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nessabo

Bewertungen

Insgesamt 174 Bewertungen
Bewertung vom 27.04.2024
Hallo, du Schöne
Napolitano, Ann

Hallo, du Schöne


sehr gut

Keine Liebe ab Seite 1, aber eine, für die es sich lohnt dranzubleiben!

Nicht, dass dieser Roman noch Werbung benötigen würde. Aber ich war am Anfang fast etwas ernüchtert, weil ich mich doch erstaunlich schwer damit getan habe, eine Beziehung zu den Figuren aufzubauen. Umso froher bin ich, dass ich über das erste Viertel hinaus weitergelesen und den Charakteren eine Chance gegeben habe. Denn dann hat es mein Herz richtig auseinandergenommen.

„Hallo, du Schöne“ - kein unangenehmer Spruch übrigens, aber findet das mal selbst heraus - dreht sich um die vier Padavano-Schwestern Julia, Sylvie, Emeline und Cecelia sowie William, der als gerade Erwachsener in die Familie aufgenommen wird, weil seine Eltern ihn de facto aus ihrem Leben gestrichen haben. Ann Napolitano hat sich von „Little Women“ inspirieren lassen und das ist deutlich zu spüren. Das Band der Schwestern ist unbeschreiblich eng, ihre Liebe zueinander unendlich groß. Im Laufe der Geschichte passieren aber Dinge, die dieses Band auf die Probe stellen und sogar zum Reißen bringen. Primär spielt das Buch im Chicago der 80er-Jahre, nimmt zum Ende hin zeitlich aber schnell Fahrt auf und reicht dann bis ins Jahr 2008, wo die Geschichte ihr traurig-schönes Ende findet.

Ich mag Perspektivenwechsel und zeitliche Verläufe sehr gern. Trotzdem habe ich mich bei aller freudiger Erwartung zu Beginn schwer getan. Zum einen umfassen die einzelnen Kapitel/Perspektiven jeweils einen mehrmonatigen oder mehrjährigen Zeitraum, welcher sich manchmal leicht überschneidet. Da ich immer darauf geachtet habe, wo genau wir uns jetzt befinden, hat mich das wiederholt aus dem Konzept gebracht. Auch konnte ich William zu Beginn einfach nicht sonderlich leiden, ich fand ihn so düster in seinen Gedanken und das insgesamt schwer aushaltbar. Nach einem Schlüsselerlebnis habe ich ihn aber endlich verstanden und ab da ging es bergauf. Neben seiner lesen wir Julias, Sylvies und später Alice’ Perspektive (Tochter von pssst). Julia bricht den Kontakt zu ihren Schwestern wegen eines weiteren Ereignisses für viele Jahre ab und kommt deshalb im weiteren Verlauf nicht mehr so oft zur Sprache. Das fand ich gut, denn ich mochte ihre Figur nicht besonders.

Das Buch hat für mich etwas Besonderes geschafft: Obwohl ich lange dachte, die Charaktere sind mir zu anstrengend und irgendwie nicht sonderlich tief, war ich nach dem ersten Viertel komplett invested, habe mitgefiebert und sehr mitgelitten. Die Liebe zwischen den Figuren ist greifbar und hat mein Herz aua-heile gemacht. Sprachlich würde ich das Buch als melancholisch mit poetischen Anklängen bezeichnen. Mit Letzterem habe ich normalerweise große Probleme, hier fand ich es aber in einem total schönen Maß angewandt. Die Geschichte wirft Fragen darüber auf, was (traumatisierte) Eltern an die nachfolgende Generation weitergeben und das hat mich an einigen Stellen betroffen, aber auch wütend gemacht. Außerdem geht es um Liebe über ein romantisches Maß hinaus, um Vergebung und um die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod. Wer fühlen will und gewillt ist, sich auf die Geschichte einzulassen, wird hier ganz viel gewinnen können.

Bewertung vom 18.04.2024
Treibgut
Brodeur, Adrienne

Treibgut


ausgezeichnet

Ein nächstes Jahreshighlight!

Das Buch hat mich richtig begeistert und reiht sich in meine bisherige TOP 5 für dieses Jahr ein.

Bei „Treibgut“ handelt es sich um einen Familienroman und wir begleiten die einzelnen Charaktere in wechselnden Perspektive (was ich sehr liebe). Wir haben zum einen Adam, einen bald pensionierten Walbiologen, der zum einen an einer bipolaren Störung und zum anderen unter seiner drohenden Bedeutungslosigkeit leidet. Seine Kinder Abby (eine Künstlerin, die bald ihr erstes Kind erwartet) und Ken (erfolgreicher Immobilienunternehmer mit einer kriselnden Ehe) haben eine komplizierte Beziehung zueinander, aber auch zu ihrem Vater. Hinzu kommen Steph, deren eigene Familie durch ein enthülltes Geheimnis durcheinandergebracht wird, und Jenny als Kens Ehefrau und Abbys beste Freundin.

Klingt viel und komplex, ist es auch. Aber die Autorin schafft es, dass Lesende den Faden nicht verlieren, sondern in die Handlung hineingezogen werden. Die beiden Männer struggeln nicht nur mit ihren eigenen Problemen, sondern auch mit der sich verändernden Welt, welche die Machtposition von Männern hinterfragt. Mit ihrer dargestellten Grandiosität und der Ablehnung von Gesprächstherapie oder Unterstützung im Allgemeinen erfüllen sie einige (realistische) Klischees. Ich fand die beiden fast durchgängig schwer zu ertragen und konnte dennoch an einigen Stellen durch geschickt geschriebene Ambivalenz mit ihnen mitfühlen. Die Frauenfiguren waren mir deutlich sympathischer. Sie alle kämpfen sich in irgendeiner Form frei - mal von kleineren, mal von größeren Abhängigkeiten - und stehen zudem auch zueinander in komplexen, aber gesunden Beziehungen. Im Laufe der Handlung lernen wir, dass besonders die Geschwisterbeziehung von Ken und Abby weit düsterer ist, als es zu Beginn scheint. Hier werden Geschehnisse angedeutet, die mir den Magen umgedreht haben.

Ein besonderes Highlight war Adams Geburtstagsparty kurz vor Schluss. In diesem Kapitel fließen nämlich alle Perspektive ineinander und überlagern sich. Dadurch bekommt dieser inhaltliche Höhepunkt noch einmal ein ganz spezielles Tempo.

Großartig verstrickter Roman mit vielschichtigen Figuren und spannenden Entwicklungen bis zum Schluss. Ich habe ihn sehr geliebt und hatte ein kurzweiliges Lesevergnügen mit ihm.

Bewertung vom 15.04.2024
That Girl
Santos de Lima, Gabriella

That Girl


ausgezeichnet

Eine Geschichte über Männer, Selbstoptimierung und Freundinnen mit absoluter Sogwirkung

Die Autorin kannte ich bislang nicht, aber das Cover in Kombination mit dem Titel hat mich sofort neugierig gemacht, weil mir das Konzept "That Girl" in feministischen Kreisen schon begegnet ist.
Die Geschichte hat eine extreme Sogwirkung entfaltet, ich habe das Buch innerhalb eines Tages gelesen. Die verschiedenen Textformen (Chats, Manuskriptausschnitte, normale Erzählung) machten das Lesen leicht und abwechslungsreich. Das Titelthema wird in meinen Augen ausreichend dargestellt und kritisiert. Es nimmt jedoch bei Weitem nicht die komplette Geschichte ein. Vielmehr geht es um toxische Beziehungen und Dating, vor allem aber auch um Freundinnenschaft. Die Protagonistin ist vielschichtig, ihre Freundinnen hätten für mich noch ausführlicher dargestellt werden können.
Vor allem die zentrale Beziehungsgeschichte ist so geschickt geschrieben, dass ich selbst nicht wusste, ob das ungute Bauchgefühl nun berechtigt ist oder nicht. Die Loyalität der Freundinnen hat sich währenddessen immer wie eine liebevolle Umarmung angefühlt.
Alle, die Wut auf Selbstdarstellung, übersteigerte Optimierungsansprüche und Männer haben, werden hier eine tolle Lesezeit haben.

Bewertung vom 15.04.2024
Alles gut
Rabess, Cecilia

Alles gut


ausgezeichnet

Nuancierter Gesellschafts-/Liebesroman und absolutes Highlight!

Was für ein großartiger Roman, ich bin nur so durchgeflogen - schon jetzt unter meinen Top 3 dieses Jahr!
Das Cover ist rückblickend einfach so gut gewählt, weil es auf seine schlichte Art irgendwie schön und traurig zugleich ist - genau wie der Inhalt.

Protagonistin der Geschichte ist Jess. In ihrem ersten Job bei Goldman Sachs ist sie die einzige Frau und die einzige Schwarze - eine Kombination, die es ihr alles andere als leicht macht. Der Roman dreht sich aber gar nicht in erster Linie um ihre Diskriminierungserfahrung, auch wenn mensch beim Lesen trotzdem ein gutes (beklemmendes) Gefühl dafür bekommt. Vielmehr ist „Alles gut“ eine Enemies-to-Lovers-Geschichte mit einem ausgeprägten gesellschaftskritischen Blick. Denn in ihrem Job trifft Jess nach der Uni wieder auf Josh, der auf den ersten Blick ihr Gegenteil zu sein scheint: weiß, mittelständig, männlich, konservativ. Das klingt verdammt unattraktiv, I know, aber ich muss sagen, dass die Autorin ein unfassbares Talent für ihre Charaktere hat. Ich sympathisiere überhaupt nicht schnell mit männlichen, konservativen Figuren, bei Josh ist das aber passiert. Manche Leser*innen fanden wiederum Jess unsympathisch, weil zu emotional. Dem kann ich nicht zustimmen, ich halte ihre Emotionalität zumindest überwiegend für eine verständliche Reaktion auf ihre Erfahrungen. Der Roman wirft für mich sehr differenziert die Frage auf, wie sehr eine Person gesellschaftliche Missstände sachlich und analytisch betrachten kann, wenn sie selbst unter ihnen leidet - und ob diese Betrachtung nun wertvoller ist als eine Reaktion aus Betroffenheit heraus.

Beide Protagonist*innen sind unfassbar vielschichtig geschrieben. Ich konnte mich sehr gut in sie einfühlen, beide sind mehr als die Summe ihrer (politischen) Einstellungen und haben trotz aller Unterschiede eine Menge Gemeinsamkeiten, gleichzeitig rollten sich mir an manchen Stellen die Fußnägel hoch. Sei es wegen rassistischer Einstellungen von Josh oder wegen konfliktvermeidenden Verhaltens von Jess. Ein extrem nuanciertes Buch, das es schwer macht, sich klar auf eine Seite zu schlagen und dafür plädiert, sich nicht in Echokammern zurückzuziehen ohne dabei diskriminierende Einstellungen unkritisch zu billigen. Das Ende strotzt nur so vor Spannung aufgrund ungelöster Konflikte, was durchaus etwas unzufriedenstellend ist für harmoniebedürftige Wesen, aber irgendwie auch eine Realität von Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten abbildet. In meinen Augen ein verdammt gutes Debüt und eine absolute Leseempfehlung.