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wasserklaenge

Bewertungen

Insgesamt 40 Bewertungen
Bewertung vom 19.02.2025
Der letzte Mord am Ende der Welt
Turton, Stuart

Der letzte Mord am Ende der Welt


ausgezeichnet

Eine Insel, umgeben von tödlichem Nebel. Gut 120 Menschen leben auf diesem letzten bewohnbaren Fleckchen Erde. Drei von ihnen sind Wissenschaftler, die fast wie Götter verehrt werden. Und dann ist eine von ihnen tot! Es bleiben nur 107 Stunden um den Mord aufzuklären, bevor die Insel vom Nebel verschluckt wird. Aber niemand erinnert sich mehr an die Nacht des Mordes – auch nicht der Mörder selbst.

Für Aufklärung sorgen soll Emory. Sie hat schon immer zu viele Fragen gestellt und sich damit wahrlich keine Freunde gemacht. Nun ist ihre Skepsis endlich zu etwas nütze! Zusammen mit ihrer Tochter Clara versucht sie, das Gespinst aus Lügen und Geheimnissen zu entwirren, dass die Wissenschaftler und allen voran die getötete Niema hinterlassen haben. Unterstützt werden sie dabei von Abi. Einer Stimme, die wie ein gutes Gewissen im Kopf jedes Inselbewohners steckt. Abi verbindet alle miteinander, kein Gedanke ist vor ihr geheim. Aber Abi ist Niemas Geschöpf. Ist sie noch an die Befehle der Toten gebunden oder verfolgt Abi vielleicht ihren eigenen Plan?

Nicht weniger als das Überleben der Menschheit steht in diesem Roman auf dem Spiel. Aber hat die Menschheit es überhaupt verdient zu überleben? Wird sie nicht den nächsten Krieg beginnen, den nächsten Mord planen? Hybris, Geheimnistuerei und Misstrauen sind leider nur allzu menschliche Eigenschaften. Turton spart an diesem Punkt nicht mit Kritik, und zusammen mit der Entwicklung der Hauptfiguren gibt das der Geschichte das gewisse Etwas!

Whodunit-Krimi trifft auf Science-Fiction trifft auf Dystopie. Ein Genre-Mix, der von mir aus gerne schon eher hätte erfunden werden dürfen! Es hat großen Spaß gemacht, zusammen mit Emory die zahlreichen Geheimnisse der Insel zu erkunden und ein Rätsel nach dem anderen zu entwirren!

Bewertung vom 17.02.2025
Toyboy
Theresia, Jonas

Toyboy


gut

In Toyboy erzählt Jonas Theresia von zwei ungleichen und doch ähnlich verlorenen Brüdern. Levin, der ältere, ist vor ein paar Jahren nach LA abgehauen und hat so gut wie alle Brücken hinter sich abgebrochen. Doch mit der Modelkarriere wollte es auch im fernen Amerika nichts werden und so ist er nun wieder zu Hause. Hier wohnt neben Katze Liu und der in jedem Wortsinn abwesenden Mutter auch noch Levins kleiner Bruder Georg. Georg vergräbt sich tagein tagaus in seinem Zimmer, zockt hauptsächlich und guckt nebenbei Pornos. Ein Klischeenerd. Levin macht sich Sorgen, aber bei ihm läuft das Leben auch nicht besser. In LA ist er gescheitert, in Deutschland scheitert er weiter. Ob als Callboy, Camboy oder bei Pornodrehs, Levin jagt von einer Panikattacke in die nächste und ist trotz Körperkontakt genauso einsam wie sein kleiner, unberührter Bruder.

Toyboy ist ein unterhaltsamer Roman über Geschwisterliebe und Sinnsuche. Über Gefühle und Verletzungen zu reden fällt hier allen schwer, aber Levin versucht es zumindest. Auch wenn er bei dem Versuch die Beziehung zu Georg zu kitten erstmal alles noch schlimmer macht.

Theresia erzählt zwar gekonnt von Levins aktueller Gefühlswelt - der Leere, der Panik, der Ungewissheit, der Liebe - aber darüber wie er so geworden ist erfährt man fast nichts. Ebenso bei Georg. Ich hätte gerne mehr über die Vergangenheit der beiden erfahren; warum beispielsweise Georg keine Freundschaften und Beziehungen außerhalb des Bildschirms führt oder warum Levin überhaupt auf die Idee kommt seinen Körper zu verkaufen obwohl es ihm doch offensichtlich ziemlich unangenehm ist.

Spaß gemacht haben allerdings die Ausflüge in die absurdesten Ecken der Erotikbranche, in der Levin Fuß fassen will, oder die Interaktion mit Oxana - einer Mischung aus OnlyFans-Camgirl und Lovescammerin.

Insgesamt habe ich Toyboy ganz gerne gelesen, am Ende blieb es mir aber zu brav und zu wenig mitreißend.

Bewertung vom 12.02.2025
Wenn wir lächeln
Unterlehberg, Mascha

Wenn wir lächeln


weniger gut

Jara und Anto sind mehr als beste Freundinnen. Sie sind Schwestern, immer zusammen, immer füreinander da, immer auch Achse.

Jara ist eher nachdenklich, oft besorgt und kommt aus einem liebevollen aber finanziell nicht gerade gutgestellten Elternhaus. Anto ist laut und selbstbewusst und macht, wonach ihr gerade der Sinn steht. Ihre Mutter hat zwar viel Geld, scheint aber nie da zu sein. Immer ist Anto allein.

Die unterschiedlichen Charaktere der beiden Mädchen spiegeln sich auch in den Dynamiken Ihrer Freundschaft wieder. Jara will Anto am liebsten für sich alleine, auch wenn Antos Präsenz schnell zu viel sein kann. Ich hatte den Eindruck, dass Jara eigentlich in Anto verliebt ist, aber die Geschichte geht darauf nicht weiter ein, was ich ein bisschen schade fand.

Die Gesellschaftskritik in Form von männlicher Übergriffigkeit, die Jara gefühlt täglich begegnet, fand ich etwas zu gewollt. Catcalls, Exibitionismus, Zwischen-die-Beine-greifen im Club, Anfassen ohne Konsens, eine Wette sie ins Bett zu kriegen, you name it, its there. Das hatte zusammen mit dem teils fragmentarischen Erzählstil nichts natürliches mehr und wirkte ein wenig wie das abarbeiten einer Liste.

Besonders zum Ende hin fand ich dem Roman zunehmend unstrukturiert erzählt und irgendwie ziellos. Zu den Figuren wollte sich keine Nähe aufbauen. So hat der Roman mir leider gar nichts gegeben. Als Alternative würde ich eher zu Ruth Maria Thomas „Die schönste Version“ raten.

Bewertung vom 28.01.2025
Die Gabe
Suzuki, Suzumi

Die Gabe


weniger gut

Eine Mutter will ein letztes Gedicht schreiben bevor sie stirbt und zieht dafür vom Krankenhaus in die kleine Wohnung ihrer Tochter. Die Tochter ist hin und hergerissen zwischen dem unkonkreten Wunsch der Mutter in ihren letzten Tagen beizustehen und dem Drang ihr aus dem Weg gehen zu wollen.

Dieser Roman fühlt sich dunkel und kalt an. Es gibt so viel, das Emotionen erzeugen müsste: Das langsame sterben der Mutter, der Su1zid einer Freundin, die kleine, kalte ungemütliche Wohnung, in die die Erzählerin immer wieder zurückkehrt, das Kontaktverbot mit dem Vater, die Sprachlosigkeit in der Beziehung von Mutter und Tochter. Doch irgendwie kam nichts davon an mich heran. Vielleicht wegen der verworrenen, unsentimentalen Erzählweise. Vielleicht, weil man sich beim lesen genauso betäubt fühlt wie die Erzählerin, die mit zu viel Alkohol und zu vielen Zigaretten in unpersönlichen Nachtclubs vor ihrem Leben flüchten möchte.

Ich habe leider nicht ganz durchblickt, was Suzumi Suzuki mit dem Roman eigentlich erzählen will. Bestimmt gibt er ein authentisches Bild des Lebens einer Hostess ab. Aber über deren Arbeit wird eigentlich kaum etwas erzählt. Hauptsächlich pendeln wir zwischen Krankenhaus und Wohnung, es passiert wenig. Auch über die Beziehung zwischen Mutter und Tochter habe ich nichts greifbares erfahren.

Der Klappentext spricht von „zwei Frauen mit ganz unterschiedlichen Verständnissen von weiblicher Selbstermächtigung, Liebe und Gewalt“. Wo hier von Selbstermächtigung und Liebe die Rede war, müsste mir bitte jemand anstreichen. Die Gewalt habe ich gefunden, bezweifle aber, dass davon unterschiedliche Verständnisse herrschen.

Ja, der Roman hat etwas soghaftes. Trotzdem blieb er für mich unbefriedigend. Unsentimental, distanziert, unkonkret. Die Gabe gibt einen kleinen Einblick in das Leben einer jungen Frau, die alle Gefühle tief in sich vergraben hat. Mit hat er leider nicht viel gegeben.

Bewertung vom 28.01.2025
Klapper
Prödel, Kurt

Klapper


sehr gut

Thomas wird wegen seiner ständig knackenden Gelenke von allen nur Klapper genannt. Und das eher nicht auf liebevolle Weise. Er ist ein Außenseiter, bekommt kaum den Mund auf und verbringt fast seine komplette Zeit damit Counter-Strike zu zocken. Darauf welches Bandshirt er wohl als nächstes tragen wird werden schon Wetten abgeschlossen. Er ist ein lieber Kerl, nur leider merkt das niemand. Bis Bär kommt.

Bär heißt eigentlich Vivi und im Gegensatz zu Klapper hat sie sich ihren Spitznamen selbst ausgesucht. Sie ist groß und stark, sie steht auf Deutschrap und lässt sich von niemandem herumschubsen. Und irgendwie hat sie sich den verschlossenen Klapper als Freund auserkoren.

Dieser Roman ist überraschend unterhaltsam, die Seiten fliegen nur so dahin! Prödel trifft einen Ton der nostalgisch macht, etwas wahrhaftes hat, witzig ist aber auch Bitteres nicht ausspart. Mir ist Klapper richtig ans Herz gewachsen. Man wünscht ihm, dass er mal aus sich heraus kommt - so, wie wenn er seinem Spießerpapa Kontra gibt. Aber wenn man sich die 2025er Storyline so anschaut, scheint das nicht geklappt zu haben. Er ist genauso verschlossen und einsam wie eh und je. Was ist also passiert? Und wieso ist Bär aus seinem Leben verschwunden?

Cringer 2011er Deutschrap, lange vergessene Axe-Deo-Werbung, das Gefühl ein angsty Teenager zu sein und die fast schon alltäglichen Dramen, die sich hinter verschlossenen Türen abspielen – Prödel erspart dem Leser nichts. Mit Klapper ist ihm ein wunderbar unterhaltsamer und authentischer Roman über Freundschaft und das Erwachsenwerden gelungen. Traurigschön und manchmal wunderbar absurd.

Bewertung vom 15.12.2024
Only Margo
Thorpe, Rufi

Only Margo


ausgezeichnet

Margo ist gerade mal 19 als sie von ihrem Literaturprofessor schwanger wird. Der hat bereits Frau und Kinder und will mit Schwangerschaft und Baby nichts zu tun haben. Mit dem Baby ist an ein Studium nicht mehr zu denken und ihren Kellnerjob ist Margo schneller los als sie gucken kann. Auch von ihren Eltern ist nicht viel zu erwarten: Ihr Vater, ein ehemaligen Wrestling-Star, hat bisher hauptsächlich mit Abwesenheit gegläntz und ihre Mutter ist so desinteressiert und überfordert mit ihrem kleinen Enkel, dass man sich fragt, wie sie ihr eigenes Kind überhaupt zu einem halbwegs normalen Menschen hat heranziehen können.

Margo ist also mehr oder minder auf sich allein gestellt und so entsteht die Idee sich einen OnlyFans-Account anzulegen. Damit verdient sie gut, kann von zu Hause arbeiten und sich nebenbei um Baby Bodhi kümmern. Aber bringt der Account vielleicht mehr Probleme mit sich, als er löst?

Nach den ersten Seiten dachte ich: Oje, eine schwangere, komplett naive 19-Jährige, das kann ja heiter werden! Aber schon bald hat mich die Geschichte total in ihrem Bann gezogen und nicht mehr losgelassen! Margos Stärke, ihre Kreativität und die Entwicklung die sie im Laufe der Geschichte durchmacht, sind einfach toll zu lesen.

Rufi Thorpe zeichnet ein lebendiges Bild davon, welche Steine jungen Müttern in den Weg gelegt werden. Welche Vorurteile herrschen, wie machtlos man sich fühlt und wie man dafür verachtet wird, wenn man sich etwas Macht zurückholen möchte. Zusammen mit einem Wrestling-Vater, einer Cosplay-Mitbewohnerin und den nischigen Ecken von Social-Media kommen die ernsten Themen aber nicht zu harsch daher. Zwar möchte man teilweise ins Buch beißen vor lauter Ungerechtigkeit, es gibt aber auch witzige Stellen und manchmal ist es schlicht und einfach schön, beispielsweise wenn Margo ihrem Vater endlich näher kommt.

Wie schon Rufi Thorpes ersten Roman habe ich dieses Buch an einem Wochenende durchgesuchtet. Ich war so in Margos Schicksal involviert, dass nicht weiter zu lesen einfach keine Option war. Thorpe spielt dazu noch so geschickt mit einer Mischung aus Ich-Erzählerin und dritter Person, dass Margos Leben noch realer wirkt.

Wer eine ernste Geschichte mit Witz, Chaos und Wrestling lesen möchte, die einen in die seltsameren Ecken des Internets führt, dabei berührt und mitreißt, der ist hier genau richtig! Ich habe das Buch wirklich gerne gelsen und vermisse Margo und Co jetzt schon!

Bewertung vom 26.09.2024
Die Passagierin
Friedrich, Franz

Die Passagierin


sehr gut

Jahre nach ihrer Evakuierung zieht es Heather nach Kolchis zurück. Wie tausende andere ist sie via Zeitreise hierher gerettet worden. Im mittlerweile ziemlich heruntergekommenen Sanatorium hat sie ihre Teenagerjahre verbracht und seltsame Phantomerinnerungen aus dieser Zeit suchen sie heim. Eigentlich will sie sich mit ihrer eigenen Vergangenheit beschäftigen, aber die der anderen Rückkehrer nimmt ihre Aufmerksamkeit mindestens ebenso gefangen. Was ist es, das sie alle in Kolchis zu finden hoffen?

Ich mochte es, dass man sich hier erstmal irgendwie zurechtfinden muss. Was sind das für Leute auf die Heather trifft? Was hat es mit Kolchis und den verschiedenen Gebäuden des Sanatoriums auf sich? In welchem Jahr befinden wir uns überhaupt? Was waren das für Rettungsmissionen und warum gibt es sie aktuell nicht mehr? Nach und nach klärt sich all das, auch wenn es nicht Friedrichs Fokus ist, uns seine fiktive Zukunft in all ihren Details zu erklären. Hier und da gibt es eine Information aber lieber konzentriert er sich auf seine Figuren. Warum sind sie nach Kolchis zurückgekehrt und woher kommen sie ursprünglich? Aber auch hier wird mit vielen Worten oft gar nicht so viel gesagt. Die teils spleenigen Bewohner kreisen um sich selbst, hadern mit Details und haben sich in Kolchis ihre eigene kleine Welt geschaffen. Allerdings scheint sich heraus zu kristallisieren, dass Glück und Dankbarkeit der Geretteten stets mit einem kleinen „aber“ versehen sind – auch wenn niemand wirklich zurück will.

Besonders interessant ist natürlich Matthias. Der zurückhaltende und freundliche junge Mann kommt aus dem tiefsten Mittelalter. Einst ein Söldner in den Bauernkriegen, blick er nun absolut reflektiert auf seine Zeit zurück und wünscht sich, diese mit kleinen Erfindungen erträglicher machen zu können. Und obwohl Heather bei weitem nicht so einen langen Weg hinter sich hat, hat sie ihre Vergangenheit weit von sich geschoben. Und das obwohl sie selbst Rettungsmissionen geflogen ist und die Möglichkeit hatte einen Blick zu riskieren.

Friedrichs Idee ist stark: Was tust du, wenn du aus deiner Zeit in eine ferne Zukunft gerettet wirst, alles und alle zurücklässt und nun weißt, dass Eingriffe in der Vergangenheit möglich sind aber eben nur in Kleinen. Verzweifelst du an denen, die nicht gerettet werden konnten? Lässt es dich nicht los, dass man nichts gegen Kriege und Hunger in deiner Zeit tun kann? Dass du deine Familie zurückgelassen hast? Oder bist du einfach dankbar am Leben zu sein und für all die Errungenschaften, an denen du nun teilhaben kannst? Ich kann mir allerdings vorstellen, dass sie Umsetzung dieser Story nicht jedem gefällt. All diese Fragen werden wie nebenbei gestreift. All die Science-Fiction meist nur angedeutet. Es ist ruhig erzählt, es wird viel geredet und die Handlung ist erstaunlich sparsam und unspektakulär bei so einer Vorlage.

Mir hat der Roman trotzdem gut gefallen, weil ich die Stimmung mochte, die im verfallenen Kolchis herrscht. Weil ich es mag, nicht gleich alles zu verstehen und nur langsam dies und das herauszufinden. Und weil mir Friedrichs Sprache und Figuren gut gefallen haben. Wer also auf nachdenkliche dialoglastige Geschichten mit Sci-Fi-Touch steht, der sollte es hiermit durchaus einmal versuchen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.09.2024
Das Wohlbefinden
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


gut

Die Beelitzer Heilstätten sind etwas ganz Besonderes! Hier erholen sich um 1900 herum Arbeiterinnen und Arbeiter mit Liegekuren, Bädern und Sport von der Tuberkulose. Ein Heilmittel gibt es noch nicht, aber es dämmert die Erkenntnis, dass es auch wirtschaftlich sinnvoller ist, gesunde und erholte Mitarbeiter zu haben, als mehr und mehr Tuberkulosetote. Bei Arbeitszeiten von teils weit mehr als 60 Stunden in der Woche ist Erholung auch dringend nötig.

In ebenjenen Heilstätten trifft die Schriftstellerin Johanna Schellmann auf die Arbeiterin Anna, die durch alle möglichen mysteriösen Vorhersagen und Erscheinungen schon eine kleine Berühmtheit geworden ist. Ein Teil der Insassinnen verehrt sie, ein anderer Teil verteufelt sie. Die resolute Schellmann, die mit den gerade so en vougen spiritistischen Sitzungen eigentlich gar nichts anfangen kann, verfällt aber schnell Annas Charme. Aber was genau ist Annas Beitrag zum literarischen Durchbruch der Schellmann? Und was ist dran an Annas Hellsichtigkeit?

Ich mochte den Teil des Romans, der zwischen 1907 und 09 spielt, sehr gerne. Ulla Lenze zeichnet ein lebendiges Bild einer Zeit zwischen Aufklärung, alten Konventionen und spiritistischer Mode. Auch der Teil in den 60ern war interessant: Hier erleben wir eine einsame, zunehmend verwirrte und gänzlich irrelevant gewordene Schellmann, die aber offenbar noch mit etwas abschließen muss, was Anna und die damalige Zeit betrifft. Etwas sperrig hingegen kam der Teil daher, in dem wir die Enkelin Schellmanns während der Coronazeit begleiten. Die Tücken des Berliner Wohnungsmarktes kamen etwas aufgesetzt daher. Auch war die Enkelin in meinen Augen wenig sympathisch. Darin ähnelt sie zwar der Schellmann, aber deren Figur war doch weitaus vielschichtiger!

Leider hat mich der Roman mit der Zeit etwas verloren. Hintenraus kam trotz Wendung keine Spannung auf. Die Überraschung hat einfach nicht gezündet und die Hellsichtigkeit Annas wird schlicht irrelevant. Ich hatte das Gefühl, mit einem anderen Storytelling hätte man aus dieser Geschichte viel mehr herausholen können. Schade, ich hatte mir bei diesem spannenden Setting weit mehr erhofft!

Bewertung vom 26.09.2024
Heilung
Kaleyta, Timon Karl

Heilung


sehr gut

Schon lange kann er nicht mehr richtig schlafen. Selbst wenn er einnickt, bringt ihm das keinerlei Erholung. Seine Ehe leidet, er ist gereizt, ein normaler Alltag kaum möglich. Doch gesundheitlich scheint mit ihm alles in Ordnung zu sein. So führt ihn sein Weg schließlich ins San Vita. Das malerische Luxus-Sanatorium mit dem berühmten Leiter Prof. Trinkl verspricht Heilung, wo sonst keine möglich scheint. Doch wirklich öffnen kann er sich dem seltsamen Professor nicht. Dafür kommen alte Erinnerungen wieder hoch. Vielleicht können die ihm helfen?

Kaleyta schreibt sehr stimmungsvoll. Der kurze Roman wirkt bedeutungsschwer und irgendwie aufgeladen. Auch unangenehm wird es hin und wieder, beispielsweise, wenn Trinkl dem Mann wiederholt die Wange streichelt, dass alles kameraüberwacht zu sein scheint oder die Umtriebe von Trinkls seltsam wortkargen, einarmigen Gehilfen.

Aber auch, wenn ich die Bedenken der Hauptfigur Trinkl und seiner Situation gegenüber gut nachvollziehen kann; er kann einen verrückt machen mit seiner Mischung aus Ablehnung, Verdrängung, grundlegender Ziellosigkeit, Unsicherheit und plötzlicher Manie.

Kaleyta ist es wirklich gut gelungen, das Verschwimmen von Traum und Realität darzustellen. Aber auch die Suche nach Sinn im Leben, die Sehnsucht nach Natur und die Verwirklichung von Träumen stellt er gut dar. Was will ich? Wer bin ich? Und was tue ich, wen ich mich in mir getäuscht habe?

Für mich war Heilung ein gelungener Roman, wenn auch etwas irre. Durch den bedeutungsvoll aufgeladenen Ton hatte ich oft das Gefühl, mir entgeht etwas Grundlegendes. Aber auch wenn das so sein sollte: Ich hatte Spaß mit diesem Buch!

Bewertung vom 26.08.2024
Taumeln
Scherzant, Sina

Taumeln


sehr gut

Luisas ältere Schwester Hannah ist verschwunden. Das ist jetzt schon zwei Jahre her, aber Luisas Leben steht trotzdem noch auf dem Kopf. Jeden Samstag geht sie mit einer auf mittlerweile acht Teilnehmer dezimierten Gruppe auf Spurensuche im angrenzenden Wald. Kurz nach Hannahs Verschwinden waren es Hunderte die nach ihr suchten. Nun gibt es kaum noch Hoffnung, aber ganz loslassen kann Luisa noch nicht. Und auch die anderen Teilnehmer des kleinen Suchtrupps haben so ihre Gründe, warum sie noch mit Luisa durch den Wald ziehen.

Sina Scherzant erzählt diese Geschichte von Verschwinden und Verlorensein sehr ruhig und bedächtig. Man spürt die individuelle Trauer der Figuren, erfährt hier und da mehr Details aus ihrem Leben und verliert so trotz des gemäßigten Tempos nie die Lust weiterzulesen.

Ich fand die Einblicke in Franks und Inges Leben besonders gelungen. Auch der etwas sperrigen Luisa kommt man nach und nach näher. Wie sehr das Verschwinden der Schwester ihr komplettes Leben über den Haufen geworfen hat ist wirklich gut erzählt. Auch das kaum auszuhaltende Schweigen in ihrem Elternhaus, das Luisa so gerne verlassen wollte und nun nicht kann, trifft einen hart.

Ein wenig schade fand ich, dass man über drei der acht Personen des Suchtrupps so gut wie gar nichts erfährt. Dabei wäre durchaus Potential vorhanden gewesen. Aber vielleicht hätte das auch zu weit geführt. Jedenfalls habe ich mich beim lesen über jeden kleinen Schritt gefreut, den die Gruppe aufeinander zumacht. Da der Anlass der Treffen ja ein ziemlich trauriger ist, fällt es schwer locker und freundschaftlich miteinander umzugehen. Diesen Spagat zu beschreiben, ist Scherzant geglückt.

Taumeln ist ein ruhiger und trauriger Roman über Verlust und verschiedene Arten der Einsamkeit. Sehr realistisch und mit gelungenen Figuren. Mir hat er wirklich gut gefallen.