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Bücherfreundin

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Insgesamt 340 Bewertungen
Bewertung vom 04.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


sehr gut

Liebevoll und humorvoll
Das Cover des neuen Romans von Wolf Haas ist recht ungewöhnlich gestaltet. Der Schutzumschlag erinnert an Packpapier, einen aussagefähigen Klappentext sucht man vergebens.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Marianne, die Mutter des Autors. Der Ich-Erzähler Wolf Haas fällt aus allen Wolken, als seine im Altersheim lebende fast 95-jährige Mutter ihm drei Tage vor ihrem Tod mitteilt, dass es ihr gut gehe. Sein ganzes Leben lang hat er nur von ihr gehört, dass es ihr schlecht gehe. Sie ist demenzkrank und möchte wissen, wie es ihren Eltern geht, Wolf soll sie anrufen. Am nächsten Tag erzählt er ihr, dass er angerufen habe, es gehe ihnen gut, nur der Vater habe einen Schnupfen. Aber es gehe ihm schon besser.

Liebevoll und mit viel Humor erzählt der Autor in seinem Buch von den letzten Tagen im Leben seiner Mutter bis zu ihrer Beerdigung. Offen und ehrlich lässt er ihr Leben Revue passieren und dabei viele Erzählungen seiner Mutter in der Ich-Form und in ihrer Mundart einfließen. Er erinnert sich an das gemeinsame Leben mit ihr und an zahlreiche Gespräche. Dabei lernen wir Marianne immer besser kennen, wir tauchen ein in ihr Leben und erfahren viel über ihre entbehrungsreiche Kindheit, die Kriegsjahre und die Jahre in der Schweiz. Sie war eine eigenwillige, eine schwierige Frau mit Ecken und Kanten, die "nicht mit den Leuten konnte". 

Marianne Haas wird 1923, im Jahr der Hyperinflation, als Tochter einer Magd und eines Wagnermeisters geboren. Das Geld ist knapp, sie wächst mit 9 Geschwistern auf und arbeitet bereits mit 12 Jahren auf einem Bauernhof. Das Thema Inflation zieht sich durch ihr ganzes Leben, sie träumt vom Eigentum, einem eigenen Haus oder einer Eigentumswohnung. Das ist ihr Lebensziel, dafür arbeitet sie, und dafür spart sie eisern. Bereits im Kindesalter weiß der Autor alles über die 3 Phasen eines Bausparvertrages und die Berechnung der Bewertungszahl. Doch die anhaltende Inflation macht es der Mutter unmöglich, ihren Traum zu verwirklichen. Erst mit ihrem Tod geht ihr Wunsch nach Eigentum in Erfüllung.

Das Buch ist in eigenwilligem Sprachstil geschrieben und liest sich flüssig. Den Wechsel zwischen den Erzählungen der Mutter in der ihr eigenen Sprache und den Erinnerungen des Autors fand ich sehr gelungen. Der mit viel Humor und Sprachwitz erzählte Roman ist kurzweilig und hat mir sehr gut gefallen. Leseempfehlung von mir!

Bewertung vom 20.08.2023
Wilde Jagd
Freund, René

Wilde Jagd


ausgezeichnet

Spannende und humorvolle Geschichte mit Tiefgang
Der österreichische Autor René Freund hat seinen neuen Roman "Wilde Jagd" veröffentlicht.

Im Mittelpunkt der spannenden Geschichte steht der 53-jährige Quintus Erlach. Er ist Philosophieprofessor an der Universität in Salzburg und lebt derzeit in seinem heruntergekommenen Elternhaus in Stein im Gebirge, während seine Ehefrau Lou, die Ärztin ist, in Südamerika über Schamanismus forscht. Die gemeinsame Tochter Michaela redet eigentlich nicht mehr mit ihrem Vater, aber während ihres Auslandssemesters in Kanada darf er gern ihren Hund Machtnix betreuen.
Auf einem Spaziergang lernt Quintus die seltsame Evelina kennen, die einen Plüschhund namens Bruno in der Hand hält. Sie kommt aus der Slowakei und arbeitet seit 2 Wochen als Pflegerin für Herwig Zillner. Der 88-Jährige sitzt im Rollstuhl und ist auf Unterstützung und Hilfe angewiesen. Evelina erzählt Quintus, dass ihre Vorgängerin Angelika spurlos verschwunden ist, und sie beschließen, der Sache auf den Grund zu gehen.

Wir begleiten den Geisteswissenschaftler, der dem Alkohol sehr zugeneigt ist, und die Pflegerin mit den allem Anschein nach seherischen Fähigkeiten über einen Zeitraum von 12 Tagen bei ihrer Suche nach Angelika. Dabei stoßen sie bei den Dorfbewohnern auf Ablehnung und eine Mauer des Schweigens, bis jemand Quintus auf dem Zeltfest zuflüstert, er solle sich die Sundberg-Höhle anschauen ...

Der Roman hat mir sehr gut gefallen. Er ist in intelligenter Sprache geschrieben und liest sich flüssig. Der Autor lässt seinen herrlichen Humor in die Geschichte einfließen und sorgt damit für manches Schmunzeln, z.B. über den Idioten-Apostroph, dem man in der Tat häufig begegnet. Es ist ihm gelungen, nicht nur die Hauptcharaktere, sondern auch die Nebenfiguren sehr liebevoll und bildhaft zu skizzieren.
Das spannende Buch hat mich von Beginn an bis zur erschütternden Auflösung gefesselt. Es gab eine Reihe von Verdächtigen, vollkommen überraschende Wendungen und gekonnt gelegte falsche Fährten. Das Ende ist stimmig und beantwortet alle Fragen.

Ich finde die geistreiche und vergnügliche Mischung aus Komödie und Krimi, gespickt mit Gesellschaftskritik und etwas Esoterik, sehr lesenswert, und es hat mir viel Freude bereitet, Quintus' philosophischen Gedanken zu folgen. Das war zwar mein erster Roman von René Freund, aber mit Sicherheit nicht mein letzter! Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.08.2023
Sommersonnenwende / Wolf und Berg ermitteln Bd.1
Engman, Pascal;Selåker, Johannes

Sommersonnenwende / Wolf und Berg ermitteln Bd.1


ausgezeichnet

Gelungener Auftakt einer neuen Krimireihe
Die schwedischen Autoren Pascal Engman und Johannes Selåker haben ihren ersten gemeinsamen Kriminalroman veröffentlicht. "Sommersonnenwende" bildet den Auftakt einer neuen Reihe um den Kriminalkommissar Tomas Wolf und die Journalistin Vera Berg.
 
Stockholm im Sommer 1994. Mit über 30 Grad über Wochen hinweg ist es ungewöhnlich heiß. Das Land fiebert mit seiner Fußballnationalmannschaft, die in den USA um den Weltmeisterschaftspokal kämpft. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien brachte viele Flüchtlinge ins Land, der Rassismus nimmt zu. Im Schatten des Massenmords von Mattias Flink in Falun geschieht ein weiterer Mord. Eine junge Migrantin wird in einem Stockholmer Vorort tot aufgefunden, sie wurde vergewaltigt und erdrosselt.
 
Kommissar Tomas Wolf ist nach seinem Einsatz als UN-Soldat im Jahr 1993 in Bosnien-Herzegowina bereits wieder bei der Stockholmer Kriminalpolizei tätig und ermittelt im Mordfall der jungen Frau. Er ist durch seine schockierenden Kriegserlebnisse schwer traumatisiert, leidet unter Aussetzern und Panikattacken, was sein Familienleben und seine Ehe mit Klara belastet. Bevor er Polizist wurde, war er genau wie seine beiden Brüder Neonazi.
Die junge Journalistin Vera Berg ermittelt in der gleichen Mordsache. Sie arbeitet erst seit kurzem bei einer Stockholmer Zeitung und ist dort großem Druck ausgesetzt. Vor ihrem kriminellen Freund Jonny, mit dem sie vier Jahre in Malmö zusammenlebte und der seit einer Woche nicht mehr nach Hause gekommen ist, ist sie geflohen. Sie hat seinen 6-jährigen Sohn Sigge mitgenommen, um das Kind, das bereits seine Mutter verloren hat, nicht dem Jugendamt zu überlassen. Auch Vera hat Schweres erlebt. Ihre Eltern sehen sie nicht mehr als ihre Tochter an, seit vor 12 Jahren etwas Schreckliches geschehen ist.
Bald kreuzen sich Tomas' und Veras Wege, und gemeinsam jagen sie den Frauenmörder. Hierbei begibt sich vor allem Vera durch ihre Alleingänge in große Gefahr. 
 
Im Mittelpunkt des Romans steht zwar die spannende Suche nach dem brutalen Frauenmörder, aber auch das Privatleben der beiden Ermittler nimmt sehr viel Raum ein. Wir erleben Tomas' innere Zerrissenheit und Veras ehrgeizige Bemühungen, ihren Arbeitgeber zufriedenzustellen und gleichzeitig für Sigge da zu sein. Wir sehen aber auch unprofessionelles Verhalten beider Protagonisten, Korruption und Erpressung. 
 
Der Krimi hat mir sehr gut gefallen. Er ist von Beginn an sehr spannend und fesselnd. Das Buch ist in schönem und klarem Sprachstil geschrieben, es liest sich flüssig. Die Figuren sind bildhaft dargestellt. Gut gefallen hat mir auch der kritische Blick auf die politische und gesellschaftspolitische Situation Schwedens und die Rassismusprobleme des Landes in den Neunzigern. Auch der Blick hinter die Kulissen einer Zeitungsredaktion war für mich äußerst interessant. Nervend fand ich, dass neben der Tatsache, dass mehrere Romanfiguren übermäßig dem Alkohol zugesprochen haben, im Buch gefühlt zigmal eine Zigarette angezündet oder geascht wurde. 
 
Erwähnenswert ist das außergewöhnlich schön gestaltete Cover mit seinem Farbschnitt.
Das spannende Buch endet zwar mit gleich mehreren Cliffhangern, dennoch freue ich mich schon auf "Wintersonnenwende", den nächsten Teil der Reihe. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.08.2023
Leonard und Paul
Hession, Rónán

Leonard und Paul


ausgezeichnet

Hinreißender Debütroman über zwei Freunde
Der Debütroman "Leonard and Hungry Paul" des irischen Autors Rónán Hession wurde bereits 2019 in Irland und England veröffentlicht. Damit das erfolgreiche Buch auch in deutscher Übersetzung erscheinen konnte, haben Frauke Meurer & Torsten Woywod eigens einen Verlag gegründet.

Leonard, schüchternes Kind schüchterner Eltern, lebt auch mit über dreißig noch bei seiner verwitweten Mutter. Sie schätzen sich, leben friedlich miteinander und gehen gemeinsam auf Reisen. Beide lieben es, zusammen in Museen zu gehen und Kirchen zu besichtigen. Nachdem seine Mutter überraschend an einem Herzinfarkt verstirbt, muss Leonard sich einem neuen Alltag stellen.
Sein bester und einziger Freund ist Paul, der wie er über dreißig ist, noch bei seinen Eltern lebt und sich dort wohlfühlt. Paul arbeitet aushilfsweise als Briefträger, Leonard verfasst als Ghostwriter Sachbücher und Lexika für Kinder. Beide sind introvertiert, zufrieden mit ihrem Leben, und sie treffen sich regelmäßig, um Gesellschaftsspiele zu spielen. Doch bald gibt es Veränderungen in ihrem Leben, neue Chancen eröffnen sich.

Der Autor erzählt die vollkommen kitschfreie Geschichte, die mich von der ersten Seite an begeistert hat, in ruhigem und brillantem Sprachstil. Der Leser lernt neben Leonard und Paul sowie dessen Eltern auch Pauls Schwester Grace kennen, die sich mitten in den stressigen Vorbereitungen für ihre Hochzeit befindet. Sie liebt ihren Bruder, der zu ihrem Leidwesen nicht daran denkt, aus seinem Kinderzimmer auszuziehen, um endlich ein eigenständiges Leben zu führen.

Warmherzig und humorvoll beschreibt Rónán Hession seine Protagonisten. Sie sind sehr speziell, etwas unbeholfen im Umgang mit anderen, in ihren Gewohnheiten fest verankert und wissenschaftlich interessiert. Das Miteinander der Freunde ist geprägt von großem Interesse am anderen, Achtung und Freundlichkeit. Beide sind sehr sympathisch und mir schnell ans Herz gewachsen. Sehr gern habe ich Leonard und Paul begleitet und mitgefiebert, wenn sie vor besonderen Situationen standen. Immer wieder bringt uns der Autor zum Schmunzeln, z.B. beim Anzugkauf, dem Konfekt, dessen Mindesthaltbarkeitsdatum bereits lange abgelaufen ist oder dem Deppenapostroph.

Es hat mir sehr viel Freude bereitet, dieses außergewöhnliche und berührende Buch zu lesen.
Ich freue mich schon jetzt auf den zweiten Roman des Autors, der hoffentlich bald auch in deutscher Übersetzung zu lesen sein wird.
Absolute Leseempfehlung von mir für diesen unterhaltsamen, humorvollen und tiefgründigen Roman, den ich mir auch sehr gut als Vorlage für einen Film vorstellen kann.

Bewertung vom 13.08.2023
Und wir tanzen, und wir fallen
Newman, Catherine

Und wir tanzen, und wir fallen


ausgezeichnet

Emotionaler Abschied
Im Debütroman "Und wir tanzen, und wir fallen" der amerikanischen Autorin Catherine Newman geht es um die intensive Freundschaft zweier Frauen, der 45-jährigen Ich-Erzählerin Ashley, die zwei Töchter hat und von ihrem Mann Honey getrennt lebt, und ihrer Freundin Edith, die mit Jude verheiratet ist und einen 7-jährigen Sohn, Dash, hat. Ash lebt in Massachusetts, Edi in New York. Die Frauen kennen sich seit über 40 Jahren, gingen gemeinsam in den Kindergarten und besuchten die gleiche Grundschule. Sie verbrachten 6 Monate in Italien und richteten die Hochzeit der besten Freundin und die Babypartys füreinander aus. Ash und Edi verbindet eine intensive Freundschaft und viele gemeinsame Erinnerungen. 

Edi ist vor drei Jahren unheilbar an Eierstockkrebs erkrankt. Weitere Therapien kommen für sie nicht mehr in Frage, und sie soll in ein Hospiz verlegt werden. Da in New York kein freier Hospizplatz zu finden ist, trifft sie gemeinsam mit Jude und Ash die schwere Entscheidung, in ein Hospiz in der Nähe von Ash zu ziehen. Dort wird Ash sich von nun an intensiv um ihre Freundin kümmern und sie auf dem letzten Stück ihres Lebensweges begleiten. Sie verbringt viel Zeit an Edis Krankenbett, sie erinnern sich an gemeinsame Erlebnisse, und Ash versucht, Edis bescheidene Wünsche zu erfüllen. Dabei setzt sie alle Hebel in Bewegung, um ihrer Freundin den von ihr so ersehnten sizilianischen Zitronen-Polenta-Rührkuchen zu beschaffen.

Die ergreifende Geschichte ist ganz wunderbar und liebevoll erzählt, sie ist trotz aller Tragik auch sehr humorvoll. Es geht in dem Buch nicht nur um Edis Sterben und Trauer, es geht auch um Liebe und die Kraft der Freundschaft, das Leben und Hoffnung, es wird geweint, und es wird gelacht. Und es ist wunderschön und herzzerreißend, wie die Familie und die Freunde sich von Edi verabschieden.

Sehr gut gefallen hat mir die Entwicklung der egoistischen und eifersüchtigen Ash zur selbstlosen Freundin, die Edi liebevoll umsorgt und Tag und Nacht bis zur totalen Erschöpfung für die Sterbende da ist. Catherine Newman beschreibt die Charaktere, die mir sehr schnell ans Herz gewachsen sind, mit viel Liebe und sehr bildhaft. Die Autorin macht mit ihrem Buch Zurückgebliebenen Mut, nach einem endgültigen und schmerzhaften Abschied einen Weg zu finden, mit der Erinnerung an ihre Lieben weiterzuleben.

Ich habe das emotionale Buch sehr gern gelesen, es hat mich zutiefst berührt. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 12.08.2023
Die Verborgenen
Geschke, Linus

Die Verborgenen


sehr gut

Spannender Thriller
Im Mittelpunkt von "Die Verborgenen", dem neuen Thriller des Kölner Autors Linus Geschke, steht die Familie Hoffmann, die ein geräumiges Haus an der Nordseeküste bewohnt. Der Vater Sven ist 42 Jahre alt und arbeitet als Journalist für einen Bremer Fernsehsender, seine 40-jährige Ehefrau Franziska hat eine Teilzeitstelle in einem Tourismusbüro. Die 17-jährige Tochter Tabea steht kurz vor dem Abitur. In der Ehe von Sven und Franziska kriselt es, und nicht nur Tabea hat Geheimnisse. Alle sind so mit sich selbst beschäftigt, dass sie nicht bemerken, dass sie eine fremde Person in ihrem Haus beherbergen. Hierbei handelt es sich um einen sogenannten Phrogger, das sind Menschen, die in fremde Häuser eindringen und dort unbemerkt leben. Sie verstecken sich in Kellern oder auf Dachböden. Wenn die Bewohner das Haus verlassen, erkunden die Phrogger die Räume und bedienen sich an den Lebensmitteln. 

Die Geschichte hat zwei Schwerpunkte. Den einen bildet der Mord an einer Mitschülerin von Tabea, den anderen die geheimnisvolle Person, die sich im Haus der Familie Hoffmann aufhält und durch ihre Vorgehensweisen für große Irritationen und Verdächtigungen innerhalb der Familie sorgt.

Der Schreibstil des Autors hat mir gut gefallen, das Buch liest sich sehr flüssig. Die Handlung ist bedrohlich und atmosphärisch, die Charaktere sind sehr gut gezeichnet. Der Thriller ist spannend und packend erzählt, allerdings flacht der Spannungsbogen leider in dem Moment ab, als nach gut 200 Seiten die Identität des Phroggers gelüftet wird. Die Kapitel, die häufig mit einem Cliffhanger enden, sind abwechselnd aus Sicht der einzelnen Familienmitglieder und des Phroggers erzählt. Die Auflösung am Ende hat mich enttäuscht, ich fand sie schwach und hätte mehr erwartet. Die Darstellung der familiären Probleme, die in dem Buch viel Raum einnehmen, fand ich hingegen sehr gelungen und realitätsnah.

Ich habe das spannende Buch, das ohne Blutvergießen und Gemetzel auskommt, sehr gern gelesen und mich gut unterhalten gefühlt. Es war sehr interessant für mich, etwas über Phrogger zu erfahren, die mir bisher vollkommen unbekannt waren und zum Glück in Deutschland noch nicht ihr Unwesen treiben.

Bewertung vom 11.08.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


sehr gut

Beeindruckend und bewegend
In ihrem Debütroman "Terafik" erzählt Nilufar Karkhiran Khozani ihre beeindruckende Familienbiographie.
 
Wir schreiben das Jahr 2016. Die 32-jährige Nilufar lebt in Berlin und arbeitet als Psychologin in einer Rehaklinik in Brandenburg. Seit kurzem ist sie mit ihrer Freundin Alex zusammen, zur deutschen Mutter hat sie seit Jahren keinen Kontakt mehr. Ihren in Iran lebenden Vater Khosrow hat sie seit 5 Jahren nicht mehr gesehen. Khosrow lädt sie ein, nach Iran zu kommen, damit sie endlich ihre Familie kennenlernt. Nilufar spricht nur wenig persisch, sie ringt mit sich und lässt sich schließlich vom Vater zu der Reise überreden, die sie für vier Wochen nach Iran führen wird.
 
Da sie mit ihrer Geburt automatisch iranische Staatsbürgerin wurde, ist der iranische Pass schnell besorgt. Sie füllt ihren Koffer mit Gastgeschenken für die zahlreichen Familienmitglieder und begibt sich auf die weite Reise. Am Flughafen in Teheran warten neben ihrem Vater viele Verwandte auf sie und nehmen sie herzlich in Empfang.  
 
Die Autorin erzählt die Geschichte auf zwei Zeitebenen. Im Hier und Jetzt begleiten wir Nilufar in Iran vier Wochen lang bei Verwandtenbesuchen und Ausflügen. Auf der zweiten Zeitebene erzählt die Autorin die bewegende Geschichte ihres Vaters, der Ende der siebziger Jahre nach Deutschland kam und Elektrotechnik studierte. Sie erzählt von der gemeinsamen Zeit mit den Eltern in Gießen und dem Leben in Rabenau, wo der Vater eine eigene Firma gründete. Neben den beiden Erzählsträngen enthält das Buch auch Chatverläufe zwischen Nilufar und ihrem Vater. 

Nilufar Karkhiran Khozanis kraftvoller Schreibstil hat mich sehr beeindruckt. Sie beschreibt die Familienmitglieder liebevoll und authentisch und lässt uns auch tief in ihre eigene Gedanken- und Gefühlswelt blicken. Die Beziehung zum Vater ist distanziert, zumal dieser oft abwesend ist und Nilufar daher viel Zeit mit ihrer Cousine Narges und deren Eltern verbringt. Mit ihren Schilderungen bringt sie uns den Alltag iranischer Familien nahe und beschreibt die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Sie bewegt sich in einer vollkommen anderen Welt, begegnet familiären und gesellschaftlichen Traditionen und muss feststellen, dass sie sich ohne Begleitung in der Öffentlichkeit nicht frei bewegen kann. 

Das Buch, das neben der Familiengeschichte der Autorin und ihrer Identitätssuche auch sehr eindrucksvoll die Zerrissenheit eines Landes beschreibt, hat mir sehr gut gefallen - Leseempfehlung! 

Bewertung vom 09.08.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

Gravierende Veränderungen
Die österreichische Autorin Doris Knecht erzählt in ihrem neuen Roman "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" die Geschichte einer Frau, die mit Mitte Fünfzig vor gravierenden Veränderungen steht. Sie ist alleinerziehend, ihre Kinder Max und Mila, die Zwillinge sind, werden nach dem Abitur auf eigenen Füßen stehen. Die 130 qm große Wohnung wird für die namenlose Ich-Erzählerin unbezahlbar, da ihr Exmann keinen Mietzuschuss mehr an sie zahlen wird. Obwohl sie Veränderungen hasst, wird sie sich eine neue, bezahlbare Bleibe suchen und sich von vielen Dingen trennen müssen.

Die Protagonistin lässt ihr Leben Revue passieren. Sie ist das älteste Kind in ihrer Familie, nach ihr bekamen die Eltern zwei Zwillingsmädchen, nach zwei Jahren zwei weitere Zwillingsmädchen. Die Schwestern sind blond wie die Mutter, nur die Ich-Erzählerin hat dunkle Haare. Sie galt als unsportlich, war immer gern für sich und eher ihren Büchern zugewandt, während die Schwestern im Hochleistungssport aktiv waren und von den Eltern gefördert wurden. Neben den Schwestern hat sie sich immer unsichtbar gefühlt, und das ist noch heute so.

Während sie mit ihrer Wohnungssuche beschäftigt ist, lässt sie ihren Gedanken freien Lauf. Wir erfahren dabei viel über ihre Vergangenheit und ihre Ansichten. Sie blickt zurück auf ihre Kindheit und das Verhältnis zu den Eltern, ihre Freundschaften und ihr Berufs- und Liebesleben. Das geschieht mit schonungsloser Offenheit, vollkommen unsentimental und authentisch.

Doris Knecht ist eine begnadete Erzählerin, die ihre Protagonistin ganz wunderbar skizziert und auch sehr viel ihres feinen Humors in die Geschichte einfließen lässt. Das Buch ist in zahlreiche kurze Kapitel mit passenden Überschriften gegliedert und sehr kurzweilig. Es ist nicht spektakulär, es beschreibt das wahre Leben, und es ist auch ein Buch über berührende Themen wie Mutterschaft und Loslassen. 

Es hat mir sehr viel Freude bereitet, den Gedankengängen der Ich-Erzählerin zu folgen und sie auf ihrem Weg in ihr neues Leben zu begleiten. Ich fand mich oft wieder in den Texten, konnte so vieles nachempfinden und habe dabei auch immer wieder meine eigene Vergangenheit reflektiert.

Die ruhige und in intelligentem Sprachstil erzählte Geschichte hat mir sehr gut gefallen - absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 07.08.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


ausgezeichnet

Zutiefst berührend und aufwühlend
In ihrem neuen Roman "Simone" erzählt Anja Reich die Geschichte ihrer Freundin Simone, die sich im Oktober 1996 mit 27 Jahren das Leben genommen hat.
 
Die 28-jährige Anja ist bereits verheiratet, hat einen kleinen Sohn und arbeitet in ihrem Beruf als Journalistin in Festanstellung, während ihre Freundin, die ein Jahr jüngere Simone, immer noch Single ist und ein Studentenleben führt. Simone ruft an, aber Anja hat keine Zeit, weil ihr Sohn und ihr Vater ihre Geburtstage feiern. Am nächsten Tag ruft Simone sie in der Redaktion an, aber wieder hat sie keine Zeit, da sie einen Artikel zu Ende schreiben muss. Sie wimmelt Simone ab - und zwei Stunden später ist die Freundin tot.
 
Anja fragt sich nach dem Warum und sucht nach Antworten. 10 Jahre nach Simones Selbstmord trifft sie sich mit ihrem Bruder André, der versucht, das Geschehene zu vergessen. Es vergehen weitere 10 Jahre, und Anja sucht Simones Eltern Dana und Ulrich auf. Von nun an besucht sie sie oft, sie führen intensive Gespräche und sehen sich alte Fotos an. Anja erhält Einsicht in alle Unterlagen und Dokumente ihrer Freundin, darf ihre Kalender, Briefe, Dokumente und Tagebücher lesen. Darüber hinaus führt sie Gespräche mit mehreren Experten zu den Themen Suizid und Depressionen und nimmt Kontakt zu Simones Cousine Miriam, ihren Freunden und Bekannten auf.
 
Nach und nach blättert sich Simones Leben auf, wir erfahren vieles über ihre Kindheit, ihre Freundschaften und ihr Liebesleben. Das Verhältnis zu den Eltern ist eng, aber schwierig. Auch Anjas Leben fließt in den Roman ein, die Mädchen lernen sich kennen, als Anja und Simones Bruder André ein Paar werden. Damals ist Simone 15, Anja 16 Jahre alt. Sie werden Freundinnen, als André seinen Grundwehrdienst ableistet. 

Das in schönem Sprachstil verfasste Buch hat mich sehr berührt und gefesselt. Anja Reich dokumentiert nicht nur Simones kurzes Leben, sondern auch das ihrer Eltern und Großeltern. Sie schildert das Aufwachsen in der DDR und fragt sich, ob Simone den Systemwechsel vielleicht nicht verkraftet hat, dass sie vor der Wende innerhalb der alten Regeln und Strukturen mehr Halt fand. Mit großer Offenheit beschreibt sie ihre Schuldgefühle, sie fragt sich immer wieder, weshalb sie nicht erkannt hat, wie schlecht es Simone ging und ob sie ihren Selbstmord hätte verhindern können. Der Autorin ist es gelungen, uns nicht nur Simones Gedankenwelt, sondern auch ihre Gefühlswelt sehr nahezubringen. Ich habe oft mit der jungen und haltlosen Frau mitgefühlt, ihre seelischen Nöte und Sehnsüchte verstanden, aber ihre Handlungsweisen auch oft nicht nachvollziehen können.

Der emotionale Roman, der mich noch lange beschäftigen wird, hat mich erschüttert und aufgewühlt, er ist keine leichte Kost - von mir absolute Leseempfehlung!

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.08.2023
Marschlande
Kubsova, Jarka

Marschlande


ausgezeichnet

Großartiger und zutiefst berührender Roman
Der Fischer Verlag hat "Marschlande" veröffentlicht, den neuen Roman von Jarka Kubsova, in dem diese die berührende Geschichte zweier Frauen in unterschiedlichen Zeiten erzählt. Beide verbindet der Wunsch nach Selbstbestimmung.
 
Britta Stoever ist 45 Jahre alt, promovierte Geographin und zieht mit ihrem Mann Philipp und den beiden Kindern Mascha und Ben von Hamburg nach Ochsenwerder in Marschlande. Die Familie suchte schon länger nach einem bezahlbaren Haus, und Philipp verliebte sich sofort in das Anwesen. Er ist glücklich in der neuen Bleibe, während es Britta schwer fällt, sich einzugewöhnen. Die Menschen im Dorf sind ihr gegenüber zurückhaltend, und sie vermisst ihre Forschungstätigkeit an der Universität. Auf einer Erkundungstour entdeckt sie den Abelke-Bleken-Ring. Ihre Neugier ist geweckt, sie möchte wissen, wer Abelke war. Sie beginnt zu recherchieren und erfährt durch Ruth, eine Bewohnerin des Ortes, weitere Details über die Bäuerin Abelke, der großes und grausames Unrecht widerfuhr.
 
Auf einer zweiten Zeitebene im 16. Jahrhundert begleiten wir die junge und kämpferische Abelke Bleken, die nach dem Tod der Eltern den großen Bauernhof allein mit Hilfe eines Knechts und zwei Mägden weiterführt. Nach einem Sturm warnt sie die Bewohner des Dorfes vor einem weiteren Sturm. Niemand nimmt sie ernst, und bei der Allerheiligenflut 1570 kommen viele Menschen ums Leben, Tiere verenden, Häuser werden zerstört. Der Deichvogt fordert die Bauern auf, die Deiche wiederherzustellen. Da Abelke weder über Geld noch über Arbeitskräfte verfügt, ist es ihr unmöglich, der Forderung innerhalb der gesetzten Frist nachzukommen, und ihr wird wegen des Verstoßes gegen die Deichpflicht schließlich der Hof entzogen.
 
Jarka Kubsova erzählt in wunderbarem Sprachstil in sich abwechselnden Kapiteln die Geschichte der beiden Frauen und zeichnet dabei die Charaktere authentisch und bildhaft. Sie lässt uns teilhaben an ihrem Leben, ihrer Gedanken- und Gefühlswelt. Im Hier und Jetzt erleben wir Brittas Alltag und ihre zunehmende Unzufriedenheit mit ihrer persönlichen Situation und fast 500 Jahre zuvor das harte Leben der jungen Abelke. Der Bäuerin werden schon allein Steine in den Weg gelegt, weil sie eine alleinstehende Frau ist. Es hat mich erschüttert, wie sie durch die Dorfbewohner ausgegrenzt und verraten wurde und sich einem unmenschlichen Gerichtsverfahren stellen musste.
 
Das Buch hat mich von Anfang an gefesselt, ich konnte es kaum aus der Hand legen. Abelkes Geschichte hat mich zutiefst berührt und traurig gemacht, die Haltung und der Einfluss der Kirche hat mich entsetzt. Sehr interessant fand ich die ausführlichen Beschreibungen der Landschaft und der rauen Natur. Das Buch über Abelkes tragische Geschichte beruht teilweise auf wahren Gegebenheiten. In ihrem sehr lesenswerten Nachwort ergänzt die Autorin ihren Roman durch weitere historische Fakten über Abelke Bleken und die damaligen Umstände in Marschlande.
 
Absolute Leseempfehlung von mir für diesen großartigen und zutiefst berührenden Roman!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.