Ruder, kümmert sich um Ercole und den Haushalt, so dass nach außen ja nichts auffällt und das Jugendamt Wind von der Sache bekommt. Denn sie haben sich geschworen, dass sie „immer zusammen“ bleiben werden.
Ercole erzählt aus seiner Sicht sein Leben in Turin bis zu einem schicksalhaften Tag als 15-jähriger Teenager. In diesen Jahren passiert so einiges, Schlechtes wie Gutes. Vor allem eines war gut: Er lernt Viola kennen und lieben. Und dies lässt ihn so manchmal Dinge tun, welche er vielleicht ohne diesen Gefühlen nicht unbedingt getan hätte; zumal er sehr bestrebt ist, nichts von seinen erbärmlichen Lebensumständen nach außen dringen zu lassen. Auch nicht seiner großen Liebe gegenüber.
Fabio Geda zeichnet mit diesem Roman ein wunderbares Portrait eines Jugendlichen, dem das Schicksal so manche Prügel vor die Füße wirft. Und dennoch bleibt Ercole optimistisch und ein im Grunde fröhlicher Teenager. Das Buch kann als #comingofage Roman betitelt werden, ist es aber nicht zwangsläufig. Es ist (für mich) viel mehr eine Skizze des Alltags in einer italienischen Großstadt, abseits von gut situierten Familien und behüteten Kindern. Schicksale, wie sie es wohl zu tausenden gibt. Es ist ein kurzes Aufzeigen des Bestreben eines Kindes, sich einen Platz in der Gesellschaft (mühsam) zu suchen. Und dies geschieht den vielen Widrigkeiten zum Trotz mit einer gewissen (vielleicht auch naiven) Unbeschwertheit, welche Kindern wohl innewohnt.
Von mir gibt es hier eine klare Leseempfehlung für diesen einfühlsamen Roman.

Bewertung vom 15.03.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Ich kategorisiere diesen Roman unter: Suchtbuch. Mehr oder weniger in einem Rutsch durchgelesen, bin ich schwer angetan von dem Roman. Und das, obwohl mir die Geschichte der Tell-Sage wohl bekannt ist. Dennoch schafft es der Autor, es derart darzustellen, als wäre alles neu und frisch erfunden.
Deshalb erzähle ich mal nichts über den Inhalt, denn da gibt es ja eigentlich nichts Neues zu berichten. Aber die Erzählweise: In jedem Kapitel kommt ein anderer Protagonist zu Wort und berichtet ein Stück der Handlung. Zwanzig verschiedene Erzähler dürfen abwechselnd berichten, was sich zugetragen hat – äußerst genial kann ich nur sagen!

Die Ausarbeitung der Charaktere, insbesondere auch der Frauen, finde ich äußerst gelungen. - besonders die kleinen "Überraschungen" bei so manchem Handlungsträger, von welchen man ursprünglich wohl eine andere Vorstellung gehabt, und diese anders eingeschätzt hat. Wen ich da meine, verrate ich natürlich nicht. Nur soviel: Ich bin schwer begeistert.

Trotz bekannten Inhaltes zaubert der Autor ein Ende daher, welches jeden Mythos, jede Sage noch übertrifft. Auf der einen Seite kommt es fast schon irgendwie unspektakulär daher (aber nicht minder spannend, auf der anderen Seite verleiht er Tell jene Mystifizierung, welche der tiefste Grundstein einer jeden Sage ist. Chapeau! Absoluteste Leseempfehlung für diese mehr als gelungene Neuinszenierung.

Bewertung vom 03.03.2022
Dazwischen: Wir
Rabinowich, Julya

Dazwischen: Wir


ausgezeichnet

Nach der Flucht ihrer Familie vor dem Krieg und einem Aufenthalt in einem Flüchtlingsheim, kommt Madina mit ihrer Mutter, ihrem Bruder Rami und ihrer Tante bei Susi und deren Tochter Laura unter. Es ist zwar nicht viel platz in dem Haus, aber es fühlt sich wie ein zu Hause an. Zwischen Laura und Madina entwickelt sich eine innige Freundschaft, und zwischen deren Bruder und Madina entstehen auch besondere Momente. Madinas Vater wollte sich die Beschimpfungen aus seinem Land als Feigling nicht gefallen lassen, geht zurück in den Krieg, und gilt seit dem als verschollen.
Madinas Mutter, und natürlich sie selbst, leiden sehr darunter, trotz des Bewusstseins, dass sich Vater nie an die westlichen Gegebenheiten angepasst, und Frau und Tochter in einen goldenen Käfig gesteckt hätte.
So wächst die 14 jährige Madina mit ein paar (für uns so selbstverständliche) „Freiheiten“ auf, welche ihr Vater wohl niemals erlaubt hätte. Jungs und Partys locken, sie fühlt sich in der neuen „Heimat“ angekommen, lernt gut und ist bemüht sich zu integrieren. Doch so einfach ist es nicht, ihre Mutter wird stark depressiv, Bruder Rami macht im Kindergarten Probleme, und alles bleibt an Madina hängen. Als dann vereinzelt die Bewohner des Ortes mit Ausländerhass skandieren, der Alltagsrassismus spürbar zunimmt, ihre Lehrerin ihr mit ungewohnter Härte Aufgaben zuteilt, scheint Madina am Ende ihrer Kräfte zu sein. Doch sie hat starke Freund:innen, und gemeinsam …

Dieses Buch ist „Ein flammender Apell gegen Ausgrenzung und gegen die Spaltung der Gesellschaft!“ - zitiert vom Buchrücken. Dem kann ich voll zustimmen.
Die Sprache ist sehr einfach gehalten aus der Sicht Madinas. Sie erzählt ihre Erlebnisse und strickt Tagebuch- und Traumsequenzen ein.
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die Story ein wenig zu sanft daher kommt – doch dann kommt wieder die Rassismuskeule daher, und man zittert und fiebert nach jeder Seite mit, ob es denn gut ausgeht oder noch schlimmer kommt.

Bewertung vom 27.02.2022
Die dritte Hälfte eines Lebens
Herzig, Anna

Die dritte Hälfte eines Lebens


ausgezeichnet

Nach zwei wunderbaren Novellen ist dies nun der erste Roman der Autorin. Und der hat es in sich. In intensiven und sehr eindrücklichen Bildern, ungeschmückt und glasklar wird der Gesellschaft ein Spiegel vor gehalten. Dieser soll alle jene blenden, die ihren Blick nur auf ihre alteingesessenen Rituale und Verhaltensweisen lenken, ungeachtet all der vielen Menschen um sie, welche einfach nur nicht der erzkonservativen Erwartung des (ländlichen) Lebens entsprechen wollen.
Da ist ein vom Vater zurück gelassenes Kind, der Seppi, weil die Gesellschaft den Vater als dunkelhäutiger Mensch verstoßen hat. Und auch Seppi hat es mit seinem genetischen Erbe nicht leicht. Er ist immer Ziel von Spott, Hass, Foppereien und Anfeindungen, der Sündenbock des Dorfes.
S. 32: „Noch Monate danach ist er von Krimmwing, seinen Henkern und Richtern mit herabwürdigenden Blicken bedacht worden. Ein Dorf wie jedes andere, das nichts und niemanden vergisst.“
Eines Tages flieht er, aber irgendwann kommt er zurück …
Krimmwing ist ein (fiktives österreichisches) Dorf, das alles sieht, alles hört, alles weiß… und vor allem alles besser weiß. Man gibt sich traditionell, konservativ, erzkatholisch und bleibt unter sich. Für Fremde oder Andersartige ist kein Platz in der Gesellschaft. Dies müssen auf sehr schmerzhafte Weise auch der Rathbauer, der Fridolin oder die Liesl erfahren. Sie leiden, aber der Ort schaut weg. Und wenn er was sieht, dann schlägt er zuerst zu, und schaut dann weg.
Die Autorin erzählt darüber, aber sie geht damit nicht ins Gericht, sondern lässt uns beobachten. Manche Begebenheiten (wie z.B. Liesl und Fridolin) sind für mich zwar stark überzeichnet, aber sie treffen der Kern der Sache um so mehr.
Die Bilder prasseln in rasantem Tempo auf einen ein, nehmen einem manchmal die Luft, und verleiten dazu, langsamer zu lesen. Vieles passiert in geballter Form in diesem Generationen überschneidenden Kaleidoskop von Ausgrenzungen, gerade mal 130 Seiten stark. Somit gebe ich sehr gerne eine eindeutige Leseempfehlung.