Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 03.01.2022
Eis. Kalt. Tot.
Nordby, Anne

Eis. Kalt. Tot.


ausgezeichnet

Nach „Kalter Strand“ und „Kalte Nacht“ hat Anne Nørdby mit „Eis. Kalt. Tot.“ einen enorm spannenden Thriller mit sehr hohem Ekelfaktor nachgelegt. Zwar habe ich Tom Skagen als Ermittler vermisst (für seine Fans gibt es übrigens demnächst „Kalter Fjord“), aber mit der in Grönland geborenen Super-Recognizerin Marit Rauch Iversen und dem Ermittler Jesper Bæk hat sie ein für mich ansprechendes neuen Duo ins Leben gerufen.
Aber von vorn. Ein Mörder, den die Presse „Horrormetzger“ nennt, treibt im winterlichen Kopenhagen sein Unwesen. Die Sonderkommission „Eisscholle“ ist hinter ihm her, er ist den Ermittlern aber immer mindestens einen Schritt voraus. Der Killer ist unbeschreiblich grausam, zudem hat er eine ganz spezielle Handschrift: er „bastelt“ aus den Überresten seiner Opfer bizarre neue „Wesen“. Es dauert eine Weile, bis die Ermittler diese mit den Mythen der grönländischen Inuit in Verbindung bringen. Die Erkenntnis bringt sie zwar einerseits weiter, macht aber andererseits den Fall noch wesentlich komplizierter und undurchsichtiger. Dazu kämpft Kommissarin Kirsten Vinther an mehreren Fronten: die Jagd nach dem Mörder, aber auch die Suche nach dem Maulwurf in den eigenen Reihen, denn die Presse veröffentlicht Informationen, die sie überhaupt nicht haben dürfte. Und dann gibt es weitere Opfer.
Ich bin ein großer Fan von Nordic-Noir-Thrillern im Allgemeinen und von dänischen im Besonderen. Anne Nørdbys Bücher haben mich bislang nicht enttäuscht, so auch dieses nicht. Es hat mich schon mit dem Prolog aus persönlichen Gründen gepackt, denn der spielt in direkter Nachbarschaft von meinem besten Freund. Und auch sonst hat mich das Buch die ganze Zeit über gefesselt: die düstere und beklemmende Atmosphäre, die die Autorin schafft, ist dicht und packend, Verschnaufpausen gönnt sie der Leserschaft immer nur am „Ende des Tages“, wenn die Ermittler das Ermitteln sein lassen und in den Feierabend gehen. Ob Kirstens oder Jespers kompliziertes Privatleben – die Ausflüge ins Private sind oft aufschlussreich und eine wohltuende Abwechslung bei so viel Brutalität und Gewalt im Rahmen der Ermittlungen.
Die grönländischen Mythen waren mir seit den Büchern von Mads Peder Nordbo bekannt, daher fand ich vor allem die Themen Allaq und Tupilaq von der Autorin hervorragend aufgearbeitet, ich hätte mir eventuell ein bisschen mehr Tiefe gewünscht, das hätte aber vermutlich neben Themen wie Geldgier und Umweltzerstörung in Grönland (vor allem durch die verlassenen US-Air-Bases) den Rahmen des (ohnehin mit über 500 Seiten nicht gerade schlanken) Buchs gesprengt.
Sprachlich fand ich den Thriller wieder sehr gut gelungen. Er ist flüssig zu lesen, allerdings ist er weder thematisch noch in der Wortwahl etwas für zarte Gemüter. Schimpfworte und derbe Beleidigungen sind ebenso an der Tagesordnung wie blutige Beschreibungen unglaublich brutaler Taten. Jedes einzelne der aus unterschiedlichen Perspektiven erzählten Kapitel endet mit einem Cliffhanger, was das Buch zu einem absoluten Pageturner macht. Der Schluss ist stimmig, wobei die Autorin ihre Leserschaft immer mal wieder in eine völlig falsche Richtung lotst, auch mich hat die Auflösung des Falls ziemlich überrascht. Einzig die Auflösung, wer der „Maulwurf“ im Team ist, der Informationen an die Presse weitergibt, fand ich ein bisschen unbefriedigend.
Die Charaktere sind sehr speziell und nicht unbedingt Sympathieträger. Vor allem die forsche Art von Kirsten Vinther fand ich sehr anstrengend. Ihren Umgang mit Jesper, dem „dahergelaufenen Landei“ fand ich äußerst unprofessionell und machte sie für mich wirklich zu einer Chefin aus der Hölle. Jesper fand ich trotz seiner eher „unmännlich“ weichen Art wesentlich angenehmer.
Für mich war die Lektüre dieses gut konstruierten komplexen Thrillers wieder einmal ein Fest und ich lege ihn jedem ans Herz, der kein Problem mit brutalen und blutigen Beschreibungen hat, die die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele zeigen. Von mir daher fünf Sterne.

Bewertung vom 20.12.2021
Betreff: Falls ich sterbe
Setterwall, Carolina

Betreff: Falls ich sterbe


weniger gut

„Falls ich sterbe“ steht im Betreff einer E-Mail von Aksel an seine Frau. Der Inhalt: „Mein Computerpasswort ist: ivan2014. Eine ausführliche Liste befindet sich im Dokument Falls ich sterbe.rtf“. Carolina ist empört, aber kurze Zeit später stirbt Aksel mit Anfang 30 völlig überraschend im Schlaf und sie ist von jetzt auf gleich mit dem gemeinsamen Sohn Ivan allein. In zwei Handlungssträngen erzählt Carolina Setterwall autofiktional eine Geschichte von Liebe, Trauer und Verlust. Herausgekommen ist ein Buch mit einem vielversprechenden Klappentext, zu dem ich nur schwer Zugang gefunden habe und das mich irgendwie unbefriedigt zurücklässt.
Aber von vorn. Die Liebe zwischen Aksel und Carolina ist eher ungewöhnlich. Sie ist die treibende und drängende Kraft, die von Wohnungssuche bis Familienplanung alles in die Hand nimmt. Ihr Wunschkind überfordert die junge Mutter dann aber von Anfang an. Ivan schreit sehr viel und insgesamt entwickelt sich ihr Leben anders, als sie es sich gewünscht hat. Nach dem überraschenden Tod ihres Mannes wird die Überforderung noch größer und Caro braucht einige Zeit und viel Kraft, um mit dem Verlust leben zu lernen.
In zwei gegenläufigen Handlungssträngen erzählt die Autorin die Geschichte. Jeweils abwechselnd beinhalten die kurzen Kapitel Episoden aus der Zeit vor und nach Aksels Tod. So beschreibt sie ihr Kennenlernen, dann ihr Zusammenziehen, ein bisschen Alltag, Caros Kinderwunsch (Aksel wollte eigentlich kein Kind) und schließlich Ivans Geburt. In den anderen Kapiteln schreibt sie über Aksels Tod und wie sie im Anschluss versucht, ihr Leben irgendwie weiterzuleben. Das Thema an sich hätte wirklich Stoff für ein richtig gutes Buch geliefert. Und obwohl die Autorin damit teilweise ihre eigene Geschichte erzählt, schafft sie es nicht, mir ihre Trauerbewältigung näherzubringen. Ihre Protagonistin kreist sehr stark um sich selbst und ich fand sie eher anstrengend als sympathisch. Ihre und Aksels Familie tun ihr Möglichstes, sie zu unterstützen, aber meistens scheint sie es nicht zu schätzen zu wissen. Aber schon vorher empfand ich sie als unangenehm dominant und gleichzeitig fordernd und überfordert.
Auch sprachlich fand ich das Buch nicht unbedingt ansprechend. Der Verzicht auf wörtliche Rede und der distanzierte, fast sterile Stil passten für mich so gar nicht zum berührenden Thema. Sie schreibt tagebuch- oder briefähnlich, so, als erzähle sie ihrem verstorbenen Mann die Geschichte. Wie mit einem „Weißt du noch…?“ in den Kapiteln, in denen er dabei war und dann eher deskriptiv und geradlinig im „Jetzt“-Strang nach seinem Tod. Den Titel fand ich nicht sehr glücklich gewählt, vor allem, da die erwähnte E-Mail im Buch kaum eine Rolle spielt. Der Originaltitel „Låt oss hoppas på det bästa“ (lasst uns auf das Beste hoffen) passt wirklich besser, denn der Titel steht für Aufbruch, Zuversicht und Hoffnung, etwas, was im Buch in leisen Zwischentönen im großen Dunkel anklingt.
Insgesamt war das Buch für mich eher eine mühsame und enttäuschende Lektüre. Über weite Strecken zog es sich wie Kaugummi durch alltägliche, fast belanglose Situationen, Carolina steht so sehr im Mittelpunkt und kreist so extrem um sich selbst und ihr Selbstmitleid, dass neben ihr nichts und niemand anderes auch nur annähernd dreidimensional existieren kann. Außer ihr und Ivan gibt keine wirklichen Charaktere im Buch, die Nebenfiguren sind zwar vorhanden, haben zwar für Carolina nützliche Eigenschaften, aber nicht einmal Namen. So hat mich zwar der Gedanke hinter der Geschichte berührt, nicht aber die Geschichte selbst. Fertiggelesen habe ich sie eigentlich nur, weil ich auf eine Aufklärung hinsichtlich der Mail mit dem „Betreff: Falls ich sterbe“ gewartet habe – die leider aber nicht kam. Von mir daher zwei Sterne für die gute Idee, die gelungene Übersetzung und das clevere Konzept mit den gegenläufigen Handlungssträngen.

Bewertung vom 20.12.2021
Rache / Jane Hawk Bd.4
Koontz, Dean

Rache / Jane Hawk Bd.4


sehr gut

(Techno-)Arkadier versklaven mithilfe von Nanobots die Menschen, es gibt wilde Jagden und eine absolut geniale Heldin mit Muttergefühlen, die scheinbar über unbegrenzte intellektuelle und finanzielle Mittel verfügt. Klingt das bekannt? Für die Leser von Dean Koontz‘ Jane-Hawk-Serie ganz sicher. Denn auch der vierte Teil „Rache“ unterscheidet sich allerhöchstens marginal von seinen Vorgängern. Und darin liegt für mich das Problem.

Aber von vorn. Oder auch nicht. Denn wer „Suizid“, „Gehetzt“ und „Gefürchtet“ aus der Reihe kennt, der kennt im Prinzip auch das neue Buch. Travis, Janes fünfjähriger Sohn ist dieses Mal im Visier der Arkadier. Ihn wollen sie als Köder benutzen, um seine Mutter endlich ausschalten zu können, denn schließlich ist sie die einzige, die ihr perfides Spiel, die Menschheit zu versklaven und zu kontrollieren, durchschaut hat. Das Buch schließt nahtlos an den Vorgängerteil an, diese sollte man aus Verständnisgründen auch wirklich vorher gelesen haben. Auch einige bislang lose Enden finden ihre Auflösung. Mehr kann ich aber nicht wirklich über die Handlung sagen. Denn sie bringt schlicht nichts wirklich Neues oder Überraschendes. Der Schluss ist stimmig, für mich aber trotzdem unbefriedigend. Und mich beschlich das Gefühl, dass sich Dean Koontz mit dem Buch keinen Gefallen getan hat. Denn vermutlich hatten viele Leser:innen wie ich damit gerechnet, dass das Buch die Serie zum Abschluss bringt. Stattdessen kocht der Autor praktisch alles, was in den drei Teilen vorher passiert ist, noch einmal nur in anderer Besetzung neu auf. Das mag bei Eintöpfen funktionieren – bei Thrillerserien klappt das nur sehr mäßig, hier wirkt es ein bisschen wie ein Verlegenheitswerk um die Serie noch ein wenig künstlich in die Länge zu ziehen, weil sie sich gut verkauft. Allerdings macht es das Buch nicht zu einem schlechten Werk, ich hatte nur irgendwie vorher andere Erwartungen.

Sprachlich fand ich das Buch wie immer sehr gut zu lesen, es ist rasant und gut erzählt, die oft sehr langen Sätze sind gut formuliert, allerdings ist die Sprache teilweise extrem vulgär. Es gibt eine Fülle an Charakteren, die meisten davon sehr klischeehaft beschrieben, aber durchaus passend und glaubwürdig. Die Bösen (allen voran Egon Gottfrey) sind abgrundtief böse, unsympathisch, gerissen, vulgär und sadistisch. Die Guten sind clever und schlicht gut. Ich habe mich sehr über das Wiedersehen mit Luther Tillman gefreut. Mein Highlight ist aber Cornell Jasperson, der zwar auch wirklich voller autistischer Klischees steckt, mir aber sehr ans Herz gewachsen ist.

Die Geschichte wechselt zwischen Erzählungen aus der Sicht von Jane, den Arkadiern und Travis ab, somit entsteht auf eine ganz besondere Weise eine hohe Geschwindigkeit, die vor allem gegen Ende die Spannung sehr hochtreibt. Aber vieles wiederholt sich für mich ein bisschen zu oft, vor allem das „nichts ist real“ ging mir zunehmend auf die Nerven. Und ich sehe Bücher, in denen Menschen durch injizierte Nanobots versklavt werden, aufgrund der aktuellen Diskussion um angebliche Chips in Covid-Impfstoffen einfach sehr kritisch.

Sei’s drum. Es ist beileibe kein schlechtes Buch, allerdings auch kein wirklich gutes. Von mir gibt es daher 3,5 Sterne, aufgerundet auf vier. Und man darf gespannt sein, ob Teil 5 die Serie dann wirklich zum Abschluss bringen wird.

Bewertung vom 09.12.2021
Die falsche Zeugin
Slaughter, Karin

Die falsche Zeugin


ausgezeichnet

Karin Slaughters „stand-alone-Krimis“ waren für mich bislang eher Wundertüten, ich wusste vorher nie, was mich erwartet. Überraschenderweise hat der Thriller „Die falsche Zeugin“ mich, vor allem gegen Ende, wirklich begeistert. Aber von vorn.
Trotz einer Kindheit voller Gewalt und Vernachlässigung hat Leigh Collier es geschafft: sie ist eine erfolgreiche Anwältin, hat eine Tochter und ein etwas kompliziertes Verhältnis zu deren Vater – augenscheinlich führt sie ein gutbürgerliches Leben. Aber seit ihrer Jugend trägt sie ein Geheimnis mit sich herum, das plötzlich in ihrem Leben wieder extrem präsent wird, als sie die Verteidigung des mutmaßlichen Vergewaltigers Andrew übernehmen soll. Denn der ist für sie kein Unbekannter. Als Teenager waren Leigh und ihre Schwester Callie seine Babysitterinnen. Und sein Vater Buddy hat sie beide, vor allem aber Callie, bis zu seinem mysteriösen Verschwinden, missbraucht. Dadurch, dass Andrew (der als Kind Trevor hieß) wieder in ihrem Leben auftaucht, kommt eine Dynamik in Fahrt, die nicht nur Leigh in Gefahr bringt, sondern alle, die ihr wichtig sind und sie könnte weit mehr verlieren, als einen Gerichtsprozess.
Wer Karin Slaughters Thriller kennt, der weiß, worauf er sich einlässt. Derbe Sprache, extrem brutale Szenen und ein psychologisch clever gestricktes, aber kaum erträgliches düsteres Plot. Da unterscheidet sich „Die falsche Zeugin“ nicht von ihren anderen Büchern. Anders ist eigentlich nur, dass das Buch genau datiert ist, denn das Buch spielt 1998 und 2021, letzteres ist ganz klar an den Corona-Anspielungen zu erkennen. Masken, Desinfektionsmittel und social distancing sind sehr dominante Themen. Auch Coronaleugner-Geschwurbel („»Reiner Blödsinn.« Phil riss die Packung mit den Zähnen auf. »Ich hab noch nie jemanden getroffen, der daran gestorben ist.«“) fehlen ebenso wenig wie „Absolventen der Juristischen Fakultät Twitter“.
Sehr unterschiedliche Schwestern sind wohl ein Lieblingsthema von Karin Slaughter. Die kennt man beispielsweise aus „Die gute Tochter“ der „Grant County Serie“. Und auch in „Die falsche Zeugin“ sind die beiden Schwestern sehr verschieden, haben aber beide abgesehen von ihrer Vergangenheit auch andere Gemeinsamkeiten. Komplex sind die Charaktere im Buch allerdings wieder alle, wenn auch ab und zu sehr klischeehaft. Sympathisch sind nur die „Guten“, die „Bösen“ sind abgrundtief böse und verstecken ihre unsympathische Art hinter hübschen Gesichtern. Bezüglich der Charaktere fand ich vor allem die Beschreibung der drogensüchtigen Callie angenehm wertfrei und gelungen. Mein Lieblingscharakter ist allerdings der demente Tierarzt Dr. Jerry, bei dem Callie als Aushilfe arbeitet.
Karin Slaughters Stil ist trotz manchmal fragmentierter Sätze flüssig zu lesen, Fäkalsprache und derbe Schimpfwörter dürfen einen allerdings nicht stören. Der Spannungsbogen der Geschichte kam mir wie eine wilde Achterbahnfahrt mit ungewissem Ziel vor, die vor allem gegen Ende immer schneller wurde. Der Schluss war für mich eine Überraschung und rührte mich unerwartet. Die Übersetzung ist gelungen, die schonungslos brutale Sprache von Karin Slaughter ist sehr gut getroffen. Natürlich ist das Buch, wie von Karin Slaughter gewohnt, nichts für schwache Nerven und sensible Mägen. Gewollt oder nicht, wirft die Autorin für mich auch die ethisch-moralische Frage auf: wie weit würde ICH gehen, um die zu schützen, die mir lieb und teuer sind? Die Frage hallte auch noch nach dem Zuklappen des Buchs nach. Auch die psychologische Komponente der Namenswechsel fand ich spannend, denn alle Personen scheinen sich neu erfunden zu haben (oder es zumindest versucht zu haben): aus Trevor wurde Andrew, aus Calliope wird Callie, aus Harleigh Leigh und ihre Mutter Sandra nennt sich Phil. Und dennoch mussten alle feststellen, dass das ihre Vergangenheit nicht tilgen kann.
Mich hat das Buch wirklich überrascht und begeistert, ein echtes Highlight für Slaughter-Fans. Daher vergebe ich selbstverständlich fünf Stern

Bewertung vom 06.12.2021
Die andere Tochter (eBook, ePUB)
Golch, Dinah Marte

Die andere Tochter (eBook, ePUB)


gut

Was ich zu Dinah Marte Golchs Buch „Die andere Tochter“ ganz klar sagen kann ist, dass mich das Buch überrascht hat, vor allem der Schluss kam für mich völlig unerwartet. So ganz begeistert hat es mich, trotz der enormen Spannung gegen Schluss, dennoch nicht. Stellenweise fand ich die Lektüre sogar eher mühsam.
Aber von vorn.
Durch einen Arbeitsunfall, bei dem ihre Augen verätzt werden, verliert Antonia mit knapp 40 Jahren fast ihr Augenlicht. Ein Hornhaut-Transplantat rettet ihre Sehfähigkeit, aber nach der Operation ist Toni nicht mehr die alte. Sie hat verstörende Flashbacks aus Erinnerungen, die nicht ihre eigenen zu sein scheinen. Sie beschließt, die Familie der Spenderin kennenzulernen und öffnet damit die Büchse der Pandora. Denn nicht nur ihre eigenen Familienverhältnisse sind kompliziert. Auch die Familie der Spenderin hat Geheimnisse und irgendwie scheint die verstorbene Spenderin mit ihr in Kontakt zu treten.
Die Idee, die hinter dem Buch steckt, finde ich hervorragend. Aber es ist nicht nur eine einzige Idee, es ist eine Vielzahl davon und dadurch wirkte das Buch für mich ein bisschen sehr vollgepackt. Transplantation und die daraus resultierenden möglichen psychischen Probleme (Schuldgefühle, Gefühle von Dissoziation und Derealisation, Flashbacks), Probleme mit der Mutter, Alkoholismus des Vaters, Nazi-Raubkunst, Zweiter Weltkrieg und diverse Traumata – alles in einem Buch verpackt fand ich dann doch zu viel des Guten. Ab und an verrennt sich die Autorin meiner Ansicht nach ein bisschen in Klischees und Pauschalisierungen, vor allem bei der kurzen Ausführung zur Borderline-Störung. Und auch die esoterischen Ansätze kann ich nicht wirklich teilen. Zwar gelten die Augen als Spiegel der Seele, aber der schamanistische Ansatz der Seelenwanderung bei Hornhautverpflanzungen ist für mich schwierig. Die Augenhornhaut ist in der Hauptsache ein nicht durchblutetes Stück Gewebe, weshalb es für mich schwierig nachzuvollziehen ist, wieso sich Toni so sehr mit der Spenderin verbunden fühlt. Bei einem Herzen, einer Leber oder einer Niere hätte ich ihre (Re)Aktionen wohl eher verstanden.
So fand ich den Charakter der Protagonistin eher anstrengend und ihre Gedankengänge manchmal wirklich wirr. Allerdings fand ich keinen der Charaktere im Buch wirklich sympathisch, alle haben ihr Päckchen zu tragen, es wird viel gelogen und betrogen, die einen ziehen Strippen, die anderen sind die Marionetten – alles in allem ist es ein perfides Spiel, das wirklich erst gegen Ende seine für mich völlig überraschende Auflösung findet.
Den Stil der Autorin hingegen fand ich sehr angenehm und die Erzählung der Geschichte in zwei Zeitebenen UND aus zwei Perspektiven fand ich einen sehr gelungenen Kniff und das Zusammenlaufen der beiden Stränge am Ende fand ich absolut stimmig. So wird der eine Erzählstrang von Toni aus der Ich-Perspektive erzählt, der andere aus Sicht eines Erzähler.
Eigentlich hätte mich das Buch wirklich abholen müssen: toxische Eltern-Kind-Beziehungen, Traumata, Organspenden, Identitätskrisen und die Suche nach sich selbst – das sind genau meine Themen. Und dennoch lässt das Buch mich ziemlich enttäuscht zurück. Denn manchmal schien es mir bei der Lektüre, als habe die Autorin einfach zu viel gewollt und daher viel zu viel in das Buch gepackt. Bei der Dichte und Fülle der Themen hätte sie locker zwei, wenn nicht sogar drei Bücher daraus machen können. Das wirklich wichtige Thema Organspenden wird mir zu sehr auf die esoterische Komponente reduziert, als wirklich auf die tatsächlich möglichen psychischen Folgen einzugehen. Insgesamt wäre da wirklich mehr drin gewesen und daher vergebe ich für die gute Idee und den tollen Schreibstil der Autorin drei Sterne.

Bewertung vom 01.12.2021
Falladas letzte Liebe
Töteberg, Michael

Falladas letzte Liebe


ausgezeichnet

Meine ersten Erfahrungen mit „Erwachsenenliteratur“ sind untrennbar mit Hans Fallada verknüpft. „Kleiner Mann, was nun“ war der erste seiner Romane, die ich als junger Mensch gelesen habe. Daher war es für mich nach der Lektüre von „Meine lieben jungen Freunde: Briefe an die Kinder“ klar, dass ich auch Michael Tötebergs Buch „Falladas letzte Liebe“ unbedingt lesen wollte. Der Autor ist Fallada-Fachmann, das Buch aber keine Biografie, sondern vielmehr eine dokumentarische Erzählung über die letzten Lebensjahre des Autors. Herausgekommen ist für mich ein enorm lesenswertes Buch über den Schriftsteller, basierend auf seinen Werken, Briefen oder anderen Zeugnissen, bei denen sich der Autor nach eigenen Aussagen „eng an die überlieferten Dokumente gehalten, sich jedoch die Freiheit genommen, Dinge zusammenzuziehen und die Chronologie leicht zu verändern.“ Einerseits ist Falladas Geschichte nach 1945 eine Nachkriegsgeschichte wie viele andere, voller Not, Probleme mit der russischen Besatzung und Unsicherheit. Andererseits ist sie natürlich sehr besonders, denn nichts in Falladas Leben scheint „gewöhnlich“ gewesen zu sein.
Die letzten Lebensjahre teilte Hans Fallada nach der („ekligen“) Scheidung von seiner zweiten Frau Anne Issel (von ihm Suse genannt) 1944 mit seiner 28 Jahre jüngeren Ehefrau Ulla Losch. Nichts in Falladas Leben war einfach, so auch diese letzte Ehe nicht. Nach 20 rauschgiftfreien Jahren kommt er durch Ulla an Morphium und beide rutschen schnell tief in die Sucht, aus der sie sich auch durch zahlreiche Entziehungskuren nicht befreien können. So liebevoll die Beziehung zwischen den beiden gewesen sein mag – für Fallada begann damit wohl endgültig der Anfang vom Ende („Ulla war sein Glück, aber – das ahnte er von Anfang an – auch sein Unglück“) und eine Spirale aus Drogen, Entzug, Euphorie, Alkohol, Todessehnsucht, finanziellen Problemen („Ulla war groß im Geldausgeben.“, was zuletzt zu zigtausend Mark Schulden führte), Schaffensperioden, Schaffenskrisen, Entzug und immer wieder Rückfällen in die Sucht. Dazu Streitigkeiten mit der ex-Frau und Probleme mit der russischen Besatzung (er musste als Bürgermeister in Feldberg fungieren, ein Amt, das er hasste und dessen Ausübung ihn bis zum Zusammenbruch quälte). Da er während der Zeit des Nationalsozialismus als reiner Unterhaltungsschriftsteller sehr erfolgreich war, hatte er zudem große Schwierigkeiten, einen Verlag zu finden („Sein Ruf in der literarischen Welt als anerkannter Schriftsteller war ruiniert, die Verhältnisse hatten ihn zu einem Produzenten von Schundliteratur gemacht.“). Aber er musste ja auch erst einmal etwas Verlegenswertes zu Papier bringen. Einen Verlag fand er dann, nachdem er Johannes Bechers Kulturbund beigetreten war („Becher glaubte an den Autor Fallada. Mehr als dieser an sich selbst. Das tat gut.“)
Michael Töteberg schildert den äußeren Kampf Falladas (um seine Gesundheit, sein Leben, gegen die Bürokratie) und die inneren Kämpfe (gegen Alpträume, Todessehnsucht und Schreibblockaden), für einen neuen, letzten großen Fallada-Roman packend und berührend. Denn der Leser weiß ja, wie Falladas Leben endete – und trotzdem machte es mich beim Lesen betroffen und traurig, dass er die Veröffentlichung seines letzten großen Wurfs „Jeder stirbt für sich allein“ nicht mehr erlebt hat. Der Wettlauf gegen Deadlines für Veröffentlichungen und die ständige Jagd nach Morphium, zusammen mit Ausrastern der „gequälten Künstlerseele“, machten das Buch für mich stellenweise sogar spannend zu lesen. Dazu einerseits Fallada als Kindernarr und Familienmensch und auf der anderen Seite eine eher vergnügungssüchtige junge Ehefrau, die sich dem Vernehmen nach eher aufführte wie eine weitere Tochter – ja, das Buch brachte mir Hans Fallada näher. Einen zwiespältigen, zerrissenen Menschen, getrieben von Sucht und Sehnsucht.
Daher vergebe ich für dieses äußerst gelungene Buch fünf Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.11.2021
Der Silberfuchs meiner Mutter
Hotschnig, Alois

Der Silberfuchs meiner Mutter


sehr gut

„Der Silberfuchs meiner Mutter“ von Alois Hotschnig ist in vielerlei Hinsicht kein einfaches Buch. Nein vielmehr ist die Lebensgeschichte von Heinz, dem in Österreich geborenen Sohn einer norwegischen Mutter und eines Wehrmachtsoldaten, wirklich schwere Kost und der für mich sehr sperrige Stil des Autors machte mir das Buch auch nicht zugänglicher. Die Grundlage für das Buch bildet das Leben des Schauspielers Heinz Fitz (der Protagonist heißt Heinz Fritz), allerdings sagte mir auch der Name nichts, ich bin bei österreichischen Mimen nicht besonders bewandert. Und ich gestehe, auch Alois Hotschnig war mir bis dato unbekannt.
Die Norwegerin Gerd Hörvold lernte als Krankenschwester den verletzten Soldaten Anton Halbleben kennen und lieben. Sie verloben sich, Gerd wird schwanger. In Norwegen kann sie nicht bleiben, dort ist sie als Liebschaft eines feindlichen Soldaten nicht sicher. Also reist sie mit einem Silberfuchs um den Hals, der ihr von ihrem Verlobten als Pfand gegeben wurde, von Kirkenes in Nord-Ost-Norwegen, heim ins Reich“. Die Hoffnung, dem ungeborenen Kind im vorarlbergischen Hohenems eine Familie bieten zu können, zerschlägt sich, aus Heirat und Familie wird nichts, wie schon in Norwegen stößt Gerd auf Ablehnung, bis zum Schluss wird sie in Österreich „die Norwegerin“ bleiben.
Als Heinz 1942 geboren wird, landet er erst in einem Lebensbornheim, dann in einer Pflegefamilie. 1946 findet seine Mutter ihn durch das Rote Kreuz wieder. Sie heiratet, Heinz bekommt einen Stiefvater, der ihn ablehnt und mit dem er nur den Nachnamen Fritz gemeinsam hat. Allenfalls wenn es darum ging, ihm beim Schlachten zu helfen, da war der Junge dem Mann der Mutter gut genug. Mit 16 Jahren sucht er Kontakt zu seinem leiblichen Vater, der ihn aber ebenfalls ablehnt. Er behauptet sogar, Heinz sei nicht sein Sohn, sondern der eines ertrunkenen Russen. Und selbst die Mutter glaubt, er sei im Heim vertauscht worden. Obwohl die beiden mit der Liebe zum Schauspiel etwas gemeinsam haben, ist die Mutter nicht immer gut zu ihrem Sohn, so streut sie ihm unerklärlicherweise Putzmittel über sein Essen.
So verbringt Heinz lange Jahre seines Lebens mit der Suche nach seiner Identität und seinen Wurzeln. Die unter epileptischen Anfällen leidende Mutter ist ihm bei den Nachforschungen keine Hilfe, „wann immer ich nach ihm fragte, kam wieder ein Anfall, und so habe ich nicht mehr gefragt. Den einzigen Halt findet Heinz im Schauspiel, anfangs weil er die Anfälle der Mutter erschreckend realistisch nachspielen kann. Mit 60 Jahren wagt er einen neuen Anlauf, seinen leiblichen Vater kennenzulernen und dann kommt plötzlich: „Du darfst Vater zu mir sagen“.
Eine Biografie oder gar Autobiografie ist das Buch nicht, obwohl es manchmal durch die Erzählung aus der Ich-Perspektive den Anschein erwecken mag. Es ist ein teils fiktiver Roman auf Basis einer realen Lebensgeschichte. Und die lässt sich schon allein durch den teils fragmentierten Erzählstil nicht einfach so „weglesen“. Dabei passt der Stil eigentlich sehr gut zu den Puzzleteilen, aus denen sich der Protagonist sein Leben zusammenbaut. Auf mich wirkte er aber eher sperrig und leserunfreundlich. Dazu die Ablehnung und Gewalt, die Heinz erleben muss und den Verlust seiner Identität, die er später mühsam wieder zusammensetzen muss – nein, das Buch ist keine leichte Lektüre. Mit dem Stil tat ich mich schon schwer, mit dem Inhalt aber noch mehr, vor allem mit dem, was sich an Gewalt und Kriegstraumata zwischen den Zeilen herauslesen lässt.
Für die Geschichte über einen, der im eigenen Leben fremd zu sein scheint, von mir wegen des für mich schwierigen fragmentierten Mololog-Stils und der teilweise diffus-vagen Andeutungen vier Sterne.

Bewertung vom 18.11.2021
Die Leuchtturmwärter
Stonex, Emma

Die Leuchtturmwärter


ausgezeichnet

Seit einem Urlaub in Irland und den Erzählungen über die Küste von Bray, üben Leuchttürme einen speziellen Zauber auf mich aus. Daher habe ich mich auf das Buch „Die Leuchtturmwärter“ von Emma Stonex sehr gefreut. Auf einem wahren historischen Hintergrund hat die Autorin eine fiktive Geschichte konstruiert, die Ihresgleichen sucht. Die Idee hinter dem Buch ganz fabelhaft, noch dazu fand ich den Stil der Autorin ganz zauberhaft. Ein paar Abstriche musste ich beim Lesen machen, aber alles in allem fand ich das Buch außergewöhnlich und eine äußerst lohnenswerte Lektüre, bis auf den Schluss, denn den braucht in der Form wirklich niemand.
Aber von vorn.
Im Dezember 1900 verschwanden drei Wärter von einem abgelegenen Leuchtturm auf der Insel Eilean Mòr. Diese historische Tatsache hat die Autorin ihrer Geschichte zugrunde gelegt, die sie aber ins Jahr 1972, beziehungsweise 1992 und von den Äußeren Hebriden ins südenglische Cornwall verlegt. Was bleibt ist aber, dass Arthur Black, William „Bill“ Walker und Vincent Bourne spurlos verschwunden sind und der Leuchtturm auf dem Maiden Rock von innen abgeschlossen ist. 1992 greift der Thriller-Autor Dan Sharp den Fall wieder auf und recherchiert im Umfeld der drei verschwundenen Männer und interviewt dabei ihre zurückgebliebenen Frauen/Freundinnen Helen, Jenny und Michelle. Und nach und nach setzt sich ein Puzzle zusammen, das die Leserschaft in seinen Bann zieht. Und tatsächlich ist das Verschwinden der drei Männer nicht das einzige Geheimnis, das im Lauf der Geschichte ans Tageslicht kommt.
Und so wird aus dem sehr gemächlich beginnenden Roman nach und nach ein unterschwellig spannendes Psychogramm mit sechs äußerst unterschiedlichen und vielschichtigen Charakteren. Jeder einzelne hat sein Päckchen zu tragen und in der Mitte stehen das Meer und der Leuchtturm als feste, reichlich unbeteiligte Größen. Ganz so, als wüssten sie, dass sie am Schluss immer noch da sein werden, egal, was passiert. Zugegeben, ich tat mich anfangs etwas schwer, Zugang zu dem Buch zu finden. Aber dann zogen mich vor allem die Teile in den Bann, in denen aus der Sicht der Männer auf dem Leuchtturm erzählt wird. Klaustrophobische Enge und Einsamkeit, das Aufeinanderprallen der Charaktere und die Macht des Meeres – hier schafft die Autorin eine mystische, packend dichte und sehr düstere Atmosphäre, die Ihresgleichen sucht. Die sich langsam entwickelnde Toxizität zwischen den Männern und der aufkommende Lagerkoller bauen eine bedrohliche Stimmung und eine latente Spannung auf, ohne dass die Geschichte tatsächlich spannend ist, denn die Leserschaft weiß: irgendwann wird irgendetwas passieren. Die Kapitel aus der Sicht der Frauen fand ich dagegen eher platt und fast langweilig. Aber auch sie haben ihre Daseinsberechtigung, denn obwohl die drei auf dem Turm nicht dabei waren, so sind sie an allem, was passiert, nicht unbeteiligt.
Das Konzept des Buchs finde ich wirklich gelungen. Es wird nicht nur aus verschiedenen Perspektiven, sondern auch auf zwei Zeitebenen erzählt. Die Sprache der Autorin ist bildgewaltig, fast poetisch, hier hat auch die Übersetzerin hervorragende Arbeit geleistet. Ich konnte sehr gut damit leben, dass die Charaktere allesamt etwas klischeehaft waren (Traumata, schwere Jugend, unglückliche Beziehung), aber den Schluss fand ich einfach nur enttäuschend. Den hat das Buch eigentlich nicht verdient. Formal kam er für mich nach so vielen so intensiv erzählten Geschichten zu überstürzt, er wirkte auf mich fast wie eine kalte Dusche, die mich aus der Geschichte herausriss, in die ich versunken war. Außerdem fand ich ihn inhaltlich absolut enttäuschend. Zumal das Verschwinden der Männer auf dem „echten“ Leuchtturm ja bis heute nicht geklärt wurde. Da hätte dem Buch ein offenes Ende gut getan, ich wurde das Gefühl nicht los, die Autorin wollte das Thema „abhaken“ und dem Publikum eine Lösung bieten.
Trotzdem fand ich das Buch ganz hervorragend und vergebe 4,5 Sterne, aufgerundet auf 5.

Bewertung vom 09.11.2021
SØG. Dunkel liegt die See / Nina Portland Bd.1
Jensen, Jens Henrik

SØG. Dunkel liegt die See / Nina Portland Bd.1


sehr gut

Jens Henrik Jensens Dänemark-Thriller „SØG. Dunkel liegt die See“ ist der Auftakt zur Trilogie rund um die Ermittlerin Nina Portland. Obwohl der Autor durch seine Bestseller-Serie um den Kriegsveteranen Niels Oxen Bekanntheit erlangt hat, war er mir bislang unbekannt. Allerdings ist die Portland-Serie nicht wirklich ganz neu, der vorliegende erste Teil erschien im Original bereits 2005 und wurde jetzt als überarbeitete Fassung neu aufgelegt.
Aber von vorn. 1993 kamen auf dem Frachtschiff „MS Ursula“ alle fünf Besatzungsmitglieder ums Leben, der einzige Überlebende war natürlich Tatverdächtiger Nummer eins. Allerdings wurde er freigesprochen. Nina Portland hat der Fall um das „Axtschiff“ nie ganz losgelassen, jetzt, zehn Jahre später ermittelt sie in dem Cold Case auf eigene Faust erneut und gerät in einen Strudel der Ereignisse, mit dem sie ganz sicher nicht gerechnet hat. Und die Morde auf der „Ursula“ sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Ermittlungen führen die engagierte Polizistin nach Tallin/Estland und London und wieder zurück ins dänische Esbjerg und er wird sehr schnell sehr viel persönlicher, als sie es sich hätte träumen lassen. Für die Leserschaft wird das Buch allerdings aufgrund der hohen Dichte, des flotten Tempos und der Vielzahl an Informationen zwar enorm spannend, aber auch, vor allem gegen Ende, leicht unübersichtlich. Denn Nina ist nicht nur auf der Suche nach der Lösung im Fall der getöteten Seeleute, sondern auch auf der Suche nach dem Vater ihres Sohnes Jonas und sehr schnell auch auf der Flucht vor Kriminellen und ausländischen Geheimdiensten.
Sprachlich ist das Buch sehr gut und flott zu lesen. Konzeptionell fand ich, dass das Buch anfangs etwas schleppend in Fahrt kommt, im Verlauf allerdings sehr viel besser und vor allem spannender wird, aber auch enorm komplex. Die Fiktion basiert auf einer realen Begebenheit. Auf dem Schiff „MS Bärbel“ kamen tatsächlich fünf Männer zu Tode und ein Täter wurde nie verurteilt. Im Buch wirkt die Geschichte zunehmend so hektisch und getrieben, wie die Protagonistin. Bei der Beschreibung konzentriert sich der Autor hauptsächlich auch auf sie, obwohl er jedem der Charaktere gewisse Eigenschaften und Eigenarten „mitgibt“. Nina steht aber eindeutig als engagierte und zielstrebige Ermittlerin im Mittelpunkt, sie ist aber auch jemand mit einem gewissen Tunnelblick: für das Erreichen ihrer Ziele zählt für sie nichts anderes mehr. Durch ihre Verbissenheit vernachlässigt sie ihren Sohn, ihre Familie und auch ihren eigentlichen Job. Dennoch nimmt Ninas Privatleben einen großen Teil des Buchs ein, Begegnungen mit Nachbarn, ihrem Vater und ihrem Freund sind zwar nett zu lesen, machen aber aus der eigentlich konstanten Spannungskurve eher eine Sinuskurve mit sehr vielen Aufs und Abs.
Insgesamt hat mich das Buch zwar hervorragend unterhalten, aber mit Nina Portland als Person konnte ich mich absolut nicht anfreunden. Natürlich ist ihr Ehrgeiz und ihre Ermittlungsarbeit bewundernswert und ihre Ziele ehrenwert, aber insgesamt bleibt bei ihren Alleingängen eine Menge auf der Strecke und nicht nur ihr Job ist ständig in Gefahr, sondern auch ihr Leben. Während sie ihren eher privaten Feldzug führt, „parkt“ sie ihren Sohn Jonas immer wieder für längere Zeit bei ihrer Familie und ihre Kollegen müssen dauernd für sie einspringen. Daher ist das Buch für mich ein toller, komplexer und spannender Thriller mit einer ebenso komplexen und komplizierten, wie auch unsympathischen Ermittlerin. Trotzdem ist es ein Buch, das mir Lust auf mehr machte, ich lese jetzt die beiden anderen Teile der Trilogie auf Dänisch. Von mir von Herzen vier Sterne.

Bewertung vom 08.11.2021
Franz
Pettinger, Jürgen

Franz


ausgezeichnet

Franz Doms wurde als Homosexueller ein Opfer des Nationalsozialismus, denn er wurde 1944 mit 21 Jahren in Wien hingerichtet. Jürgen Pettinger hat seine Geschichte im gleichnamigen Buch aufgeschrieben, teils fiktiv, teils aber auf authentischen Protokollen und Aussagen fußend. Herausgekommen ist ein einfühlsames Buch, das betroffen und nachdenklich macht. Der Autor schafft damit ein Denkmal, nicht nur für den Protagonisten, sondern stellvertretend für alle „vergessenen Opfer des Nationalsozialismus“.
Das Buch ist für die Leserschaft keine leichte Kost. Der Tod des Protagonisten ist stets präsent, auch wenn sein Leben eigentlich das Thema ist. Die immer wieder eingeflochtenen und in einer anderen Schriftart gesetzten Auszüge aus Vernehmungen und Akten, lassen das Publikum eines nie vergessen: am Ende der Geschichte steht sein Tod. Bis dahin ist das Buch aber die kurze Biografie eines eher unangepassten jungen Mannes. Als einziger in der Familie ging er nach dem Volksschul-Abschluss zur Handelsschule, lernte Kurzschrift und Maschineschreiben. Aber glücklich wurde er damit nicht, irgendwie scheint er das schwarze Schaf in der Familie gewesen zu sein. Sein älterer Bruder interessiert sich nicht wirklich für ihn, aber seine Schwester Josefine kümmert und sorgt sich um ihn, denn der gutaussehende junge Mann pflegt einen Lebensstil, den er sich als ungelernter Bürodiener eigentlich nicht leisten kann. Schnell gibt es in der Nachbarschaft Gerüchte und Gerede, vor allem auch, weil er oft betrunken ist und sich dann lautstark mit seiner Schwester streitet. Aber ihm ist es lieber, dass er für einen Gauner gehalten wird, als für einen „Warmen“, denn tatsächlich waren die Zeiten für Homosexuelle oft gefährlicher als für Kleinkriminelle.
Sprachlich ist das Buch eher schlicht und manchmal mit ganz klar österreichischem Zungenschlag geschrieben. Und dennoch schafft der Autor es, mit seinen einfachen Worten eine packende, tragische, berührende und auch wütend und betroffen machende Geschichte zu erzählen. Über die Suche nach Liebe, Zuneigung und den Platz im Leben, über die Sorge einer Schwester um ihren Bruder, über Gefahren durch Denunzianten und falsche Freunde, Polizeibrutalität und das Leben als Außenseiter in einem Unrechtsstaat. Auch die eher unrühmliche Rolle der Kirche wird am Rande angesprochen.
Die Charaktere sind vom Autor gut und gründlich ausgearbeitet, da das Buch bis auf die Verhörprotokolle aus den verschiedenen Strafverfahren gegen Franz Doms fiktional ist. Aber das „so hätte es sein können“, macht aus dem Buch ein gleichermaßen bedrückendes wie berührendes Werk. Besonders Franz beschreibt der Autor meiner Meinung nach fast liebevoll-freundschaftlich, als hätte er ihn wirklich gekannt. Er schildert ihn als unangepassten, manchmal sehr naiven junger Mann mit Flausen und dem Traum der großen Liebe im Kopf, aber immer loyal und bis zum Schluss eher um andere besorgt, als um sich selbst.
Angesichts der aktuellen politischen Lage in Europa macht dieses Buch traurig und betroffen – und es macht mir persönlich Angst vor dem, was auf die Menschen hier, und nicht zuletzt auf mich selbst, zukommen mag. Daher empfehle ich dieses Buch nicht nur von ganzem Herzen, ich fordere jeden auf, es unbedingt zu lesen und daraus zu lernen. Fünf Sterne.