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ninchenpinchen
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Potsdam

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Insgesamt 89 Bewertungen
Bewertung vom 02.11.2024
Verkin
Wagner, David

Verkin


sehr gut

Reisen ins Märchenland …

… oder ich schaue einer schneeweißen Katze zu lange in ihr blaues und ihr braunes Auge.

David Wagner ist beneidenswert, hatte er doch eine orientalische Fremdenführerin gefunden, um die ich ihn glühend beneide. Denn meine eigene Reise in die Türkei vor nunmehr sechsunddreißig Jahren war alles andere als ein Traum, eher ein Albtraum. Aber das ist lange her und es soll sich viel, sehr viel, geändert haben.

Auf jeden Fall hat Herr Wagner gründlich recherchiert, mag er Verkin, die titelgebende Fremdenführerin, nun erfunden haben oder nicht. Für den Moment tun wir mal so, als gäbe es diese Fee aus Tausendundeiner Nacht wirklich.

Alles beginnt damit, dass Verkin auf einen Wunsch hin eine dieser schneeweißen Vankatzen vom Vansee nach Deutschland, nach Berlin, geschmuggelt hat. Auf der Katzenwillkommensparty nun lernt David die Schmugglerin kennen. Später soll er zum Katzendank ein deutsches Wurstpaket in die Türkei bringen und so bezeichnet er sich von da an – hin und wieder – als „Wurstbote“.

Als Schriftsteller möchte er ein Buch über die türkischen Malls schreiben, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Als ich damals dort war, gab es nur eine. Und ich weiß nicht mehr genau, ob ich sie nun gesehen habe oder nicht. Inzwischen gibt es zwanzig. (Siehe Seite 144.) Von Baujahr 1987 bis 2014. „Look them up“ würde Verkin sagen.

Der Wurstbote wird von Verkin, ihrem Hund und ihrer Freundin und Assistentin Nevin überaus herzlich aufgenommen. Und ab da beginnt die Luxus-Fremdenführung der allerersten Klasse. Denn Verkin ist reich und Geld spielt keine Rolle. Verkins Vater hatte damals den größten Elektrokonzern der Türkei aufgebaut und seine geschäftstüchtige Tochter hat mit Bravour dieses und andere Geschäfte weitergeführt, bzw. neu aufgebaut.

Aber auch ein schlimmer Unfall bestimmte Verkins Leben mit unzähligen Operationen. Auch für die Schönheit lag sie diverse Male unter dem Messer.

Aber jetzt zeigt Verkin David das Land. Zu Wasser, auf der Straße oder Schiene oder auch in der Luft, alle Transportwege sind dabei. Die Begleiter der beiden wechseln und David kommt öfter zu Besuch, bringt auch noch einmal Wurst aus deutschen Landen mit.

Und natürlich werden die sagenumwobenen Vankatzen am Vansee besucht. Ob sie wirklich schwimmen können, schaue ich mal bei YT nach. (Können sie, können sie!) Verkins Geschichten möchte man tage- und nächtelang lauschen, nie, nie wird es langweilig. Ihre Ehen, teils mit Deutschen, ihre unzähligen Affären sind sehr ungewöhnlich für eine orientalische Frau. Aber Verkin ist eben besonders, ganz besonders. „Die meisten Menschen sprechen ununterbrochen von sich selbst. Fast alle wollen ihr Leben erzählen, nur leider ist es nicht immer interessant. – Oh, jetzt bekomme ich Angst! Langweile ich dich mit meinen Anekdoten? Im Gegenteil Verkin. […] Stoff für Tausendundeine Nacht.“ (S. 366)

Fazit: Erzählungen aus dem Märchenland, Reiseabenteuer, gespickt mit Anekdoten. „Es ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft und einer außergewöhnlichen Frau.“ (Umschlag, hinten) Mir hat es ganz viel Spaß gemacht. ****

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Bewertung vom 25.10.2024
Die Rose von Nischapur
Cheheltan, Amir Hassan

Die Rose von Nischapur


weniger gut

Zerfasert **

Ob ich schon mal einen Roman las, von einem persischen Autor? Ich glaube nicht, von den Märchen aus tausendundeiner Nacht mal abgesehen. Auch in meinem Stapel ungelesener Bücher findet sich da nichts. So war ich höchst gespannt auf „Die Rose von Nischapur“, deren Originaltitel ich nicht lesen kann.

Wir haben hier drei Hauptprotagonisten: David, den jungen Engländer. Sein Traum: Iran bereisen.
Nader, der fünfzehn Jahre ältere Einheimische, ist ein Schriftsteller. Dann gibt es noch Naders Freundin Nastaran, die titelgebende Rose. Alle drei verehren den antiken Dichter Omar Khayyam. (Wer mag, kann da noch ein Zeitzeichen hören.)

Als David einen nicht näher bezeichneten Unfall erleidet, kümmern sich Nader und Nastaran aufopferungsvoll um ihn und nehmen ihn in Naders Wohnung auf, da er z. B. Hilfe bei der Körperpflege braucht. Und da von den Freunden befürchtet wurde, dass er in der Pension nicht allein zurechtkäme.

Es gibt leidenschaftliche Diskussionen über den o. g. Dichter, über Politik und Philosophie. Die politische Situation im Land scheint sehr speziell, für Aus- und Inländer nicht ungefährlich mit recht strengen Gesetzen. Es wird Gründe geben, dass der Autor in seiner Heimat nicht veröffentlichen darf. Da ich mehrere Perser kenne, die in Deutschland leben, werde ich sie fragen, ob die Regeln und Gesetze wirklich so streng sind. Auf Fotos aus den siebziger Jahren wirkte es nicht so. Es wird sich viel geändert haben. Auch bei uns weht ja jetzt ein anderer Wind.

Die Verehrung für den antiken Dichter konnte ich anhand der Beispiele nicht nachvollziehen. Überhaupt wirkt der ganze Roman sehr unstrukturiert, zerfasert, ein roter Faden fehlt gänzlich. Und alles plätschert vor sich hin, obwohl grausame Details politischer Verfolgung nicht fehlen. Das alte Spiel: Die Regierenden und ihre Befehlsgeber maßen sich an, dem Volk ihre abstrusen Regeln aufzuzwingen. Was ja leider in den letzten Jahren weltweit extremer geworden ist.

Auf den aller letzten Seiten nimmt der Roman endlich Fahrt auf und die Situation der drei Personen spitzt sich zu. Vorher, beim Geplätscher, hat man vergebens darauf gewartet. Das unstimmige Ende passt auch nicht so recht.

Fazit: War absolut nicht meins, die Lektüre halte ich von daher nicht für empfehlenswert. Zerfasert eben. Mit Mühe gerade noch so zwei Sterne. Möglicherweise hätte ich lieber „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ lesen sollen.

Bewertung vom 10.10.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


gut

Makatea gibt es wirklich

Das große Spiel ist schwierig zu bewerten, denn eine durchgehende Handlung gibt es nicht. Dafür wird den vier Hauptprotagonisten viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Evelyn, die Taucherin, schreibt am Ende ein erfolgreiches Buch und die ganzen Fische muss ich mir noch anschauen. Viele Namen habe ich noch nie gehört. Sehr zu Herzen geht die Szene, wie ein in Netzresten verstrickter Riesenmanta Evelyn um Hilfe bittet und sich später bedankt. Bei Säugetieren habe ich schon öfter davon gehört, z. B. bei Bären. Aber bei Meeresbewohnern las ich davon zum ersten Mal.

Und endlich habe ich durch Evelyn ein Gedicht wiedergefunden, dass ich schon so lange gesucht hatte, wusste leider nicht, von wo und von wem es ist, auf Seite 333 „Ariels berühmter Gesang aus dem Sturm:
Fünf Faden tief dein Vater liegt, Sein Gebein ward zu Korallen, Zu Perlen seine Augenballen, Und vom Moder unbesiegt, Wandelt durch der Nymphen Macht Sich jeder Teil von ihm und glänzt in fremder Pracht.“

Die andere weibliche Protagonistin Ina ist eine typische Insulanerin. Sie sammelt Plastikmüll und fertigt Skulpturen daraus. Sie hat mit Rafi zusammen zwei elternlose Inselkinder adoptiert. Ob sie keine eigenen bekamen oder wollten, bleibt unerwähnt.

Rafi, Inas Mann, ist ein schwieriger, komplexbeladener Zeitgenosse. Er wurde von seinem Vater extrem indoktriniert: „Schwarze auf Erfolgskurs“. So funktioniert die Studienfreundschaft mit …

Todd, dem Weißen zwar anfangs, wird aber zunehmend von Rafi boykottiert. Zu Unrecht, wie ich finde. Und Todd wird extrem erfolgreicher Multimillionär oder -milliardär.

Rafi und Todd spielen in ihrer Studentenzeit viele Spiele, erst Schach, dann Go. Zu Go: „Es ist das älteste ununterbrochen gespielte Brettspiel der Welt. Milliarden von Menschen haben es gespielt. In China gehört es zu den vier Vierteln der persönlichen Weiterentwicklung. In Japan wird es staatlich subventioniert, als Weg zur Erleuchtung.“ (S. 180)

So ersinnt Todd (mit Rafis Ideen) ein digitales Spiel, was einschlägt wie eine Bombe. Und so schnell so viele User begeistert, dass die Teams nicht mehr hinterherkommen. Was das dann am Ende mit Makatea zu tun hat? Lest selbst.

Fazit: Der Roman liest sich sehr flüssig und man bleibt begeistert dran. Das Cover mit den Mantas passt zum Inhalt. Aber zum Schluss verstehe ich so Einiges nicht. Ob das dann Fehler vom Lektorat sind oder ist das Durcheinander so gewollt? Da passt m. E. der ganze Ablauf nicht – schade! Dafür ziehe ich 1,5 Sterne ab und runde ab auf drei Sterne. ***

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.09.2024
Bis in alle Endlichkeit
Kestrel, James

Bis in alle Endlichkeit


sehr gut

Californication

Als ich überlegte, wie wohl die Überschrift meiner Rezension zum Roman von James Kestrel „Bis in alle Endlichkeit“ heißen sollte, kam mir der Titel eines Songs von den Red Hot Chili Peppers in den Sinn. Und tatsächlich passen einige Songinhalte perfekt zum Roman z. B. „Pay your surgeon very well to break the spell of aging.“ Übersetzt heißt das sinngemäß: „Bezahl deinem Chirurgen viel Geld, um den Bann des Alterns zu brechen.“ Deshalb finde ich sogar, dass der deutsche Titel des Romans etwas besser passt, als der Originaltitel: Blood Relations (Blutsverwandte).

Erstaunlich fand ich, dass dieser Thriller eigentlich der Vorläufer von „Fünf Winter“ ist, obwohl erst danach erschienen. So hat sich JK hier warm geschrieben, um dann später den absoluten Knaller zu landen. Nein, gelesen habe ich „Fünf Winter“ noch nicht, aber die Leserschaft ist ja so begeistert. Aber dem sich selbst so nennenden „Schmalspurdetektiv“ Lee Crowe begegnen wir in „Fünf Winter“ nicht. Obwohl ich durchaus nochmal gern mit ihm zu tun gehabt hätte, denn er ist unglaublich kreativ und extrem hart im Nehmen. So fährt er schwer verletzt noch stundenlang durch die Gegend, angetrieben von seinem Herzbusiness.

Unser Kriminalroman Noir spielt also in Kalifornien. In einem Bundesstaat, den wohl niemand, der seine Sinne noch beisammen hat, momentan bereisen würde. Auch wenn zahlreiche Namen mit Sehnsucht verbunden sind, wie etwa der Mulholland Drive in Los Angeles oder der Santa Monica Boulevard, die nur gute vier Meilen voneinander entfernt sind. Um zu entspannen, fliegt unser Held dann nach La Paz, in ein Hotel, in dem er schon sechs Jahre zuvor war, wo sich wenig verändert hat. Und da kommt dann … aber das wird hier nicht verraten.

Lee Crowe, unser Ich-Erzähler, wird oft von dem dubiosen Anwalt Jim Gardner engagiert, der ihn letztlich auch mit der neuen Klientin Olivia Gravesend bekannt macht. Die superreiche Olivia möchte den Mörder ihrer Tochter finden. Und ganz zu Anfang hat ja Lee Crowe die tote Claire auf dem Dach eines eingedrückten Rolls-Royce Wraith gefunden, fotografiert und die Fotos an die Presse verkauft. Ist sie von hoch oben gesprungen oder gestoßen worden?

Wenig später macht der Detektiv die Bekanntschaft von Madeleine, die Claire verblüffend ähnlich sieht und sie auch kannte. Lee Crowe ist gut vernetzt, hat die erstaunlichsten Kontakte und Geld spielt ja keine Rolle, denn Mrs Gravesend hat ja genug davon. Lee Crowe kommt viel herum und kann bald weder in seine Wohnung, noch in sein Büro. Die Wohnung wurde verwanzt, das hat er früh genug auf einer eingebauten Kamera von ferne gesehen und aus dem Büro wurde alles gestohlen, was wichtig war: Der Safe, die Waffe, Claires Briefe, seine Kreditkarten etc. Sein Auto, das „Biest“ befindet sich in einer entfernten Tiefgarage, aber auch dort wird er von der Polizei erwartet. Wir lernen auch einiges über moderne Technik, denn ich hätte nie gedacht, dass man mit einer Drohne, auf dem Dach platziert, ja auch von vorne über die Fotooptik einen Hinterausgang im Auge behalten kann. So kann der treue Elijah vom Auto aus alleine beobachten, was in einem bestimmten Haus vor sich geht. Überwachung zwei-Punkt-null.

Fazit: Ein wirklich sehr empfehlenswerter, hoch spannender Pageturner im Raymond-Chandler-Stil, so was habe ich lange vermisst. So freue ich mich schon auf „Fünf Winter“. ****

Bewertung vom 15.08.2024
Ava liebt noch
Zischke, Vera

Ava liebt noch


sehr gut

Ein Glücksgriff

Normalerweise lese ich keine Liebesromane. Aber hier interessierte mich das Thema „Altersunterschied“, zu dem ich parallel „Die einzige Geschichte“ von Julian Barnes hörte. Ungekürzte Lesung. Dort wird allerdings das Thema „Altersunterschied“ völlig anders behandelt, bzw. aufbereitet.

Und: Natürlich war ich neugierig auf den Fortgang und das Ende von „Ava liebt noch“ und habe immer so sehr gehofft, dass es keine spießige Auflösung gibt.

Ich habe den Roman in nur sechs Tagen verschlungen, denn er ist so glaubhaft, nachvollziehbar und auch spannend geschrieben, dass eine wahre Geschichte zugrunde liegen MUSS.

Zu Beginn fühlt Ava sich wie eingefroren, steckt sie doch im Perpetuum Mobile des Haushalts mit drei kleinen Kindern fest. Am Anfang ist ihr Sohn Nico fünf Jahre alt, Tochter Lana ist zehn und Mia, die Älteste, ist zwölf Jahre alt. Der Ehemann findet, dass es völlig ausreicht, wenn er nur das Geld ranschafft. Es ist genug Geld, der Rest ist ihm egal. Hauptsache, Ava funktioniert wie am Fließband ohne Aussetzer.

Als die seit mehr als zwölf Jahren „in Aspik eingelegte Hausfrau“ aber beim ungeliebten wöchentlichen Großeinkauf im Supermarkt Kieran kennenlernt, haut es sie um. Sie beginnen bald eine Affäre. Und Ralf, der Ehemann, der sonst wirklich überhaupt nichts mehr merkt, kommt erstaunlicherweise schnell dahinter. Was nun?

Das Cover ist chic, zeitgemäß und passt. Der Schreibstil knallt rein und die Seiten blättern sich wie von selbst um. Ein Glücksgriff eben.

Einen Stern werte ich ab für schlunziges Lektorat, so wird aus Lana, z. B. S. 90, plötzlich Jana auf S. 189. Zudem gibt es auch noch eine wirkliche andere Jana. So was kann ich nicht ausstehen. Auch noch eine weitere Begebenheit ödet mich an, die ich hier aber nicht verraten kann, ohne zu spoilern.

Ansonsten, Fazit: Prickelnd, tolle Akteure, super Debüt. Klasse gemacht. Flüssig, fetzig, ein echter Seitenumblätterer: LEST! ****

Bewertung vom 02.08.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


sehr gut

Ein Appell für den Widerstand

Ich möchte gleich mit einem Zitat von Sebastian Fasthuber aus der österreichischen „Falter“, Ausgabe 29/2024 beginnen: „Das Lied des Propheten lässt sich als Schlüsseltext über die Gefahr des allerorts erstarkenden Faschismus lesen.“

Meinen Dank an Klett-Cotta, dass Sie den Mut gefunden haben, dieses Werk auf Deutsch zu veröffentlichen.

Es fällt mir schwer, diese Rezension zu schreiben, zu stark ist noch der Eindruck, den dieser Roman bei mir hinterlassen hat.

Worum geht es? Wir befinden uns in Irland in der Jetzt-Zeit. Soeben wurde eine neue Geheimpolizei gegründet und eine Art von Notstandsgesetzen ausgerufen. Hier ist sowieso immer Vorsicht geboten, da alle – oder viele der „normalen“ Gesetze damit außer Kraft gesetzt werden. So kommen zwei Geheimpolizisten an die Tür der Protagonistin Eilish, der promovierten, tätigen Mikrobiologin, und wollen ihren Mann Larry sprechen. Er ist ein bekannter Lehrer und Gewerkschafter. Kurz danach wird Larry zum Verhör einbestellt und danach hört man nichts mehr von ihm. Niemand weiß, ob er noch lebt oder wo er sein könnte. Auch Mark, der ältere Sohn der Familie verschwindet, aber zunächst wohl aus eigenem Antrieb, er möchte sich den Rebellen anschließen. Auch bei den jungen Rebellen greift die Gier nach Macht schnell um sich. Von Mark hört man nicht mehr viel und später gar nichts mehr. Verbleiben in der Familie bei der Mutter: Molly, die Tochter, der Säugling Ben und Bailey, der Zwölfjährige. Eilishs dementer Vater lebt auch in der Nähe und wird von ihr betreut. Eilishs Schwester in Kanada möchte, dass die ganze Familie zu ihr kommt und gibt auch viel Geld und Kontakte. Wie es weitergeht, möchte ich hier nicht verraten.

Der Schreibstil ist extrem gewöhnungsbedürftig, es gibt wenig Satzzeichen, keine wörtliche Rede, die als solche erkennbar wäre, auch die Sprecher erkennt man mehr oder weniger nur aus dem Zusammenhang. Der Text ist dicht an dicht, lange Kapitel, nur ein paar Absätze.

Ein paar Zitate finde ich erwähnenswert. S. 32: „… dass alle Jungen erwachsen werden und von zu Hause weggehen, um die Welt unter dem Vorwand, sie zu richten, zugrunde zu richten, so will es die Natur.“ S. 37: „Sie sieht Polizisten mit Knüppeln, die die Demonstranten zu unterwürfigen Gestalten prügeln …“ (Kommt uns das bekannt vor?) S. 43: „Michael, sagt sie, dass du ihn nicht sehen darfst, das verstehe ich nicht, ich habe selbst im Gesetz nachgeschaut, in den Verträgen, das ist ein eklatanter Bruch internationalen Rechts, also sag mir, warum dürfen die machen, was sie wollen, warum hat niemand Stopp geschrien?“ (Das fragt man sich in diesem Land auch oft!) S. 97: „… wenn diese Proteste nichts bringen, weiß ich schlicht nicht, was ich machen soll.“ (Geht uns das hier vielleicht genauso?) S. 103: „Früher oder später wird der Schmerz zu groß für Furcht, und wenn die Menschen die Furcht verloren haben, wird das Regime weichen müssen.“

Der erstarkende Faschismus macht sich auch bei uns breit, ein wenig anders, als im Roman geschildert. Da werden Andersdenkende diskriminiert, es werden Hausdurchsuchungen (man könnte alternativ auch sagen: Raubüberfälle) angeordnet. Viele politische Gefangene sitzen derzeit ein, völlig unberechtigt, mit z. T. an den Haaren herbeigezogenen Anschuldigungen. Da werden Magazine verboten, Geld wird gestohlen (eingefroren hört sich doch besser an) etc. Viele Widerständler sind schon ins Ausland geflohen, Firmen mussten schließen oder alternativ auch auswandern …

Fazit: Man braucht überaus starke Nerven, um diesen Roman zu verkraften. Gerade in dieser schlimmen Zeit. Sich einzufühlen, aber sich dennoch nicht unterkriegen lassen. Respekt Mr Lynch, behalten Sie Ihren Mut und Ihre Widerstandskraft!

Bewertung vom 23.07.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


sehr gut

Wie ein Recherchekrimi

Von der Autorin Zora del Buono hatte ich mir vor einiger Zeit als erstrebenswerte Lektüre ihren Roman „Big Sue“ aus dem Jahr 2010 notiert. Habe aber Big Sue noch gar nicht gelesen. Jedenfalls hatte ich den Namen dieser Autorin im Gedächtnis, so dass mir ihr neuer Roman „Seinetwegen“ ins Auge fiel. Von Anfang an war mir schon klar, dass es sich hier um diverse Skizzen, Nachforschungen, Zeitungsausschnitte und eben verschiedenes Recherchematerial handelt, weniger um einen Roman. Das macht aber nichts, denn spannend und vor allem unvorhersehbar sind diese Aufzeichnungen allemal. Man lernt auch allerhand über die Schweiz und das Leben der Einwohner.

Es geht also um einen Autounfall mit tödlichem Ausgang. Der Vater der Autorin starb vor sechzig Jahren, als sie noch ein Baby war. Bei der Mutter wurde darüber nie gesprochen. Den Onkel, der den VW-Käfer fuhr, traf keine Schuld. Ein Überholer eines Pferdefuhrwerks hat den Unfall verursacht. Und die Autorin möchte nun genau wissen, was damals passiert ist und was „der Töter“ für ein Mensch ist oder war.

Was mich besonders aufgeregt hat: Es muss uns klar sein, dass der Krake „Datenschutz“ nicht etwa dazu da ist, unsere Daten zu schützen. Nein, die werden schon von der Behörde „Einwohnermeldeamt“ verkauft. Dieser Krake ist eindeutig dazu da, uns das Leben schwer zu machen und z. B. private Nachforschungen zu behindern. Das Volk hat gewiss nichts davon. Die Autorin hatte auch nichts davon, im Gegenteil, wurde sie doch von einer Behörde an die nächste verwiesen. Das ist also in der gelobten Schweiz auch nicht anders als bei uns.

Seite 84 dazu, Zitat: „In Reichenburg wohnen zwei Traxlers (Anm. von mir, der Töter des Vaters hieß Traxler), aus Datenschutzgründen gibt das Statistische Amt weder Geschlecht noch Vornamen an. Im Telefonbuch findet sich keiner von ihnen. Reichenburg liegt sieben Kilometer vom Unfallort entfernt.“

Zum Cover: trifft sehr gut das Thema. Sechzig Jahre zuvor könnte dies der verunfallte Vater, der Fahrzeugführer oder ein Herr der Zeit sein. Die alten Fotos von meinem Vater sehen sehr ähnlich aus. Der Blick auf die Kurve hat es in sich. Oder ist er der Geist des jung Verstorbenen?

Der Text birgt viele Überraschungen und viele Wendungen, die sich u. a. notgedrungen ergeben. Interessant sind auch die Gespräche: „IM KAFFEEHAUS 1-9“ mit zunächst drei, später vier Teilnehmern, die sich nach dem Markt treffen. Darunter unsere Autorin. Solche Strukturen mit zwar festen, aber sich ergebenden Themen würde ich mir für so manche dahinlabernde Gesprächsrunde wünschen.

Fazit: Die Wege der Autorin durch dieses Recherchelabyrinth sind durchweg informativ und abwechslungsreich, gut nachzuvollziehen. Der Leser kommt gut mit und das Buch liest sich fesselnd. Vier verdiente Sterne.

Bewertung vom 15.07.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


weniger gut

Poesie – aber langweilig

Warum bin ich so enttäuscht von diesem Buch, obwohl es wunderschön geschrieben ist? Nun, es hat mich in den ersten zwei Dritteln so gelangweilt, dass ich öfter an Abbruch gedacht habe. Das letzte Drittel reißt es dann auch nicht mehr heraus, weil man das so – oder so ähnlich – schon oft gelesen oder sogar selbst erlebt hat. Sogar das mitgebrachte Trauma der einen Hauptfigur wurde schon unzählig wiedergekäut.

Was erwarte ich denn von Belletristik? Auf jeden Fall schon mal, dass sie mich NICHT langweilt. Dann lerne ich gerne etwas Neues. Inhalte, die ich so noch nicht kenne. Etwas zum Staunen. Bisher unbekannte Weisheiten, mysteriöse Zusammenhänge, Rätsel, seltsame Figurenkonstellationen, Experimente.

Ich werde Beispiele nennen. Beim Roman: „Über die See“ von Mariette Navarro konnte ich schon auf Seite 9 eine völlig neue Erkenntnis gewinnen. In meinem neueren Lieblingsbuch: „Unser Teil der Nacht“ von Mariana Enriquez strotzt förmlich jede Seite des sehr umfangreichen Werkes vor Weisheit, Mut, Unerforschtem, Unbekanntem. Und für Rätsel ist ja Wolfgang Herrndorf bekannt, siehe den Fall mit der Leiter in „Sand“. Für Portale in andere Welten könnte ich noch Stephen King, Haruki Murakami oder auch Marianne Wiggins nennen.

Zum Inhalt: Grace, die in ihrer Jugend Schlimmes erleben musste (und ja, auch das hatten wir schon) vermietet ihr Cottage am Meer an Touristen. Evan, ihr Mieter, hat ein Trauma im Gepäck. S. o. Später erscheint noch Evans tauber Sohn Luca. Der bringt im letzten Drittel dies skurrile Volk des Dörfchens in Hektik. Das war’s im Grunde schon.

Fazit: Leider nichts für mich, ich habe mich unendlich gelangweilt, aber tapfer durchgehalten. Den zweiten Stern gibt es für die wirklich wunderbare Schreibe. Bzw. Übersetzung. Aber der Inhalt konnte mich nicht überzeugen. Nichts Neues unter der Sonne. **

Bewertung vom 19.06.2024
Sei nicht so
Warnke, Kirstin

Sei nicht so


sehr gut

Altlasten

Im realen Leben kenne ich zwei Leute mit solchen Störungen, wie hier beschrieben. Manches habe ich also wieder erkannt. Für die tapfere Alice war es ja super schwierig, sich im Leben zu behaupten und nur so halbwegs klarzukommen. Die Schilderungen der Extreme kommen mir so wahrhaftig vor, dass ich vermuten möchte, die Autorin hat selbst solche Erfahrungen gemacht oder ist langfristig familiär oder freundschaftlich verbunden mit solchen „Patienten“.

Zunächst kam ich nicht so gut rein, in das Geschehen, aber es wurde zunehmend einfacher und auch spannender. Tja, spannender für den Leser, für involvierte Personen muss es unerträglich sein. Denn solche (gefährlichen) Tobsuchtsanfälle möchte doch niemand in natura erleben.

Ich hatte eine Freundin mit bipolarer Störung. Ihre jeweiligen Befindlichkeiten waren so unvorhersehbar, wie teilweise extrem, so dass ich nicht mehr damit umzugehen wusste. Aber in diesem Fall musste wenigstens kein Kind darunter leiden. Das ist hier anders:
Alice zwischen den Stühlen. Schlimm, wenn einem Kind eine halbwegs normale Orientierungsperson fehlt. Woran soll es sich halten? Und immer wieder die Frage: Was ist schon normal? Die Mutter in diesem Fall überschreitet so viele Grenzen und es wird aufgezeigt, wie ungeheuer schwierig es sein kann, irgendwie damit fertig zu werden. Das bezieht sich sowohl auf Familienmitglieder, wie auch auf Behörden. Obwohl ich selbst nun überhaupt kein Obrigkeitsfan bin, leben wir doch in einem völlig überregulierten Land, in dem die Bevölkerung von der Obrigkeit behandelt wird, als wäre sie nicht zurechnungs- und denkfähig.

Alice wächst in allerschlimmsten Zuständen auf. Es mangelt an wirklich Allem. An Essen & Trinken, an Obdach, an Hygiene im Innen und Außen. Da wird die nasse Wäsche nicht aus der Maschine geholt, bis sich dicke Schimmelpilze gebildet haben. Es gibt „Doppelsprech“ der Mutter, bis weder Alice weiß, noch der entfernt arbeitende Vater, was vorn und was hinten ist. Ständige Kämpfe mit dem Jugendamt, den Behörden, Gerichten und der Polizei gehören zur Tagesordnung. Auch vor dem Chef des Vaters und seinen Kollegen macht die Mutter nicht halt mit ihren extremen Anschuldigungen. Später tun sich die jeweiligen Freundinnen des Vaters schwer mit diesen Situationen und so manche hält es nur wenige Wochen aus. Auch die letzte, Irmi, benimmt sich gegenüber Alice unmöglich.

So verwundert es den Leser nicht, dass Alice sich mit seltsamen Partnern umgibt, da sie natürlich nicht unterscheiden kann, wer ihr guttut oder wer nur so tut, als ob er ihr gut täte. Denn: Ziehen nicht krasse Figuren ebenso krasse Figuren an? Die wenigen Psychologen helfen auch nicht weiter, sind sie doch meistens nur damit beschäftigt, ihr eigenes Leben in Ordnung zu bringen. Alice möchte so gern ans Theater, aber auch da geht es nur seltsam zu.

„Mama, du hast nie etwas anderes getan, als mir deine Sicht der Dinge zu erklären und was dir alle angetan haben. Aber auch du hast Fehler gemacht. Wie jeder Mensch. Du warst eben oft sehr, sehr wütend. Aber vielleicht ist Wut auch ein Rausch, der nur davon abhält, das zu fühlen, was zu schlimm ist.“ (S. 297) Aber Alice kommt nicht an, gegen die Mutter, die so offensichtlich völlig empathielos ist. Es mag wenige Ausnahmen in ihrem Verhalten geben.

Fazit: Puh, was für ein Roman! Erst gewöhnungsbedürftig, dann zunehmend brisanter & echt schräg. Bipolar vom Feinsten. Das „wackelige“ Cover wird dem Inhalt mehr als gerecht. Schwere Kost. Aber gekonnt. Die Formulierungen und die Vergleiche passen. Hut ab. 4 Sterne.

Bewertung vom 14.06.2024
Das dritte Königreich / Der Morgenstern-Zyklus Bd.3
Knausgard, Karl Ove

Das dritte Königreich / Der Morgenstern-Zyklus Bd.3


sehr gut

Pendeln zwischen den Welten

Die Morgenstern-Reihe ist keine einfache Reihe, aber das soll sie ja auch nicht sein. Hier nun der dritte Band, der auch die Drei im Titel trägt. Ich überlege gerade, welche der genannten Personen die unheimlichste ist. Sicher Tove. Sie überschreitet die Grenzen am deutlichsten. Aber was ist schon normal? Und was bedeutet überhaupt der Morgenstern? Wie es wohl wäre, nur für – sagen wir mal – eine Woche in Herrn Knausgårds Haut zu stecken? Kennt er solche Figuren, wie die, die in seinen Büchern vorkommen? Oder denkt er sich die aus? Möglicherweise ist aber beides gleich schlimm.

Die Kapitelüberschriften tragen die Namen der jeweiligen Ich-Erzähler. Es beginnt und endet mit Tove, der jungen Mutter mit bipolarer Störung. Sie hat drei Kinder. Nannte man diese Störung nicht früher Schizophrenie? Aber das Wort ist wohl aus der Mode gekommen. Toves Befindlichkeiten sind jedenfalls schwer zu ertragen für ihre Umgebung. Und es gibt offensichtlich immer noch keine Medikamente, die anderes können, als dämpfen oder abschalten. (Zeitweilig.) Tove erschafft Kunst aus dem Negativen. Ihr eröffnen sich Portale, real oder irreal, das sei dahingestellt. Und sie begibt sich in Gefahr und stellt aber auch selbst eine Gefahr dar. –

Zwei andere Protagonistinnen gibt es noch: Line und Kathrine. Line, eine junge Frau, die sich mutig, aber auch naiv, auf höchst gefährliches Terrain wagt. Und Kathrine, eine gestandene Pfarrerin, die ihren Glauben an Gott verliert. Sie bleibt als Einzige seltsam blass und ihre wahren Beweggründe erschließen sich dem Leser nicht wirklich.

Ob ich Lust hätte, mal in eine der Personen zu schlüpfen, nur für kurze Zeit? Eher nicht. Denn die meisten Männerfiguren hier erscheinen mir auch nicht erstrebenswert. Gaute: Der krankhaft eifersüchtige Lehrer, Ehemann von Kathrine? Nein, danke.

Oder Helge zu verkörpern? Den Architekten, der seit drei Jahren „leer“ ist und dem nichts mehr einfällt? Ebenfalls nein danke.

Jarle, der Gedankenforscher kümmert sich um einen vegetativen Patienten. Aber auch in diese Haut möchte ich eher nicht, denn hat er nicht seine beste Zeit bereits hinter sich?

Der Polizist Geir erlebt den Wahnsinn pur und verzweifelt an seinem Auftrag. Lesen ja, gerne und ist spannend, aber drinstecken – nein!

Bleibt noch Syvert, der Bestattungsunternehmer. Er scheint unter dem Morgenstern arbeitslos zu werden. Das ginge schon! Oh ja, kaufen wir uns ein Segelboot, das schönste auf der Welt und leben dort, wo es sich ausfahren lässt. Aber, wenn niemand mehr stirbt, müsste man eben beruflich umdisponieren.

Beim Recherchieren habe ich noch Folgendes gefunden: Als »Morgenstern« wird in der Regel der Planet Venus bezeichnet. Weil er kurz vor Tagesanbruch zu sehen ist, steht er als Sinnbild für das kommende Licht Gottes, das die Dunkelheit dieser Welt überwindet. In Offenbarung 22,16 bezeichnet sich der gekreuzigte und erhöhte Christus als Morgenstern. (Quelle: Deutsche Bibel-Gesellschaft)

Fazit: Die wahre Größe dieses Romanes erschließt sich erst im Nachgang, bei der Wahl der zu vergebenden Sterne. Ich runde dreieinhalb auf vier auf. Ich bleibe auf jeden Fall dabei und ersehne den nächsten literarischen Morgenstern, wenn mir auch die beiden ersten mystischeren Teile etwas besser gefielen.