Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bücherfreundin

Bewertungen

Insgesamt 329 Bewertungen
Bewertung vom 02.08.2023
Das Licht im Rücken
Lüpkes, Sandra

Das Licht im Rücken


ausgezeichnet

Fesselnder Gesellschafts- und Familienroman
Sandra Lüpkes war mir als Autorin bislang unbekannt. Das Cover von "Das Licht im Rücken" hat mich nicht besonders angesprochen, der Klappentext dagegen sofort fasziniert. Ich mag interessante Firmengeschichten, die mit fesselnden Familienschicksalen über mehrere Generationen hinweg verknüpft sind.
 
Die Handlung beginnt im Jahr 1914, als Oskar Barnack eines Nachmittags durch die Stadt spaziert und fotografiert. Der Berliner ist dankbar dafür, dass es ihn nach Wetzlar verschlagen hat, wo er die Versuchsabteilung der Leitz-Werke leitet und mit seiner Familie eine schöne Dienstvilla bewohnen darf. Es ist ein besonderer Tag, denn er hat etwas Bahnbrechendes erfunden, das das umständliche Fotografieren mit riesigen und schweren Apparaten überflüssig machen wird. In diesem Moment kann er nicht ahnen, dass seine Erfindung, die Leica, einen weltweiten Siegeszug antreten wird.
 
Die Geschichte wird während der Zeitspanne zwischen 1914 und 1945 auf zwei Ebenen erzählt. Wir lernen die Mitglieder der Unternehmerfamilie Leitz kennen: den Patriarchen Ernst Leitz, seinen Sohn Ernst, "der Zweite" genannt, sowie dessen Tochter Elsie und die Söhne Ernst und Ludi. Ernst II. ist seit einigen Jahren verwitwet, seine Ehefrau Elisabeth hat sich das Leben genommen.
Auf der zweiten Erzählebene begegnen wir der Familie Gabriel, die das "Haus der Präsente" führt. Sie besteht aus dem jüdischen Vater Anton Gabriel, einem langjährigen Freund von Ernst II., seiner Ehefrau und den beiden Kindern Milan und Dana. 
 
1924 beschließt Ernst II., mit der Leica in Produktion zu gehen. Die neue Kamera wird ein Verkaufsschlager, und die Firma expandiert. Ernst II. heiratet Hedwig, die beste Freundin seiner verstorbenen Frau, Elsie studiert Jura. Milan Gabriel macht eine Ausbildung bei der Firma Leitz als technischer Kaufmann, seine Schwester Dana hilft dem Vater im Laden. Mit dem Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten kommt es zu dramatischen Entwicklungen und Veränderungen im Leben der beiden Familien.
 
Der Roman ist in sehr schönem Sprachstil geschrieben und liest sich flüssig. Der Autorin ist es gelungen, die interessanten Figuren authentisch und bildhaft zu beschreiben. Das Buch ist sehr spannend und nimmt den Leser mit in die schwere Zeit zweier Weltkriege. Wir folgen den Schicksalen der Mitglieder der Familien Leitz und Gabriel, erleben neben ihren Höhen und Tiefen auch ihre Tragödien. Mir hat die Geschichte, in der es um Liebe und Freundschaft, Menschlichkeit und Verrat geht, sehr gut gefallen. 
Am Ende des hochwertig und liebevoll gestalteten Buches finden wir neben einem sehr lesenswerten Nachwort der Autorin ein ausführliches Register aller realen und fiktiven Personen. Darüber hinaus gibt es im vorderen und hinteren Teil des Buches viele interessante Fotos. Passend zur jeweiligen Zeit sind im Roman Fotos der unterschiedlichen Leica-Modelle mit technischen Angaben eingefügt.
 
Leseempfehlung für diesen fesselnden und großartig recherchierten Gesellschafts- und Familienroman!

Bewertung vom 30.07.2023
Nicht ein Wort zu viel
Winkelmann, Andreas

Nicht ein Wort zu viel


gut

Nur fünf Wörter
Der Rowohlt Taschenbuch Verlag hat den neuen Thriller von Andreas Winkelmann veröffentlicht. "Nicht ein Wort zu viel" spielt in der Buchbloggerszene und erregte wegen dieses vielversprechenden Themas meine Aufmerksamkeit. Bislang kannte ich noch kein Buch des Autors und war daher sehr neugierig.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 32-jährige Buchhändlerin und Buchbloggerin Faja, deren Privatleben sich weitgehend im Internet abspielt. Sie glaubt an einen Scherz, als sie während einer Autorenlesung in einem Video auf ihrem Handy ihren Buchblogger-Freund Claas sieht. Er sitzt auf einem Stuhl, ist eng in Frischhaltefolie eingehüllt, und auf einem Pappschild, das um seinen Hals hängt, steht: "Erzähl mir eine spannende Geschichte. Sie darf fünf Wörter haben. Sonst muss dein Freund sterben".

Auf einer zweiten Handlungsebene folgen wir dem Polizisten Jaro, der während eines Einsatzes eine folgenschwere Fehlentscheidung trifft. Daraufhin kommen der Täter und auch seine Geisel ums Leben. Jaro wird mit sofortiger Wirkung von seiner Vorgesetzten degradiert mit der Auflage, Gespräche mit der Polizeipsychologin Aylin zu führen. Der Überqualifizierte wird nun mit einfachen Ermittlungsarbeiten betraut. Er ist wenig begeistert und beschäftigt sich nun mit dem Fall des 22-jährigen Thorsten. Der Sohn eines Unternehmers wird seit 10 Tagen vermisst, und Jaro begibt sich auf die Spurensuche.
Parallel begleiten wir den Polizisten Simon, der im Fall Claas Rehagen ermittelt.

Das Buch liest sich dank des angenehmen Sprachstils sehr flüssig. Jedes Kapitel endet mit einem Cliffhanger, so dass die Spannung von Beginn an auf einem hohen Level ist und beibehalten wird. Die Charaktere sind sehr gut und authentisch beschrieben, vor allem der unbeherrschte und emotionale Jaro. Ich fand es sehr interessant, Einblick in die Welt der Buchblogger zu erhalten, auch die Verknüpfung der Handlungsstränge und die daraus resultierende Zusammenarbeit der beiden doch so völlig unterschiedlichen Ermittler hat mir gut gefallen. Bei der Tätersuche tappte ich vollkommen im Dunkeln, es gab viele Verdächtige, und ich habe mich vom Autor mehr als einmal auf falsche Fährten führen lassen. Gestört hat mich das zeitweise unprofessionelle Verhalten der Polizei, z.B. wird ein entwendetes Buchmanuskript vor einer Hausdurchsuchung schnell zurückgelegt. Die Auflösung war zwar überraschend, aber das Motiv hat mich nicht wirklich überzeugen können.

Das Buch hat mir zwar gut gefallen, blieb aber insgesamt leider hinter meinen Erwartungen zurück.

Bewertung vom 29.07.2023
Herr Winter taut auf
Kuhlmann, Stefan

Herr Winter taut auf


sehr gut

"AVON bringt Schönheit direkt ins Haus"
Viele kennen sicher den Werbeslogan "AVON bringt Schönheit direkt ins Haus", mit dem die Kosmetikfirma AVON seit den sechziger Jahren ihre Produkte und den in den Anfangszeiten noch sehr ungewöhnlichen Vertriebsweg beworben hat. Die Produkte konnten nämlich von Beginn an nicht in Geschäften erworben werden, sondern nur über spezielle AVON-Beraterinnen. In seinem Debütroman "Herr Winter taut auf" erzählt Stefan Kuhlmann mit viel Herzenswärme die Geschichte eines ehemaligen Finanzbeamten, der nach dem Tod seiner Ehefrau deren Tätigkeit als AVON-Berater fortsetzt.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der frisch pensionierte Robert Winter, der kein sehr angenehmer Zeitgenosse ist. Er ist oft unfreundlich, ungesellig, pedantisch und manchmal cholerisch. Seine Frau Sophia weiß ihn zu nehmen, Bestätigung findet sie in ihrer Tätigkeit als AVON-Beraterin. Als sie durch einen Autounfall ums Leben kommt, bricht Roberts Welt zusammen. Der Lebensmut hat ihn verlassen, er verlässt kaum das Haus. Sein Leben erhält wieder Struktur, als er beschließt, nicht nur Sophias Bestellungen auszuliefern, sondern auch in ihre Fußstapfen zu treten. Er möchte "AVON-Berater des Jahres" werden und diese Auszeichnung Sophia widmen.

Roberts Ehrgeiz ist geweckt, und er beschäftigt sich nun akribisch mit der Produktpalette der Kosmetikfirma, sein Nachbar Basti gibt ihm hilfreiche und weniger hilfreiche Tipps, den Rest besorgt das Internet. Mit seiner direkten Art vergrault er anfangs etliche Kundinnen, aber im Laufe der Zeit wird sein Umgang mit ihnen behutsamer und feinfühliger, diplomatisch und taktvoll - jedenfalls meistens. Die Damen - und auch einige Herren - schätzen seinen Rat, und Roberts Kosmetikpartys sind ein Erfolg. Aber kann er es in der Kürze der Zeit wirklich schaffen, "AVON-Berater des Jahres" zu werden, zumal eine Konkurrentin alles daran setzt, ihn loszuwerden?

Wir lernen den mürrischen Robert kennen, erleben seine Trauer und begleiten ihn auf seinem neuen Weg als AVON-Berater, der Höhen und Tiefen für ihn bereithält. Es ist schön zu lesen, wie er im Laufe der Zeit tatsächlich auftaut, wie er zugänglicher und geselliger wird. Auch das Verhältnis zu seiner Tochter Miriam, das immer eher frostig war, verändert sich positiv.

Die in schönem Sprachstil mit viel Herz und Humor erzählte Geschichte hat mir gut gefallen, auch wenn sie in einigen Punkten etwas vorhersehbar ist. Der Autor beschreibt sehr liebevoll seinen Protagonisten Robert mit all seinen Stärken und Schwächen. Der Titel des Buches mit dem wunderschönen Cover passt ganz hervorragend, es gibt queere Themen, und es mangelt nicht an komödiantischen Übertreibungen.

Leseempfehlung für diesen gelungenen Debütroman, der mich berührt und erheitert hat!

Bewertung vom 26.07.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


ausgezeichnet

Beeindruckender Familien- und Umweltroman
In "Blue Skies", dem neuen Buch von T.C. Boyle, geht es um die dramatischen Folgen des Klimawandels, die er am Beispiel einer amerikanischen Familie aufzeigt.
 
Im Mittelpunkt der Geschichte, die in naher Zukunft spielt, steht die Familie Cullen, die in Kalifornien bzw. Florida lebt. Sie besteht aus dem Vater Frank, der als Hausarzt praktiziert, und seiner Ehefrau Ottilie, die bis vor drei Jahren in der Praxis ihres Mannes arbeitete. Ihr Sohn Cooper lebt nicht mehr zuhause, er ist Biologe und mit großer Leidenschaft als Insektenforscher tätig. Cat, die Tochter von Frank und Ottilie, hat mit ihrem Freund Todd in Florida ein Strandhaus bezogen, das dieser von seiner Mutter geerbt hat. 
 
In Kalifornien leiden die Menschen unter der brütenden Hitze und der anhaltenden Trockenheit, es besteht Waldbrandgefahr. Ottilie versucht, klimafreundlicher zu leben. Sie stellt auf Anraten ihres Sohnes einen Teil der Ernährung um und beginnt, Grillen und später Bienen zu züchten. Den Wasserverbrauch hat sie drastisch reduziert.
Für ihre Tochter Cat stellen die ständigen Regenfälle in Florida, die für das Strandhaus immer mehr zur Bedrohung werden, ein großes Problem dar. Die hohe Luftfeuchtigkeit verursacht Schimmel und Fäulnis im Haus. Cat geht keinem geregelten Beruf nach und träumt davon, sich als Influencerin einen Namen zu machen. Ihr Freund Todd ist Botschafter eines Rumherstellers und viel auf Reisen. Cat langweilt sich und legt sich zum Leidwesen ihres Freundes einen Tigerpython zu. 
Cooper lebt in der Nähe der Eltern. Seit seiner Kindheit ist er von der Natur fasziniert. Mit großer Sorge sieht er den Klimawandel mit seiner Verwüstung und dem Artensterben. Seine Liebe gilt den Insekten, was ihn eines Tages beinahe das Leben kosten wird. 
 
Der Roman ist äußerst unterhaltsam, teilweise auch humorvoll, und -  wie man es vom Autor kennt - in intelligentem und mitreißendem Sprachstil geschrieben. Wir begleiten die Mitglieder der Familie Cullen über einen Zeitraum von etwa 10 Jahren, erleben ihre Höhen und Tiefen, aber auch ihre Tragödien. Die bewegende Darstellung des amerikanischen Lebens in Zeiten des Klimawandels ist T.C. Boyle hervorragend gelungen. Liebevoll zeichnet er seine interessanten Figuren mit all ihren Schwächen und zeigt einmal mehr die Ausplünderung der Erde durch die Menschen auf.
Mir hat die Mischung aus Familien- und Umweltroman sehr gut gefallen, die Geschichte wirkt erschreckend realistisch und hat mich von Beginn an gefesselt.
 
Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Roman, der sehr zum Nachdenken anregt!

Bewertung vom 22.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Zutiefst berührende Geschichte
Der Dumont Verlag hat "Kontur eines Lebens", den neuen Roman des niederländischen Schriftstellers Jaap Robben, veröffentlicht.
 
Im Mittelpunkt der emotionalen Geschichte steht die 81-jährige Frieda. Ihr Mann Louis, mit dem sie seit einem halben Jahrhundert verheiratet ist, pflegt und umsorgt sie. Als er vollkommen unerwartet stirbt, muss Frieda in ein Pflegeheim umziehen. Ihr Sohn Tobias und seine schwangere Freundin Nadine unterstützen sie und kümmern sich um die Auflösung der Wohnung. Die Eingewöhnung in die neue Umgebung fällt Frieda schwer. Erinnerungen an ihre erste Liebe und an ein Ereignis, das 60 Jahre zurückliegt und um das niemand außer ihr weiß, werden wach und lasten schwer auf ihr. Es gibt unbeantwortete Fragen, und endlich setzt sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinander und stellt Nachforschungen an.
 
Wir erleben Frieda auf einer zweiten Zeitebene. Im März 1963 ist sie 21 Jahre alt, lebt noch bei ihren Eltern und ist als Floristin in einem Blumenladen tätig. Ihre drei Schwestern haben bereits das Elternhaus verlassen und gehen eigene Wege. Die Gegend ist katholisch geprägt, die Teilnahme am Sonntagsgottesdienst selbstverständlich. Auf einem zugefrorenen Fluss lernt sie den 10 Jahre älteren Otto kennen, der an der Universität arbeitet und glücklich mit seiner Frau Brigitte verheiratet ist. Frieda und Otto verlieben sich ineinander, und es kommt zwischen ihnen zu einem intimen Verhältnis, das nicht ohne Folgen bleibt ...

Der Autor beschreibt Friedas Leben auf sehr feinfühlige Art, die unter die Haut geht, aber niemals kitschig ist. Friedas Schicksal steht stellvertretend für das Schicksal vieler Frauen, die in den sechziger Jahren und auch noch danach schwanger waren, ohne verheiratet zu sein. Sie brachten Schande über ihre Familien und wurden nicht selten von diesen verstoßen. Jaap Robben schildert die schwere Zeit von Friedas Schwangerschaft und eine kurze Zeit danach. Es ist erschütternd, zu lesen, wie verächtlich und herzlos Frieda von ihren Eltern, ihrem Umfeld und im Krankenhaus behandelt wurde.
 
Lange hat mich kein Buch mehr so berührt und erschüttert wie dieses. Ich habe mit der jungen Frieda mitgefühlt und mitgelitten und der alten Frieda gewünscht, dass sie ihren Seelenfrieden findet. Die abwechselnd auf zwei Zeitebenen erzählte Geschichte ist in wunderbarem und sensiblem Sprachstil geschrieben, sie hat mich vom Anfang bis zum Ende gefesselt. Die Charaktere sind ebenso authentisch und großartig beschrieben wie der Zeitgeist der sechziger Jahre. Der Autor lässt uns nicht nur eintauchen in die Gedanken- und Gefühlswelt der jungen Frieda, sondern auch in die der alten, etwas eigenwilligen Frieda.
 
Absolute Leseempfehlung von mir für dieses großartige und bewegende Buch, das mich tief beeindruckt hat und noch lange beschäftigen wird!

Bewertung vom 20.07.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


sehr gut

Schockierender und aufwühlender Roman
"Sekunden der Gnade", der neue Roman des amerikanischen Schriftstellers Dennis Lehane, spielt inmitten einer Hitzewelle im Sommer des Jahres 1974 in Boston. Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 42-jährige Krankenhaushelferin Mary Pat Fennessy. Ihr erster Ehemann Dukie lebt nicht mehr, der zweite, Ken, hat sie wegen einer jüngeren Frau verlassen. Mary Pat lebt mit ihrer 17-jährigen Tochter Jules, die ihr Ein und Alles ist, in ärmlichen Verhältnissen. Ihr Sohn Noel starb nach seiner Rückkehr aus Vietnam an einer Überdosis Heroin. In der Stadt brodelt es, seit ein Bostoner Richter entschieden hat, dass die Rassentrennung an den öffentlichen Highschools aufgehoben werden soll. Das bedeutet, das nun Schüler aus überwiegend weißen Stadtvierteln mit Bussen in überwiegend schwarze Stadtviertel zur Schule gebracht werden und umgekehrt. Die Entscheidung weckt den Widerstand vieler Bostoner.
 
Eines Nachts kehrt Jules nach einem Treffen mit Freunden nicht nach Hause zurück. Ihre Mutter sucht sie verzweifelt, und schon bald sucht auch die örtliche Polizei nach Jules im Zusammenhang mit dem Tod eines jungen Mannes in der Nacht ihres Verschwindens. Mary Pat will herausfinden, was passiert ist. Sie stellt viele Fragen und stößt bei ihren Recherchen auf eine Mauer aus Schweigen. Doch sie findet mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln heraus, was sich in der Nacht von Jules Verschwinden ereignet hat und startet einen Rachefeldzug.
 
Die Geschichte ist keine leichte Kost. Bereits Mary Pats Kindheit und Jugend sind geprägt von Gewalt durch die Eltern und Geschwister. Der Leser begleitet sie auf der Suche nach ihrer Tochter, bei der sie fast nur unter Einsatz brutaler Gewalt zu weiteren Erkenntnissen gelangt. Diese Gewaltszenen waren für mich schwer zu ertragen. 

Dennis Lehane erzählt die Geschichte in nüchternem und kraftvollem Sprachstil, sie ist spannend und beschreibt sehr detailliert den Rassismus der damaligen Zeit. Das düstere Buch, in dem es um Drogen und Mafia, Liebe, Hass und Rache geht, hat mich gefesselt, aber auch schockiert und aufgewühlt. 

Bewertung vom 20.07.2023
Nur ein einziger Tanz
Stellmacher, Hermien

Nur ein einziger Tanz


ausgezeichnet

Warmherzige und bewegende Geschichte
In ihrem neuen Roman "Nur ein einziger Tanz" erzählt Hermien Stellmacher die Geschichte der Rike Kehrmann. Die 56-jährige Übersetzerin wurde vor kurzem nach 12 Jahren Zusammenleben von ihrem Lebensgefährten Edgar für eine Auszeit verlassen. Nun hat sie gerade ein Buchprojekt beendet und möchte sich in der Bretagne erholen. Mitten in der Planung erreicht sie ein Brief aus Amsterdam. Der ihr unbekannte Hendrik Rhee schreibt ihr, dass er ihre Mutter Francisca, die vor einem Jahr gestorben ist, kannte und sie seit seiner Rückkehr aus Australien gesucht habe. Nach einem Telefonat mit Hendrik beschließt Rike, nach Amsterdam zu fahren, der Stadt, in der sie ihre Kindheit verbrachte.

Dort trifft sie den 92-jährigen Hendrik und lernt ihn und seine beiden Mitbewohner Greet und Karel kennen. Nach und nach erfährt sie von Hendrik nicht nur Einzelheiten über die Beziehung zwischen ihm und Cisca, wie er sie nennt, sondern auch viel Überraschendes über ihre Mutter. Rike wandelt in Amsterdam auf den Pfaden ihrer Kindheit, sie erinnert sich mehr und mehr daran und auch an die Jahre in Süddeutschland, die anfangs so schwer für sie waren. Ihre eigene Vergangenheit und die Geheimnisse ihrer Mutter werden langsam aufgeblättert, und Rike erkennt den Grund, der zu dem plötzlichen Wegzug ihrer Familie aus Amsterdam führte.

Das Buch ist in schönem Sprachstil geschrieben und liest sich sehr flüssig. Die Autorin erzählt die Geschichte mit großer Herzenswärme, aber auch viel Humor. Nach und nach fügen sich die Puzzleteile zu einem Ganzen zusammen, das Ende ist sehr berührend und stimmig. Nicht nur die sympathischen Hauptprotagonisten Rike und Hendrik, auch sämtliche Nebenfiguren sind äußerst liebevoll und authentisch skizziert. Wir begleiten Rike auf ihrer Reise in die Vergangenheit, die für sie einige Überraschungen bereithält, Höhen und Tiefen hat. Der Roman, der auch viele Lebensweisheiten enthält, hat mir sehr gut gefallen. Er hat mich von der ersten Seite an gefesselt und berührt, ohne dabei kitschig und vorhersehbar zu sein.

Auch das Nachwort ist lesenswert, die Autorin erzählt darin die Entstehungsgeschichte des Buches.
Leseempfehlung von mir für diesen schönen Roman mit Tiefgang, den ich mit sehr viel Freude gelesen habe.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.07.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


ausgezeichnet

Wunderbarer Roman mit Tiefgang
In ihrem neuen Roman "Nachts erzähle ich dir alles" erzählt Anika Landsteiner die Geschichte der 35-jährigen Léa, die auf Drängen ihrer Mutter Brigitte in deren Ferienhaus an die Côte d’Azur fährt. Léa braucht dringend Erholung, sie hat sich vor 6 Monaten von ihrer Lebensgefährtin Antonia getrennt und ist überlastet durch ihre Tätigkeit in dem von ihr geführten Café in München. Sie war seit vielen Jahren nicht mehr in dem Haus in Saint Martin, um das sich Brigittes Freundin Claire kümmert. Am ersten Abend kommt ein fremdes Mädchen in den Garten. Alice ist 16 Jahre alt, die beiden unterhalten sich angeregt bei einem Glas Wein, man verabredet sich locker für den nächsten Tag. Wenige Tage später steht Émile Bernard vor Léas Tür, Alice' Bruder. Alice ist tot, und Léa ist die letzte Person, die das Mädchen lebend gesehen hat. Der völlig Verzweifelte möchte herausfinden, was passiert ist.
Léa versucht, Émile bei seiner Suche nach der Wahrheit zu unterstützen. Sie sind sich sympathisch, führen viele intensive Gespräche und treffen sich immer wieder. Obwohl der 10 Jahre Jüngere als erfolgreicher Podcaster in einer vollkommen anderen Welt als Léa lebt, verlieben sie sich ineinander, was Léa vor neue Probleme stellt.
 
Parallel zur Geschichte lesen wir (in kursiver Schrift) eine Art Brief, den Claire an Léa richtet. Sie erzählt darin aus ihrem Leben und von der besonderen Beziehung, die sie mit Brigitte verbindet. 
 
Das anspruchsvolle Buch ist in ganz wunderbarem und klugem Sprachstil geschrieben, es hat mich von Beginn an fasziniert, gefesselt und berührt. Wir begleiten die Protagonisten und tauchen dabei ganz tief in ihre Gedanken- und Gefühlswelt ein. Es geht in dem Roman nicht nur um Liebesbeziehungen, sondern auch um Trauerbewältigung und das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung. Anika Landsteiner hat die interessanten und sympathischen Figuren sehr liebevoll gezeichnet, die Charaktere sind authentisch. Das Buch hat mir sehr gut gefallen, das Ende ist stimmig und lässt Raum für eigene Gedanken.
 
Absolute Leseempfehlung von mir für dieses wunderbare Buch!

Bewertung vom 15.07.2023
22 Bahnen
Wahl, Caroline

22 Bahnen


gut

Schöner Debütroman für junge Leser
In ihrem Debütroman "22 Bahnen" erzählt Caroline Wahl die Geschichte von Tilda Schmitt. Tilda wohnt gemeinsam mit ihrer Mutter Andrea und ihrer 10-jährigen Schwester Ida in einer Mietwohnung in einer nicht benannten Stadt. Während ihre Freunde nach dem Abitur die Welt bereisten und aus der Kleinstadt wegzogen, hat die nerdige Mathematikstudentin ihre Heimat nie verlassen. Tilda pendelt jeden Tag zwischen Uni und der Fröhlichstraße, in der sie wohnt, hin und her. Sie kümmert sich nicht nur um ihre alkoholkranke Mutter, sondern auch um Ida. Da das Geld knapp ist, arbeitet sie nachmittags als Kassiererin in einem Supermarkt. Entspannung vom stressigen Alltag findet sie im Schwimmbad, das sie täglich aufsucht, um genau 22 Bahnen zu schwimmen. Dort begegnet sie Viktor, dem älteren Bruder von Ivan, mit dem sie vor 5 Jahren befreundet war. Als ihr Professor ihr eine Promotionsstelle an der Humboldt-Universität in Berlin in Aussicht stellt, gerät sie in einen Konflikt. Kann sie es wagen, diesem Ruf zu folgen und ihre kleine Schwester bei der Mutter zurücklassen?

Das Buch ist in der Sprache der Jugend in der Ich-Form aus Tildas Perspektive geschrieben und liest sich sehr flüssig. Etwas gewöhnungsbedürftig fand ich, dass die Dialoge wie in einem Drehbuch verfasst sind. 
Wir lernen Tilda kennen, die weitgehend auf eigene Vergnügungen verzichtet, um ihren Alltag bewältigen zu können. Liebevoll kümmert sie sich um Ida, die immer wieder den Ausbrüchen der betrunkenen Mutter ausgesetzt ist. Die Autorin beschreibt das Verhältnis der Schwestern zueinander sehr berührend. Mit Tildas Unterstützung gelingt es Ida, selbstbewusster zu werden und sich neben ihrer Malerei neuen Aktivitäten zu öffnen. Die sich langsam und sehr behutsam entwickelnde Annäherung zwischen Tilda und Viktor wird vollkommen kitschfrei beschrieben, das Ende des Buches stimmt zuversichtlich. 

Die Coming-of-Age-Geschichte hat mir gut gefallen, ich empfehle sie jedoch eher jungen Lesern.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.07.2023
Den Teufel im Leib
Radiguet, Raymond

Den Teufel im Leib


ausgezeichnet

Großartiger Klassiker in wunderbarer Neuübersetzung
Der Pendragon Verlag hat genau 100 Jahre nach dem Erscheinen des Buches "Den Teufel im Leib" von Raymond Radiguet das Werk in neuer Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel veröffentlicht. Das Buch ist sehr hochwertig und ansprechend gestaltet. Es enthält neben der eigentlichen Geschichte Zeichnungen und erstmals in deutscher Sprache veröffentlichte Texte von Jean Cocteau sowie Gedichte und Briefe von Raymond Radiguet und ein sehr lesenswertes Nachwort des Übersetzers.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 15-jährige François, der auf einer gemeinsamen Wanderung mit seinem Vater die 18-jährige Marthe kennenlernt, die ihn sofort verzaubert. Marthe ist mit dem Soldaten Jacques verlobt, der im Ersten Weltkrieg für sein Land kämpft. Einen Monat später treffen sich François und Marthe zufällig wieder, und der Jugendliche begleitet die junge Frau, die bald heiraten wird, beim Möbelkauf. Kurz nach der Hochzeit setzt Marthe sich mit François in Verbindung, der sie fortan täglich in ihrer Wohnung besucht. Sie verlieben sich ineinander und beginnen eine intime Beziehung. Doch schon bald erhält Marthe einen Brief ihres Ehemannes, in dem dieser seinen bevorstehenden Fronturlaub ankündigt ....

Dank der großartigen, unserer Zeit angepassten Übersetzung und des schönen Sprachstils liest sich das Buch sehr flüssig. Der Ich-Erzähler François lässt uns teilhaben an seiner Gefühls- und Gedankenwelt, wir erleben seine innere Zerrissenheit und seine jugendlichen Verhaltensweisen. Dem Autor ist es gelungen, die Charaktere authentisch und bildhaft zu skizzieren. Ich fand den frühreifen François nicht sympathisch, einige seiner Gedankengänge und Handlungen entsetzten mich. Er liebt Marthe und kann ohne sie nicht sein, dennoch verhält er sich ihr gegenüber häufig dominant und manipulativ.

Das Buch, das der Autor mit 17 Jahren fertigstellte, wurde veröffentlicht, als er 20 Jahre alt war. Dass es bei seinem Erscheinen 1923 einen Skandal auslöste und von der Kritik als Geschmacklosigkeit gewertet wurde, kann ich auch aus heutiger Sicht gut nachvollziehen. Ich habe diesen anspruchsvollen Roman mit sehr viel Freude gelesen, er hat mich bis zu seinem stimmigen Ende berührt, fasziniert und gefesselt.

Absolute Leseempfehlung für diesen großartigen Klassiker!