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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 143 Bewertungen
Bewertung vom 21.10.2024
Falsche Masken
Prammer, Theresa

Falsche Masken


sehr gut

Spannend, unterhaltsam, zum Miträtseln bis zur letzten Seite – ein gekonnter Krimi, der seine Leser in Atem halten kann.
Der dritte Band um das Ermittlerteam Edgar Brehm, dem älteren Privatdetektiv und Toni Lorenz, der jungen Schauspielschülerin, kann seinen beiden Vorgängern durchaus das Wasser reichen und wieder einmal führt uns ein Mordfall an das Theater und ans Fernseh-Set, wo unter Stars und Sternchen, strengen Lehrerinnen, Liebespaaren, Theaterbegeisterten, Talentierten und Sehnsuchtsvollen im Mordfall an dem berühmten Manager Erich Didier ermittelt wird. Besonders pikant ist, dass die Tat vor laufender Kamera von seiner Frau Julia, selbst ein berühmter Star, gestanden wird. Aber ganz so einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint, ist es natürlich nicht, denn Julia wird kurz später selbst Opfer eines ominösen Unfalls und kann nicht mehr befragt werden.
Die österreichische Autorin Theresa Prammer, selbst Schauspielerin und mittlerweile Verfasserin mehrerer Kriminalromane, führt uns in das ihr bestens bekannte Milieu ein und schildert glaubhaft und authentisch die schillernde, ehrgeizige Szene. Es geht um Erfolge in vielen Bereichen, im Beruf, in der Liebe, um Erfüllung eigener Träume und Sehnsüchte, um Glück und die große Liebe, aber auch um Erpressung, Versagensängste, Neurosen, Eifersucht und Missgunst.
Der Mordfall fesselt gleich zu Beginn, aber zwischenzeitlich verheddern sich die beiden sympathischen Ermittler in ihren Überlegungen und ihren eigenen komplexen Gefühlen.
Spannend, actionreich, kurzweilig und äußerst unterhaltsam fiebert der Leser mit, wird teilweise in vielen verschiedenen und z. T. abstrusen Überlegungen einbezogen, verliert ab und zu den roten Faden, um dann aber wieder am Geschehen anzuknüpfen und weiterrätseln zu können. Ein gelungener Wien-Krimi, bei dem besonders das charmante Ermittlerteam, dem man weiterhin das Beste wünscht, unterhält. Alles Gute auf dem Weg zur großen Liebe und bei weiteren spektakulären Mordfällen!

Bewertung vom 18.10.2024
Das Wohlbefinden
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


sehr gut

„Das Wohlbefinden“ von Ulla Lenz steht auf der Longlist für den deutschen Buchpreis 2024 – eigentlich eine Empfehlung für den Roman, eins der besten Bücher im deutschsprachigen Raum innerhalb der letzten 12 Monate zu sein. Nun ja, was halte ich davon? Eine interessante Lektüre, die sich flüssig liest, am Anfang vieles verspricht, mich fesselt, meine Neugierde beflügelt, aber im Laufe der Geschichte lässt mein Interesse doch nach und am Ende bin ich ratlos und hätte mir doch mehr Klarheit und eine Lösung erhofft.
Ulla Lenz beschreibt eine Rahmenhandlung, typisches Setting in der Großstadt Berlin 2020: Vanessa, eine Frau mittleren Alters, sucht eine Wohnung, die bezahlbar und für sie attraktiv ist, typisches Unding der Gegenwart. Eine zweite Handlungsebene ploppt auf, 1914 in Berlin Beelitz, eine Lungenheilanstalt, in der Arbeiterinnen von ihrer Krankheit durch eine gute körperliche Behandlung, reichliche Mahlzeiten, Bäder, Dampfkuren, Gymnastik etc., durch Wohlbefinden im Allgemeinen, geheilt werden sollen. Die Seelen sollen zu ihrem inneren Gleichgewicht zurückfinden und erwachen, das Abschütteln der Welt als Ziel. Ein wunderbarer und moderner Therapieansatz, ein Ort der Erholung wird erschaffen, über den sich die Fachleute allerdings streiten. Über diese Heilanstalt will Johanna Schellmann, Schriftstellerin, Tochter aus reichem Haus und zugleich Urgroßmutter von Vanessa, schreiben. Die dritte wichtige Frauenfigur und vielleicht auch die interessanteste und undurchschaubarste ist die einfache Arbeiterin Anna Berger, die anscheinend spirituelle Fähigkeiten besitzt, immer wieder Unglaubliches und Übernatürliches sieht und vorhersagt und im Auftrag Gottes unterwegs ist.
Nun ja, die Schicksale dieser drei Frauengestalten werden miteinander verwoben, ein Manuskript der Großmutter taucht in der Gegenwart auf und ist das Bindeglied zwischen den Zeitebenen. Man erfährt von Problemen, neue Figuren tauchen auf, es entsteht Zwietracht, Neid, Habgier, Eifersucht, aber auch Liebe, Transzendenz, Spiritualität, Heilung, Glaube – innerhalb und außerhalb der Familie. Weitere Themen sind die Emanzipation, für die Johanna zu kämpfen scheint, das Ringen um die Literatur, um passende Worte und die echten Empfindungen, um Erfolge und Fortschritt im medizinischen Bereich, um das Streben nach Wahrheit.
Die verschiedenen Ebenen werden nicht paritätisch behandelt, so bleiben die Gegenwart und ihre Charaktere doch seltsam blass und eher konturlos, dafür ist die Handlung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ihre Figuren weitaus vielschichtiger und interessanter, mit Anspielungen an C. G. Jung, Traumdeutung, einer Offenheit für psychologische oder sogar parapsychologische Phänomene, Geisterglaube und spiritistische Zusammenkünfte.
Der Roman liest sich flüssig und unterhält, aber kann sein volles Potenzial leider nicht entfalten. Fragen bleiben offen, Situationen werden nicht geklärt, zu vieles bleibt unklar, weshalb sich meine abschließende Stimmung des Wohlbefindens leider schnell verflüchtigt hat und der Wunsch nach Aufklärung der mysteriösen Andeutungen überwiegt.

Bewertung vom 22.09.2024
Vielleicht können wir glücklich sein
Hennig von Lange, Alexa

Vielleicht können wir glücklich sein


sehr gut

Inspiriert durch die knapp 150 Kassetten, die ihre blinde, 90-jährige Großmutter am Ende ihres Lebens über ihr gesamtes Leben besprochen hat, verfasste Alexa Hennig von Lange die drei Bände der Heimkehr-Trilogie.
Die Autorin berichtet in einem Interview, dass die Großmutter ihre Lebenserinnerungen detailliert beschreibt, die Jahre ihrer Kindheit in der Kaiserzeit, die Weimarer Republik, die Weltwirtschaftskrise, den Beginn des zweiten Weltkriegs, den Krieg, die Nachkriegszeit, die Flucht in den Westen und den Aufbau ihres neuen Lebens in der Bundesrepublik. Was für ein Schatz, aus erster Hand Zugang zu diesem langen Leben voller Erfahrungen, Erinnerungen, Träumen und Wünschen zu bekommen und was für eine unglaubliche Möglichkeit als Enkelin und Autorin in dieses Leben einzutauchen und die Inhalte zu verwenden.
Sicherlich wäre die tatsächliche Veröffentlichung von Ausschnitten der Aufnahmen der Großmutter ein Geschenk und ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Zeit, O-Töne aus der Vergangenheit aus dem Blickwinkel einer klugen und reflektierenden Frau – was für eine grandiose Vorstellung!
Nichtsdestotrotz, aus diesen Audios jedenfalls verfasst Hennig von Lange die Heimkehr-Trilogie, einen Roman in drei Teilen, eine Fiktionalisierung der Lebensgeschichte einer Frau, Mutter, Geliebten, Heimleiterin, keine Biografie der Großmutter.
Im Zentrum steht Klara, eine junge Hauswirtschafterin, die in einem Kindererholungsheim kranke Mädchen aus schwierigen Verhältnissen betreut und ein jüdisches Waisenkind, Tolla, vorerst rettet und es als ihre eigene Tochter ausgibt. Die Zeit schreitet voran, von den späten 1920-ern des ersten Bandes befinden wir uns nun, im dritten Band „Vielleicht können wir glücklich sein“ in den 1940-ern des zweiten Weltkriegs.
Klara hat mittlerweile vier eigene Kinder, ihr Mann kämpft an der Front und sie tut alles, um für die Kinder da zu sein und ihr Leben den Umständen entsprechend glücklich zu gestalten. Aber Schuldgefühle bezüglich Tolla, die sie weggeben hat, verfolgen sie und sie muss mit ihrer persönlichen Geschichte, ihrer Schuld, ihren verlorenen Träumen und Hoffnungen leben.
Auf der zweiten Zeitebene erleben wir die Enkelin Isabell, mittlerweile selbst Mutter, die sich die Tonbandkassetten ihrer Großmutter anhört und mit ihnen auseinandersetzt, sich dabei der unbekannten und strengen Frau weiter annähert, sie zu verstehen sucht. Sie hinterfragt ihre eigene Abstammung, taucht in die Vergangenheit ein und verbindet sich mit ihrer Großmutter und deren Geschichte emotional.
Es geht in dieser Trilogie um eine Annäherung an die Zeit des Nationalsozialismus‘ und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen, Folgen und unterschiedliche Reaktionen, das große Schweigen über die Schrecken des Krieges und die eigene Beteiligung oder sogar Schuld, das Unverständnis der Nachgeborenen. Die Generation der Enkelin nähert sich hierbei der Großmutter an und aus Distanz und Unverständnis erwächst langsam eine Nähe, ein Verständnis und eine Auseinandersetzung mit den Schrecken, die keiner wirklich nachvollziehen kann, der diese Zeit nicht selbst erlebt hat.
Verstrickungen mit dem politischen System werden deutlich und es geht immer wieder um den inneren Zwiespalt, wie sich ein Mensch in einer besonderen Situation entscheidet, verhält und wie er auch über sich selbst in Ausnahmesituationen hinauswachsen kann.
Eine Leseempfehlung besonders auch für junge Menschen, denen diese Zeiten noch ferner sind, denn durch die Augen der Enkelin, die in der Gegenwart verankert ist, dürfen wir zu Erkenntnis, Verständnis und emotionaler Öffnung gelangen.

Bewertung vom 14.09.2024
Verlassene Nester
Hempel, Patricia

Verlassene Nester


sehr gut

Verlassene Nester – die kleine, zurückgebliebene Stadt, die verlassen wird, die Jungen, die flügge werden und das Nest und ihre Heimat verlassen möchten – darum geht es unter anderem in dem neuen Roman von Patricia Hempel.
Eine Stadt im Grenzgebiet, irgendwo im nirgendwo, im ehemaligen Osten, es ist das Jahr 1992, die Zeit der Wende, aber in diesem Ort hat die neue Zeit noch nicht begonnen, die Menschen leben in Plattenbauten, sind z.T. arbeitslos, machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Vieles läuft wie immer, allerdings eher mit Abstrichen, das Geld ist knapp und die Möglichkeiten zur Veränderung sind eher gering. Die Wiedervereinigung kommt nur schleppend dort an, die Aufarbeitung der Vergangenheit ebenso. Es gibt Vermutungen, wer war auf welcher Seite stand, wer zu den Guten und wer zu den Spitzeln gehörte. Aber viele dieser Fragen werden letztendlich nicht geklärt, denn das Leben geht ja weiter.
Im Zentrum steht die 13-jährige Pilly, von ihrer Mutter verlassen, von ihrem alkoholkranken, desillusionierten Vater Martin, der die meiste Zeit in seiner Stammkneipe verbringt, mehr schlecht als recht großgezogen. Sie sehnt sich - wie jede Jugendliche - nach Freunden, nach Zugehörigkeit, und schließt sich in ihrer Bedürftigkeit einem zweifelhaften Freundeskreis an, verliebt sich unglücklich, ist auf der Suche. Der Leser ahnt Schlimmes. Und auch die Ereignisse im Ort sind dem wahren Leben abgeschaut und auch leider immer noch aktuell – es geht um Rassismus, Diskriminierung, Neid und Eifersucht, Freundschaft, Feindschaft, einen Brandanschlag. Wir erleben verschiedene Perspektiven, verschmelzen allerdings mit den Figuren nicht, eine Distanz bleibt immer vorhanden.
Die Autorin ist eine gute Beobachterin, die mit wenigen Sätzen so viel andeuten bzw. aussagen kann, die Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit der Figuren, die gefühlte Übermacht Westdeutschlands und die arroganten und erfolgreichen, z.T. überzogenen Westdeutschen, die verunsicherten Ostdeutschen, aber sie zeigt auch Leichtigkeit, Situationskomik, groteske Momente. Die Mutter, die wie Lady Di in die Gartenkolonie gestöckelt kommt, die westlichen Heuschrecken mit ihren modischen Accessoires und großen Autos, die sich die Datschen und Kleingärten günstig unter den Nagel reißen wollen, die voyeuristischen Blicke Pillys bei dem Liebesspiel ihrer besten Freundin Katharina mit ihrem neuen Macho-Freund, das Spiel auf dem Spielplatz mit den typischen Gemeinheiten der Großen gegenüber den Kleinen, der heimliche Fischverkauf unter der Hand. Das Lebensgefühl der Bewohner dieser kleinen, verlassenen Nester im Osten kommt zum Tragen, viele verlassen die Heimat in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Aber werden sie das Glück finden? Können sie die Vergangenheit hinter sich lassen?
Die Themen sind vielfältig, leider bleiben einzelne Stränge unverknüpft und viele Fragen bleiben offen. Der rote Faden ist nicht stringent erkennbar und der Roman hinterlässt zu viele Leerstellen. Aber durch und durch sympathisch ist der Teenager und Hoffnungsträger Pilly und sie hat noch die Chance auf Veränderung – wünschen wir ihr viel Glück im neuen Lebensabschnitt und beim Weg in die Erwachsenenwelt.

Bewertung vom 03.09.2024
Bin bei mir
Schroeter, Udo

Bin bei mir


sehr gut

Carpe Diem - Sorgen dich nicht!
Wo bin ich in meinen Gedanken? Wo findet mein Leben statt?
Das Cover wirkt wie naive Malerei und es erinnert an ein Kinderbuch. Allerdings bietet die große, blaue Fläche auch die Möglichkeit, sich und seine Sehnsüchte einzusetzen - die Leere als Platzhalter für die eigenen Wünsche, die eigene Freiheit.
Insgesamt vermittelt Udo Schroeters Lektüre „Bin bei mir“ Ruhe, Frieden, positive Vibrationen – und darum geht es auch in diesem kleinen, feinen Buch. Es geht um Lebensbejahung, das Glück im Hier und Jetzt, Dankbarkeit für den Moment, unsere Umgebung, unsere Mitmenschen, Achtsamkeit und das Ablegen von negativen Gefühlen gegenüber Vergangenem bzw. Sorgen, die die Zukunft betreffen.
Die beiden unterschiedlichen Freund Paul und Tom sind zu Beginn im Traumurlaub am Meer, aber Tom kann es nicht genießen. Paul dagegen schon, er weiß, wie man im Hier und Jetzt lebt. Tom vertraut sich ihm an, er fängt an zu weinen, gesteht, dass er sich so viele Sorgen macht, um seinen Job, seine Freundin, sein Ende. Da will Paul ihm helfen und verspricht eine Geschichte, die alles verändern soll.
Zukunftsängste und Sorgen werden als Verhinderer von Glück und Zuversicht dargestellt, die Arbeitswelt mit ihren Anforderungen, problematische Beziehungen, es gibt genug Bereiche und Krisenherde, die der Zufriedenheit und Gelassenheit im Wege stehen. Die Geschichte in der Geschichte, eine Geschichte von zwei Fischern und dem perfekten Fang, von Paul erzählt, ist vor allem auch deshalb so interessant, da sicherlich jeder Parallele zum eigenen Dasein ziehen kann.
Die Lektüre bietet Raum für das Überdenken der eigenen Schwerpunkte im Leben, es zeichnet sich die Möglichkeit ab, neue Türen zu öffnen, ein neues Lebensgefühl zu erkunden, Ballast hinter sich zu lassen und das Wagnis des Lebens zu erproben. Verschiedene Darstellungen dienen als Symbole für ein erfülltes Leben – Kreis, Flaschen und Sterne, und veranschaulichen die Thesen sowohl im Privaten als auch in der Gesellschaft.
Jeder Tag sollte als Geschenk angesehen werden, die Kostbarkeit des Augenblicks wird betont, die Akzeptanz des Moments, die Verantwortung des einzelnen und die Möglichkeit neuer Wege und Impulse.
Ein schöner Ratgeber als Geschichte verpackt, einfach und beschwingt zu lesen, besonders auch für junge Menschen bei ihrer Sinnsuche geeignet.

Bewertung vom 01.09.2024
Das Schweigen meiner Freundin
Baldelli, Giulia

Das Schweigen meiner Freundin


sehr gut

Ein Roman voller Zärtlichkeit, Wehmut, Melancholie und der traurigen Gewissheit der Protagonisten, große Fehler begangen zu haben. Es geht um Liebe, Freundschaft, Verlust und Unrecht und die Frage steht im Raum, ob die Protagonisten Frieden mit der Vergangenheit schließen und zu einem erfüllten Leben gelangen können.
Aufhänger in Giulia Baldellis Romandebüt „Das Schweigen meiner Freundin“ ist die spannende, geheime Reise der 60-jährigen, totgeweihten Giulia, die sich scheinbar am Ende der Welt mit dem wichtigsten Menschen ihres Lebens treffen möchte. Der Leser ist von Beginn an gebannt und möchte erfahren, was es mit dieser komplexen Beziehung auf sich hat, worin die Problematik besteht, warum diese ehemals enge Freundschaft gestört ist.
Die Beziehung wird im nächsten Schritt aufgerollt, die Szene wechselt und wir reisen ein knappes halbes Jahrhundert zurück in die Kindheit und Jugend der beiden.
Die unterschiedlichen Mädchen Giulia und Christi lernen sich kennen, befreunden sich trotz oder gerade wegen der vielen Differenzen: Aussehen, Bildung, Herkunft. Giulia, pragmatisch, klug, aus „gutem“ Haus nimmt sich Christis an, uneheliches Kind einer abwesenden, labilen, wunderschönen Mutter. Tja, und es kommt, wie es kommen muss, die Freundschaft wächst, beide werden unzertrennlich. Dann kommt die fatale Krise: Die Machtverhältnisse ändern sich und Abhängigkeiten entstehen, was besonders deutlich wird, als Mattia, das männliche Pendant zu Christi, auftritt und sich mit den beiden anfreundet.
Eine fast toxische Dreiecksbeziehung, die kein Glück bringt, entsteht und Giulia wird von Eifersucht gepeinigt. Sind derartig starke Gefühle allerdings schon in der frühen Jugend wirklich realistisch? Diese Frage lässt mich nicht los und ich habe (vielleicht äußerst unromantisch) den Eindruck, dass die enttäuschte Liebe hier zu sehr dramatisiert wird. Meine Skepsis hat mein Lesevergnügen dementsprechend leicht getrübt – Punkteabzug von einem Stern.
Ein Entwicklungsroman, eine Liebes- und Freundschaftsgeschichte, die in unaufgeregtem Ton von den Leiden und Freuden, den widersprüchlichen Gefühlen, den Ängsten und Zwängen, dem Schweigen, den Geheimnissen, den tragischen Missverständnissen des Lebens berichtet. Wie die Königskinder konnten sie eben nicht zueinander kommen und Schweigen ist eben doch kein Gold.

Bewertung vom 29.08.2024
Prophet Song
Lynch, Paul

Prophet Song


ausgezeichnet

Ein Buch wie in Stein gemeißelt, mehr als eine Dystopie, eine nachdrückliche Warnung, eine Rede, eine Aufforderung zum Denken und Handeln, das Lied des Propheten. Parallelen lassen sich zu Krisensituationen, Gewalt, Terror, Totalitarismus ziehen und es zeigt sich, die Möglichkeit der Eskalation ist in jedem Land gegeben, hier treffen wir auf Irland als den Terrorstaat, vom Ausland aus der Ferne betrachtet.

Die grandiose, märchenhafte, poetische Sprache Paul Lynchs lässt den Roman fast wie ein Werk aus der Antike erscheinen, ein Epos, das den Menschen an sich in das Zentrum stellt, das sich mit dem Wesen von Gemeinschaft, Gesellschaft und kulturellen Errungenschaften auseinandersetzt. Die Sprache ist ein wahrer Genuss, voller Anmut und Schönheit, Parallelen zum Alten Testament werden deutlich. Aber welche biblischen Plagen und Katastrophen werden hier beschrieben!
Die Ausgangslage, die Normalität, verwandelt sich im Laufe des Romans in den Ausnahmezustand, die Grausamkeit der Situation und die immer beängstigender werdende Atmosphäre im Land werden extrem intensiv dargestellt, sie sind körperlich spürbar und das ohne exzessive Darstellungen von Gewalt oder blutigem Gemetzel.
In der Rolle Eilishs, der Protagonistin, erleben wir die schleichende Umwandlung eines demokratischen Staates in eine faschistische Diktatur, in einen Unrechtsstaat, der sich Spitzeln und einer bewaffneten Miliz bedient und seine Bürger einschüchtert, quält und erpresst, sobald sie sich nicht an seine Regeln halten. Eilish, deren Ehemann Larry von der Geheimpolizei festgenommen wird, mit der wir uns identifizieren, glaubt zu Beginn an die Vernunft und das Positive im Menschen, aber schnell ist sie von der Situation überfordert und verdrängt die erschreckende Realität. Sie ist jedermann, Stellvertreterin für den Glauben an Humanismus, das Wahre, das Gute und die Vernunft.
Eilish „finds herself, wishing for a stop to spring, for the day‘s decrease, for the trees to go blind again, for the flowers to be taken back into the earth, for the world to be glassed to winter.”
Mark, ihr 16-jähriger Sohn dagegen, ist schon realistischer, er hat sich den oppositionellen Jugendlichen angeschlossen, die gegen das neue Regime protestieren und kämpfen wollen: “They hunted us down, everything has changed now, don’t you see, there can be no going back.”

Die persönliche Frage steht nicht im Vordergrund, wie man sich in welcher Situation entscheiden würde, sondern es geht um die Allgemeingültigkeit der Schrecken des Krieges, die vielen Einzelschicksale, die ständigen Entscheidungen, die es zu treffen gibt. Es gibt kein richtig oder falsch mehr für den Einzelnen, nicht jede Entscheidung kann revidiert oder bewertet werden, es ist einfach der totale Ausnahmezustand, aus seinem vorherigen Leben ist man nicht für diese Situation gewappnet. Der Fall der Familie ist kein Einzelschicksal. Angst vor Veränderung, Angst vor Verlust, Hoffnung, Erstarrung, Flucht, Panik – all diese Gefühlsregungen werden von den unterschiedlichen Figuren in unterschiedlichem Ausmaß durchlebt und man richtet sich in dem Schrecken ein und der Mensch gewöhnt sich an den neuen Status Quo.

Eine der Hauptaussagen des Romans ist im letzten Kapitel enthalten, diese schreckliche Tatsache, dieses Nebeneinander von Normalität in dem einen Land und Krieg in dem anderen, diese disparaten Lebenswelten, der pure Antagonismus. Das Glück, auf der einen Seite oder anderen Seite der Welt zu wohnen, das unverschämte Glück, im Paradies oder das Unglück, in der Hölle zu leben…
Paul Lynchs Werk hat zu Recht den Booker-Prize gewonnen und es wird neben Orwells „1984“, Atwoods „Handmaid’s Tale“ und Kafkas „Prozess“ seinen Platz einnehmen.

Bewertung vom 10.08.2024
Anständige Leute
Padura, Leonardo

Anständige Leute


ausgezeichnet

Conde, Ex-Polizist mit literarischen Ambitionen, ermittelt wieder, diesmal in seinem 10. Fall, der ihn quer durch alle Schichten Kubas führt: Neureiche, Intellektuelle, Künstler, Staatsfunktionäre, einfache Hausangestellte oder Menschen aus ärmlichsten Verhältnissen.
„Anständige Leute“ spielt zur Zeit des Obama-Besuchs in Kuba, 2016, der Auftritt der Rolling Stones steht kurz bevor und das ganze Land verfällt in eine Euphorie, die der desillusionierte Conde eher kritisch betrachtet.
Es geht um die Reichen und Mächtigen, denn ermordet wird gleich zu Beginn der alte Kulturfunktionär Quevedo, der es vielen Künstlern und Kulturschaffenden z.T. unmöglich gemacht hat, ihre Kunst zu veröffentlichen oder zu verkaufen. Er selbst hat sich an den Kunstwerken bereichert, sie für viel Geld illegal verkauft oder selbst in seinem Reich dargestellt. Die Künstler wurden mundtot gemacht, es gab Veröffentlichungsverbote, Berufsverbot oder Gefängnisaufenthalte, Suizidversuche, Depressionen. Ersichtlich wird auf den ersten Blick, dass es bei einer solchen Person des öffentlichen Lebens viele Geschädigte gibt, die möglicherweise Rachegelüste verspüren. Aber auch im privaten Leben geht es hoch her, so ist das zweite Mordopfer auch sein Schwiegersohn Marcel, der eigentlich in die USA ausgewandert ist, aber sich zufälligerweise gerade aus privaten Angelegenheiten in Kuba aufhält.
Ein zweiter Handlungsstrang führt uns in das Kuba der 1910-er Jahre, Tanz auf dem Vulkan, wieder geht es um die Welt der Reichen, Schönen und Mächtigen und Schauplatz sind immer wieder Edel-Bordelle, in denen die schönsten der Frauen aus aller Herren Länder für konkurrierende Clans anschaffen. Auch in diesem Erzählstrang, der sich mit dem der Gegenwart abwechselt, gibt es einen Mord im Rotlichtmilieu. Ermittler ist hier der junge, anständige Polizist Arturo Saborit, der voller Eifer und Ideale in seinem ersten Mordfall ermittelt. Gefiltert durch seine Perspektive erfahren wir von den Ereignissen und nehmen an den Ermittlungen sowie seinen Überlegungen zu Anstand und Moral teil. Und auch in diesem Teil gibt es einen einflussreichen, charismatischen und zwielichtigen Geschäftsmann, Alberto Yarini, eine reale Gestalt, die im Zentrum steht, der sowohl Männer als auch Frauen verfallen und die seinen Aufstieg als Politiker plant.
Zwei spannende, handlungsreiche Kriminalfälle wechseln sich ab, es geht z.T. blutrünstig und direkt zu, nichts für zartbesaitete Leser. Mario Conde selbst zieht Parallelen eher zu Tarantino als zu Hemingway, seinem literarischen Vorbild, dem er – sowie sein Alter Ego Padura - sich eigentlich verpflichtet fühlt.
Leonardo Padura schafft mit diesem Roman aber mehr als nur einen Kriminalfall: Kuba selbst ist Hauptfigur, Themen sind die Korruptheit, Doppelmoral der Regierung, Repressionen, Zensur von Kunst, die Armut, der Erfindungsreichtum der Einwohner, der Wunsch zum Wandel und Überwindung der desaströsen Verhältnisse, die Schönheit des Landes und die Vielfalt der Menschen.
Ein eindrückliches Werk, das an einzelnen Stellen den alternden Conde etwas zu lang über seine Eindrücke und philosophischen Erkenntnisse deklarieren und sinnieren lässt, aber insgesamt eine klare Empfehlung für einen starken Roman, in dessen Zentrum die Liebe zu Kuba als auch der Wunsch nach politisch-gesellschaftlichen Veränderungen steht.

Bewertung vom 05.07.2024
Unter Wasser ist es still
Dibbern, Julia

Unter Wasser ist es still


sehr gut

Vergangenheit – Gegenwart, der Fluss der Zeit, das eine ist nur aus dem anderen heraus erklärbar und sinnstiftend und die Gegenwart lässt sich nur bewältigen, indem die Hauptfigur Maira sich der Reise in ihre Vergangenheit stellt.
Das Aufdecken von Verdrängtem lässt Wachstum, Neubeginn entstehen, auch wenn es für Maira unsagbar schwer und schmerzhaft ist, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, nachzuforschen, was passiert ist, an welchen Stellen sie Schuld auf sich geladen hat, die es unter Umständen zu überwinden gilt.
Dieser Roman ist wunderbar intensiv und emotional, ohne dabei kitschig oder sentimental zu werden. Man fiebert mit Maira, der jungen Restauratorin, mit, die aufgrund einer neuen beruflichen Chance ihren Wohnort, die Großstadt Frankfurt am Main, verlässt, um zu dem Ort ihrer Kindheit zurückzufahren, ein kleines Dorf im Norden.
Das Zentrum der Vergangenheit besteht in der Mutter und ihrer Krankheit, die Demenz, und die Erinnerungen an diese Zeit. Die junge Frau muss sich dem Verdrängten stellen, nur so können die Schuldgefühle und die Trauer überwunden, nur so kann die Wahrheit entschlüsselt werden und mit diesem Wissen ein Neuanfang und Heilung beginnen.
Trotz des schweren, schmerzhaften Inhalts schafft Julia Dibbern es, Wärme und Leichtigkeit zu vermitteln und je mehr wir Maira und ihre Vergangenheit kennenlernen, desto stärker können wir uns ihren Sorgen und Ängsten annehmen und sie verstehen.

Bewertung vom 05.07.2024
Trügerische Anziehung
Nevo, Eshkol

Trügerische Anziehung


ausgezeichnet

Eshkol Nevos vielschichtiger Roman „Trügerische Anziehung“ beschäftigt sich in drei Erzählungen mit Beziehungen unterschiedlicher Art – Mann–Frau, Mutter-Kind, Vater-Kind. Es geht um sexuelle Anziehung, um Liebe, Freundschaft, Verantwortung, Schuld und Tod, aber auch um die Suche nach der eigenen Identität, um Sehnsucht nach dem wahren Leben, nach Glück, Zufriedenheit, Erfüllung. Die Figuren, die uns begegnen, handeln häufig so nachvollziehbar und man kann ihre Ängste, Wünsche und Motivation verstehen. Andererseits werden viele Fehler gemacht und der einzelne steht sich selbst im Weg: die junge Witwe, die sich während der Totenwache mit einem Liebhaber trifft, der angesehen Arzt, der anscheinend einer jungen Medizinerin nachstellt, der Sohn, der die Mutter in einer schwierigen Situation allein lässt. Warum findet der / die einzelne nicht zu seinem / ihrem Glück, obwohl es doch so nahe liegt?
Die Stränge der drei Erzählungen sind lose miteinander verknüpft und wie in einem klugen Vexierspiel sucht der Leser nach Überschneidungen und Verbindungen. Spannend und mit Thriller-Elementen müssen die Fäden entwirrt werden, denn die Wahrheit ist versteckt. Wie war es wirklich? Was ist passiert? Wem können wir trauen? Wie genau kennt man den geliebten Menschen? Diese Fragen durchziehen den Roman und das Suchen und Miträtseln wecken einen anregenden Lesegenuss. Die einzelnen Figuren sind nicht durchweg vertrauenswürdig, die Perspektiven wechseln und immer wieder müssen wir die Darstellungen des Erzählers hinterfragen.
Eine klare Leseempfehlung für alle, die hintergründige, spannende und ungewöhnliche Geschichten lieben, bei denen gut und böse nicht klar definiert wird, viele Grauschattierungen auftreten, die unterschiedlichen Protagonisten vordergründig charmant und liebenswert wirken, dann aber doch eine ganz andere, dunklere Seite von sich preisgeben.