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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 182 Bewertungen
Bewertung vom 30.09.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


sehr gut

Irgendwann im Jahr 2027: Die Menschen auf Makatea, einer kleinen Pazifikinsel, müssen sich entscheiden: Aus den USA gibt es das Angebot, aus dem verschlafenen Eiland eine Gesellschaft der Zukunft zu machen, eine schwimmende Stadt mit hochmodernem Hafen. Hoffnungen und Zweifel halten sich die Waage. Unter den Unentschlossenen befinden sich auch die über 90-jährige Meeresforscherin Evie Beaulieu, Künstlerin Ina Aroita und ihr Mann, der Literaturfreund Rafi Young, den einst eine tiefe Freundschaft mit dem mittlerweile steinreichen IT-Nerd Todd Keane verband. Währenddessen erinnert sich der demenzkranke Keane in den USA an diese Freundschaft und ihre Anfänge. Was hat die beiden Sonderlinge einst nur auseinandergebracht?

Über eine zerbrechende Männerfreundschaft, den Einfluss der Technik auf den Menschen und die unbändige Liebe zum Ozean schreibt Richard Powers in seinem neuesten Roman „Das große Spiel“, der in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Eva Bonné bei Penguin erschienen ist. Im Vergleich zum Vorgänger „Erstaunen“ also ein neuer Verlag, eine neue Übersetzerin, aber immer noch die große Lust des Erzählers Powers, so aktuelle und gesellschaftsrelevante Themen wie Umweltschutz und technischen Fortschritt zu vereinen. Während Makatea und seine Bewohner:innen für den Ozean und die Natur stehen, verkörpert Todd Keane die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Computertechnologie inklusive Künstlicher Intelligenz.

Dabei wechselt sich Richard Powers in den einzelnen Erzählsträngen ab, wobei Todd Keane als Ich-Erzähler in einer Art Tagebuch auf sein bewegtes Leben zurückblickt, während Makatea von einem allwissenden Erzähler beobachtet wird. Verbindendes Element zwischen beiden Welten ist die Figur Rafi Young. Auf Makatea arbeitet er mittlerweile als Pädagoge in der Inselschule, einst schaffte er als schwarzer Junge den Aufstieg in die Eliteschulen der USA, wo er sich aufgrund der gemeinsamen Leidenschaft für Brettspiele mit Todd anfreundete.

Als Leser:in braucht man auf den gut 500 Seiten des Romans durchaus einen langen Atem, denn insbesondere die Freundschaft zwischen Rafi und Todd nimmt in den Rückblicken einen großen Raum ein. Zudem nervt sie mit der Zeit ein wenig, da das Verhältnis der beiden zueinander ständig von einer aufgesetzten Coolness der Figuren begleitet ist. Stärker ist „Das große Spiel“, wenn Richard Powers sich auf seine in jedem Moment spürbare Liebe zu der Natur, in diesem Fall insbesondere zum Ozean und seinen Bewohnern konzentriert. Wenn beispielsweise die Ozeanologin Evie mit riesigen Mantarochen um die Wette schwimmt oder sich Ina Aroita gemeinsam mit ihrer Tochter um den Plastikmüll im Magen eines verendeten Albatros kümmert, setzt der Roman auch sprachlich seine auffälligsten Akzente.

Wobei die eigentliche Sensation des Romans das Finale ist. Ohne zu viel verraten zu wollen, setzt Richard Powers auch in „Das große Spiel“ wie schon in „Erstaunen“ zu einem bemerkenswerten Schlussakkord an, ja, zu einem regelrechten Paukenschlag, der einen komplett aus der Bahn wirft. Hier erhält auch der Romantitel einen doppelten oder gar dreifachen Boden. Denn neben den Spielen von Todd und Rafi und dem Spiel von Evie Beaulieu mit den Tieren des Ozeans ist es eben auch Richard Powers, der ein großes Spiel mit der Leserschaft betreibt.

Auffällig ist zudem, dass auch Powers offenbar das ewige Leben oder die Umkehrung des Todes umtreibt. Denn wie schon in der „Morgenstern“-Reihe von Karl Ove Knausgard spielt auch in diesem Buch die Theorie des russischen Philosophen Nikolai Fjodorowitsch Fjodorow eine zentrale Rolle.

Insgesamt ist „Das große Spiel“ ein lesenswerter Roman zwischen Umweltschutz und Künstlicher Intelligenz, der zwar Längen aufweist, aber spätestens mit dem großartigen letzten Viertel die Leserschaft auf seine Seite ziehen sollte.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.09.2024
Das Wohlbefinden
Lenze, Ulla

Das Wohlbefinden


sehr gut

Beelitz, 2020: Als sich Vanessa die luxuriös sanierte Wohnung im ehemaligen Postgebäude der Beelitzer Heilstätten anschaut, weiß sie sofort, dass sie sich diese nicht leisten kann. Knapp 400.000 Euro für 66 Quadratmeter, wer soll das vom Makler angepriesene "Schnäppchen" bloß bezahlen? Doch sie braucht dringend eine Wohnung, weil ihr der Vermieter wegen Eigenbedarfs in zentraler Berliner Lage einfach gekündigt hat. Noch ahnt sie nicht, dass die Begegnung mit dem Makler und die Besichtigung der Heilstätten ihrem Leben eine ungeahnte Wende geben sollen. Denn an diesem Ort recherchierte einst Vanessas Urgroßmutter Johanna für ihren Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenen Erfolgsroman "Das Schmuckzimmer". Und es ist ausgerechnet der Makler Maurus, dem ein bislang unveröffentlichtes Manuskript Johannas vorliegt...

Zugegebenermaßen ein wenig konstruiert beginnt Ulla Lenzes neuer Roman "Das Wohlbefinden", der bei Klett-Cotta erschienen ist und es bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 schaffte. Dennoch ist dieser Beginn so aufregend, dass die Leserschaft es ihm verzeihen wird. Denn Lenze öffnet sogleich den Vorhang für den eigentlichen Star des Buches: Welcome to Beelitz, dem "Zauberberg der Proletarier", wie ein Professor die Heilstätten 1907 einst nannte, und genießen Sie doch Ihren Aufenthalt an diesem etwas surrealen Ort, den die Natur längst für sich zurückerobert hat. Überhaupt trifft Ulla Lenze mit den Heilstätten als Ort des Geschehens ganz offenbar einen Nerv der zeitgenössischen Literatur.

"Das Wohlbefinden" umspannt dabei von 1907 bis 2020 mehr als 100 Jahre und setzt geschickt auf diverse Orte und Perspektiven. Hervorzuheben ist, dass es Lenze ganz hervorragend gelingt, die zeitlich unterschiedlichen Handlungsstränge auch erzählerisch komplett anders klingen zu lassen.

In den Heilstätten selbst erfährt man zudem wie im Vorbeigehen viele interessante Aspekte über den aufkommenden Okkultismus der Zeit, aber auch über die medizinischen Fortschritte, bei denen man sich manchmal in der überaus gelungenen ersten Staffel der ARD-Serie "Charité" wähnt. Historische und fiktive Figuren geben sich dabei ein Stelldichein. Klug und unterhaltsam erzählt Lenze von der Annäherung zwischen Johanna und Anna, der dritten Schlüsselfigur dieses von Frauen dominierten Romans. Anna ist ein Medium, dessen ohnehin schon hellseherische Fähigkeiten nach einer Art Nahtoderfahrung offenbar ins Unermessliche wechseln. Anna wird zu Johannas Muse und beeinflusst die Entstehung von Johannas Roman "Das Schmuckzimmer" auf nicht unerhebliche Weise. Doch was ist damals wirklich vorgefallen zwischen den beiden, dass Johanna Annas Namen aus der Danksagung der weiteren Auflagen einfach herausstrich? Hier setzt inhaltlich der dritte Handlungsstrang ein, der 1967 spielt und in dem die mittlerweile an Demenz leidende Johanna Annas wahre Geschichte aufschreiben will - in just dem Manuskript, das 2020 dem Makler Maurus vorliegt.

All dies funktioniert in der ersten Hälfte des Romans außerordentlich gut. Mit Spannung erwartet man vor allem, wie sich die Begegnung zwischen Johanna und Anna entwickeln wird, aber auch, wie nah der in den Heilstätten tätige Professor Blomberg seinem Ziel kommt, Heilung vor allem durch Wohlbefinden zu erreichen. So ist dieser Blomberg auch im Binnenverhältnis zwischen Anna und Johanna eine zentrale Figur der ersten gut 150 Seiten.

Allerdings begeht Lenze den Fehler, Blomberg irgendwann einfach sang- und klanglos aus dem Roman scheiden zu lassen, während sich das Buch mehr und mehr auf Anna und Johanna konzentriert. Anna wohnt mittlerweile in Johannas schönem Haus und entpuppt sich gerade mit Blick auf Johannas Ehe mit dem Mediziner Clemens als Störfaktor. Und auch der Leserschaft fällt Anna alsbald auf die Nerven. Seit ihrer Nahtoderfahrung bringt Anna nämlich kaum noch klare Sätze hervor, sondern betont immer und überall das Göttliche und dass Gott durch sie spreche. Plötzlich klingt auch die zuvor noch so elegante Sprache wie aus einem unterdurchschnittlichen Historien-Roman. "Wenn Sie Ihrer Seele lauschen und diese zum Klingen bringen, werden auch andere lauschen", heißt es an einer Stelle. "Sie müssen Ihrem Herzen vertrauen. Weil das, was in Ihnen ist, seine Antwort finden muss", kurz zuvor. So reiht sich Platitüde an Platitüde und auch die Beelitzer Heilstätten sind nahezu vergessen, weil sie in der zweiten Hälfte kaum noch auftauchen.

Eine weitere Schwäche ist, dass insbesondere die Figur der Vanessa überhaupt nicht an Kontur gewinnt und keine Entwicklung zeigt. Eigentlich bleibt sie die ganze Zeit auf Wohnungssuche und macht - gemeinsam mit Lenze - viel zu wenig aus dem unerwartet aufgetauchten Manuskript aus dem Jahr 1967. Letztlich scheint sie nur zu existieren, um die Heilstätten auch im Jahr 2020 einmal auf die Leserschaft wirken lassen zu können.

Bewertung vom 16.09.2024
In den Wald
Vaglio Tanet, Maddalena

In den Wald


ausgezeichnet

Als die Lehrerin Silvia aus der Tageszeitung vom Tod ihrer elfjährigen Schülerin Giovanna erfährt, gibt es für sie nur eine Entscheidung: Sie kann jetzt nicht in die Schule gehen, sondern sucht Unterschlupf im Wald. Dort, wo sie selbst schon als kleines Mädchen mit ihrem Cousin Anselmo gespielt hat, jeden Baumstumpf kannte, jedes Tier. Sie fühlt sich schuldig, hatte sie doch noch kurz zuvor einen Anruf bei der Mutter Giovannas getätigt. Wie lebt es sich mit diesen Schuldgefühlen? Und wie verschwindet man als Erwachsener eigentlich am besten, wenn man gar nicht gefunden werden möchte? Darüber und über so viel mehr schreibt Maddalena Vaglio Tanet in ihrem Debütroman "In den Wald", der in Italien für den Premio Strega nominiert war und in der Übersetzung aus dem Italienischen von Annette Kopetzki bei Suhrkamp erschienen ist.

Sofort ins Auge sticht die stilvolle Covergestaltung mit dem herbstlichen Wald und der überproportional großen Schrift, die an den italienischen Giallo erinnert und die Leserschaft damit unmittelbar in den Herbst 1970 katapultiert, den Zeitpunkt der Romanhandlung. Wer nun allerdings auf Thriller- oder gar Horrorelemente hofft, wird enttäuscht, denn Maddalena Vaglio Tanet setzt vielmehr auf eine sich still und langsam entwickelnde Handlung. Auch wenn Silvia durchaus ihre Gespenster sieht.

Dabei ist es nicht nur der Wald als Handlungsort, der dem Roman eine märchenhafte Komponente verleiht. Wenn Silvia und Anselmo als Kinder allein durch ihn streifen, um Pilze zu sammeln, meint man im Hintergrund die Hexe in ihrem großen Lebkuchenhaus zu wittern. Und natürlich gibt es auch einen Helden: Vorhang auf für den elfjährigen Martino, dessen magische Fähigkeiten sich allerdings darauf beschränken, auf seine innere Stimme zu hören und sich mit Herz und Verstand den zahlreichen Gefahren des Waldes - und des Lebens - zu stellen.

Denn so viel sei verraten: Letztlich ist es Martino, der die Lehrerin im Wald findet. Ein kleiner Asthmatiker aus Turin, der wegen seiner Krankheit und der besseren Luft seinen Weg in diese ländliche Umgebung des Piemont gefunden hat und sich nun dem Dilemma ausgesetzt sieht: Was macht man mit einem Menschen, der gar nicht gefunden werden möchte? Noch dazu eine Lehrerin...

Wie Maddalena Vaglio Tanet dieses Dilemma in Szene setzt, wie sie sich hineinfühlt in Martino, Silvia und die zahlreichen anderen Nebenfiguren, ist ganz große und herzerweichende Kunst. Ganz besonders erstaunlich ist dabei ihr Gefühl für die Kinderfiguren, deren Zweifel und Ängste sie in jedem Moment greifbar macht. So ganz nebenbei gelingt ihr mit Martino dabei eine der wohl liebenswertesten Jungenfiguren der jüngeren zeitgenössischen Literatur. Hier spürt man, dass Vaglio Tanet in Italien bereits Kinderbücher veröffentlicht hat. So vorsichtig wie zärtlich nähern sich die beiden Hauptfiguren einander an: sie, die alleinstehende Lehrerin, die für die Schule lebt und er, der Junge, der die große Stadt und seine Freunde vermisst. Zwei einsame Außenseiter:innen, deren Leben durch die Begegnung im Wald eine dramatische Wendung nimmt.

Auch sprachlich hervorragend ist zudem die Schilderung des Waldes, der wie eine eigene Figur Raum einnimmt. Dieser Wald, zugleich Schutz und Gefahr, wird nicht nur durch seine Bewohner, die Tiere und Pflanzen, charakterisiert, sondern repräsentiert in seiner Undurchdringlichkeit auch so etwas wie die inneren Kämpfe Silvias, ihre Zweifel, Schuldgefühle, aber auch ihre Verantwortung gegenüber Martino.

"In den Wald" glänzt zudem durch enorme doppelschichtige Erzählkunst. So sind es die Geschichten, die sich die Figuren gegenseitig erzählen, die im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig sind. Aus ihnen zieht Martino seine Kraft, sie sind es auch, die den Lebensmut Silvias nicht versiegen lassen. Insgesamt schafft Vaglio Tanet ein so buntes und liebenswertes Potpourri aus Figuren und Geschichten, dass es "In den Wald" mühelos auf die Liste meiner Lieblingsbücher des Jahres geschafft hat.

Möchte man etwas kritisieren, dann ist es vielleicht die Tatsache, dass der Roman das Todesopfer Giovanna, das charakterlich an die "Malnata" von Beatrice Salvioni erinnert, etwas zu früh aus den Augen verliert. Doch letztlich ist es natürlich Martino, der auch hier die passende Antwort parat hat. Schließlich sind es die Lebenden, die wichtig sind und um die man sich kümmern muss. Wie ein echter Held aus dem Märchen.

"In den Wald" von Maddalena Vaglio Tanet ist in seiner Gesamtheit ein hinreißender und warmherziger Roman, der unter den jetzt zahlreich erscheinenden Übersetzungen aus dem Italienischen hoffentlich auch auf der Frankfurter Buchmesse für Furore sorgen wird. Verdient hätte er es allemal.

Bewertung vom 16.09.2024
Verlassene Nester
Hempel, Patricia

Verlassene Nester


gut

Die 13-jährige Pilly wächst Anfang der 1990er-Jahre irgendwo in der Nähe von Magdeburg im ehemaligen Elbe-Grenzgebiet auf. Die DDR spukt den Menschen noch in den Köpfen herum, während Industriebauten brach liegen und Investoren aus dem Westen schon bereitstehen. Wie soll man da erwachsen werden, wenn die Mutter verschwunden ist und der Vater ein passionierter Trinker? Als Pilly Anschluss an die etwas älteren Freundinnen Katja und Bine findet, spürt sie endlich so etwas wie Nähe. Gerade bei Katja fühlt sie sich geborgen. Aber wird das Mädchen die Gefühle erwidern?

Über zarte queere Liebe, die Probleme des Erwachsenwerdens und einen untergegangenen Staat schreibt Patricia Hempel in ihrem zweiten Roman „Verlassene Nester“, der bei Tropen erschienen ist. Er beginnt wie ein typischer Coming-of-Age-Roman mit jugendlich-sexualisierten Machtspielchen, Tierquälereien und ähnlichen Dingen, die man wohl schon hundertfach gelesen hat. Das Besondere an „Verlassene Nester“ ist eher das Setting. Und tatsächlich ist dieses Setting mit seinen Beschreibungen auch die Stärke des Romans.

Denn Patricia Hempel gelingt es immer wieder, die verlassenen Nester des Ortes atmosphärisch in Szene zu setzen. In einem besonders bemerkenswerten Moment blickt Pilly beispielsweise an einem verregneten Tag auf ihre Umgebung, die von einer gewissen Trostlosigkeit, aber auch Melancholie überzogen wird. Industrieromantik at its best. Dazu passt dann auch der sachliche, bisweilen etwas nüchterne Ton der Sprache.

Schnell klar wird auch die Mehrdeutigkeit des gelungenen Buchtitels. Nicht nur die Menschen verlassen ihren Ort, auch die Mädchen werden langsam erwachsen. Zudem gibt es zahlreiche Anspielungen auf Vögel, da eine zentrale Figur – die von fast allen als Stasispitzel geächtete Frau Klinge – eine große Naturliebhaberin und Kennerin der Verhaltensweisen der Vögel ist. Doch diese Frau Klinge ist vor allem für Pilly und ihren Vater Martin mehr, springt sie doch an den Nachmittagen als eine Art Ersatzmutter ein, da Pillys Mutter selbst das Nest schon vor langer Zeit verlassen hat.

Die Schwäche des Buches ist letztlich die Erzählstruktur. Hempel verheddert sich in ihren zahlreichen Perspektiv- und Erzählstimmenwechseln und der Unmenge an Einzelthemen, die sie in die knapp 300 Seiten packen möchte. Da sind Pillys queere Gefühle, da ist ihr lesbisches Tantenpaar, das kurz vor dem Verkauf ihres einst so beliebten Hexengartens steht, da ist ein Brandanschlag in einer Datscha, in der Vietnames:innen leben, da sind Verdächtigungen und Spitzeleien, da sind die Alkoholprobleme Martins und das Rätsel um das Verschwinden von Pillys Mutter, da ist generell das zentrale Thema der Mutterschaft und den überall fehlenden Mutterfiguren, das dem Roman letztlich seine Struktur geben könnte. Macht es aber nicht, weil Hempel keinen der Erzählstränge auserzählt, plötzlich Figuren einführt, die der Leserschaft unbekannt bis völlig egal sind und am Ende auf eine dem Roman unangemessen hohe Prise Dramatik setzt.

Und auch die Figuren bleiben eher blass, selbst Protagonistin Pilly, die sich im gesamten Roman eigentlich kaum entwickelt. Am interessantesten ist da noch die Figur ihres Vaters Martin, der trotz seiner Alkoholprobleme und seiner Zweifel an der Vaterschaft immer wieder sein Bestes versucht, um Pilly ein guter Vater zu sein – und doch gnadenlos scheitert.

So bleibt „Verlassene Nester“ insgesamt ein eher unbefriedigender Versuch, die gesellschaftliche Relevanz eines untergegangenen Staates mit der Coming-of-Age-Geschichte eines Mädchens zu vereinen, wie es beispielsweise Anne Rabe in „Die Möglichkeit von Glück“ deutlich besser gelang. Schade, denn gerade im Mittelteil blitzt das Potenzial des Romans immer wieder auf.

2,5/5

Bewertung vom 09.09.2024
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Knüwer, Thomas

Das Haus in dem Gudelia stirbt


gut

Als die 81-jährige Gudelia aus dem Fenster ihres Hauses im fiktiven Unterlingen schaut, traut sie ihren Augen kaum. Tote Schweine schwimmen vorbei, zerstörte Autos – und waren das gerade nicht zwei menschliche Leichen? Die Flut hat Unterlingen mit voller Wucht getroffen. Längst haben Gudelias Nachbar:innen den Ort verlassen. Doch Gudelia bleibt. Denn in ihrem Haus schlummert ein dunkles Geheimnis…

„Das Haus in dem Gudelia stirbt“ ist das Verlagsdebüt von Thomas Knüwer, das bei Pendragon erschienen ist. Knüwer, der zuvor schon einige Titel im Selbstverlag veröffentlicht hat, liefert darin einen ungewöhnlichen Kriminalroman, der sich nicht um Genregrenzen schert. Äußerst originell ist dabei die Grundidee, den dramatischen Schauplatz der Flut mit zwei klassischen Kriminalgeschichten zu verbinden.

Nach einem recht gewalttätigen Prolog beginnt die eigentliche Handlung aus der Sicht von Ich-Erzählerin Gudelia. In kurzen Stakkato-Sätzen nimmt uns diese Frau mit in ihre Welt, die sich nicht nur wegen der Wassermassen im Untergang befindet. Gewöhnt man sich erst einmal an diesen Stil, diese Satzfragmente, findet man leicht hinein in den Roman. Das liegt auch daran, dass Gudelia immer wieder kluge und eindrucksvolle Sätze hineinstreut, denen man sich kaum entziehen kann. „Früher habe ich mir ein Haus am See gewünscht, jetzt habe ich eine Wohnung in den Fluten“, heißt es an einer Stelle. „Doch der Unterschied von Ärger zu Wut ist der von Wind zu Sturm“, an einer anderen. Überhaupt kann man sich der gesamten Präsenz dieser Protagonistin nicht entziehen – ob man es will oder nicht.

Denn Gudelia ist keine klassische Sympathieträgerin, das wird relativ schnell klar. Wir begleiten diese facettenreiche Figur durch drei verschiedene Zeitebenen: 1984, als sie den Tod ihres 15-jährigen Sohnes Nico betrauert, 1998, als sie das titelgebende Haus von ihrem Mann Heinz übernimmt und eben 2024, als eine Flut, die an die Vorkommnisse im Ahrtal erinnert, Gudelia und ihr Haus bedroht. Gerade die Konflikte mit Heinz sind schwer zu ertragen. Da schlägt Gudelia ihrem Mann schon mal mit dem Hammer auf die Hand. Und er versucht, sie zu vergewaltigen, weil sie zuvor böswillige Sachen auf seine Stirn schrieb.

Die letztgenannten Beispiele zeigen die Schwächen des Buches recht eindrücklich. Knüwer überdreht nämlich mit fortschreitender Dauer des Romans immer mehr. Nahezu jede Szene endet entweder in Gewalt oder pathetischer Melodramatik. Das ist schade, denn während der ersten Hälfte der knapp 300 Seiten ist „Das Haus in dem Gudelia stirbt“ nämlich ein fast unanständig spannender Pageturner. Was Knüwer aber aus dieser Spannung macht, wie er die Handlungsfäden zusammenspinnt, ist konstruiert und unglücklich. Lieblos zudem der Umgang mit Schlüsselfiguren. Da gibt es beispielsweise Stephanus, ein Ferkelchen, das bald Gudelias einziger Begleiter ist. Eine liebenswerte Tierfigur, die nicht nur Gudelias weiche Seite rührt, sondern auch die der Leser:innen. Doch am Ende des Romans ist das Tier einfach verschwunden, sprich rausgeschrieben. Eine weitere Schlüsselfigur ist ein Freund von Nico, der tatsächlich am meisten dazu beiträgt, den Tod von Gudelias Sohn zu entschlüsseln. Doch Knüwer ist diese Figur so egal, dass sie nicht einmal einen Vornamen bekommt.

Hinzu kommt, dass der eigentliche Plot spätestens im letzten Drittel absolut vorhersehbar wird. Ohne zu viel verraten zu wollen, erinnert er doch sehr an einen Hitchcock-Filmklassiker. Das ist in Ordnung, würden sich nicht auch hier so viele geschmacklose und konstruierte Szenen einschleichen, dass man das Buch am Ende dann doch etwas entnervt zuschlägt.

„Das Haus in dem Gudelia stirbt“ ist ein unkonventioneller Krimi, bei dem Leser:innen mit offenem Genrevisier gern einen Blick riskieren dürfen. Problematisch ist allerdings, dass Genreleser:innen das Meiste schnell durchschauen, während es anderen zu gewalttätig und brutal erscheinen dürfte. Klar ist, dass Thomas Knüwer und Pendragon mit dem Buch einen durchaus mutigen und unbequemen Weg gehen.

Bewertung vom 09.09.2024
Fast wie ein Bruder
Sulzer, Alain Claude

Fast wie ein Bruder


sehr gut

Im Bochum der 1960er- und 1970er-Jahre wachsen Frank und der namenlose Ich-Erzähler fast wie Brüder zusammen auf. Beide sind sogar am selben Tag mit ihren Familien in die direkt nebeneinander liegenden Wohnungen eingezogen. Doch als Franks Interesse an der Kunst wächst und er homosexuelle Gefühle für den Nachbarsjungen Matteo verspürt, scheinen sich die Freunde unterschiedlich zu entwickeln. Erst als Frank mit AIDS im Sterbebett liegt, finden sie wieder zueinander. Und auch Franks Gemälde wecken lange Zeit nach dessen Tod plötzlich das Interesse des Ich-Erzählers. Denn stellt der nackte Jüngling auf einem Bild von Frank nicht ihn selbst da?

„Fast wie ein Bruder“ ist der neue Roman von Alain Claude Sulzer, der bei Galiani erschienen ist. In der Schweiz sorgte das Buch schon lange vor seinem Erscheinen für einen literarischen Skandal, weil Sulzer darin mehrfach das Wort „Zigeuner“ verwendet, was beim Basler Fachausschuss Literatur nicht gern gesehen war und geändert werden sollte. Sulzer nahm daraufhin unter Zensurvorwürfen den Förderungsantrag zurück. Viel Lärm um wenig, denn Sulzers Verwendung des „Z-Wortes“ entspricht dem Sprachduktus des Ich-Erzählers und muss im Kontext der Handlungszeit gelesen werden.

Gelesen werden sollte in jedem Fall auch „Fast wie ein Bruder“, denn Sulzer gelingt es, auf gerade einmal 180 Seiten so viele Themen unterzubringen, wie es andere Autor:innen in drei bis vier Büchern schaffen. Da ist der Coming-of-Age-Roman inklusive des erzwungenen homosexuellen Coming-Outs Franks. Da ist der Gesellschaftsroman, der sich intensiv mit dem Entstehen von AIDS und den gesellschaftlichen (und körperlichen) Auswirkungen der Krankheit beschäftigt. Da ist die Geschichte von Frank als erfolglosem Maler, ein charmanter Künstlerroman, der im letzten Teil gar zu einer Art Kriminalroman wird, als der Nachlass von Frank aus der Scheune des Ich-Erzählers verschwindet. Und zu guter Letzt mag sogar ein Hauch von Mystery durch ein Berliner Museum wehen, ohne zu viel darüber verraten zu wollen. Ungemein vielschichtig also und dazu sprachlich elegant.

Am besten gelingt Sulzer dabei die Künstlerthematik. Die Begeisterung Franks für die Kunst ist von Beginn an zu spüren, während sich der in vielen Dingen recht ignorante Ich-Erzähler zwar bemüht, aber nie einen Zugang zu ihr findet. Dieses Trennende bestimmt mit zunehmender Dauer den Roman, selbst den Nachlass – die zahlreichen Bilder, die der Protagonist nach Franks Tod erhält – schaut dieser nicht ein einziges Mal an. Etwas schwülstig hingegen wirkt es, wenn Sulzer die Annäherung von Frank und dem Roma-Jungen Matteo beschreibt. Dies ist allerdings leicht zu verzeihen, denn in der Folge merkt man das wohlgemeinte und eindrücklich geschilderte Verständnis des Autors für die aufkommende Bewegung der Homosexuellen und die empathische Auseinandersetzung mit AIDS als gesellschaftlichem Stigma.

Bedauerlich ist eher, dass über weite Strecken der Kindheit und Jugend die Nähe zwischen der Hauptfigur und Frank nur behauptet wird, die „fast brüderliche“ Freundschaft also gar nicht so auserzählt wird, wie man es sich bei diesem Titel erhofft hatte. Ein kleiner Wermutstropfen eines ansonsten eindrücklich vielfältigen Romans, der trotz weniger Seiten so viel zu erzählen hat. Für Sulzer-Fans hat der Autor als kleines Gimmick übrigens noch den ganz besonderen Auftritt eines vorherigen Roman-Protagonisten eingebaut, den es zu entdecken gilt.

Bewertung vom 29.08.2024
Wir Gespenster
Kumpfmüller, Michael

Wir Gespenster


ausgezeichnet

Als Lilli ihren leblosen Körper dort im Stadtpark liegen sieht, glaubt sie ihren Augen kaum. Diese Leiche dort, das kann doch nicht wirklich sie sein? Doch nach und nach dämmert ihr, dass sie tatsächlich einem Mord zum Opfer gefallen ist. Erst durch die Hilfe von Andrä, einem vor zehn Jahren erschossenen Kommissar, findet sie sich so langsam zurecht in dieser Zwischenwelt, der Welt der Gespenster. Währenddessen sucht Andräs Nachfolger Bertram nach dem Mörder - so erfolglos, dass irgendwann die Gespenster die Dinge selbst in die Hand nehmen...

"Wir Gespenster" ist der neue Roman von Michael Kumpfmüller, der bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Ihm gelingt darin der Spagat zwischen einer eigentlich tieftraurigen Grundhandlung und überraschend heiteren Momenten, ohne sich auch nur ansatzweise über eine der Figuren lustig zu machen. Im Gegenteil, Kumpfmüller nimmt die Toten mit all ihren Sorgen und Problemen genauso ernst wie die Lebenden, was ein großes Plus des Romans ist. Und es gibt auch gar keinen Grund, sie zu verraten, denn mit Lilli und Andrä hat Kumpfmüller zwei bemerkenswert liebenswerte Hauptfiguren erschaffen. Während sich Lilli fast kindlich-naiv erst zurechtfinden muss in ihrer neuen Rolle als Gespenst, sich gefangen wähnt zwischen Leben und Tod, ist Andrä so etwas wie der starke Gegenpart, der sich routiniert um die kürzlich Verstorbenen kümmert und gar eine Selbsthilfegruppe für Gespenster leitet.

Die Geschichte glänzt zudem nicht nur mit einer aufregenden Grundidee, sondern auch immer wieder mit überraschenden Einfällen und höchst originellen Nebenfiguren. Da sind beispielsweise Karl & Karl, zwei Corona-Tote in ihren Neunzigern, die sich als Andräs Assistenten förmlich aufgedrängt haben und für zahlreiche Schmunzler sorgen. Da ist der junge Ivo, ein Fahrradliebhaber, der in beiden Welten eine ganz besondere Rolle spielen soll. Oder Solveig, die mit 15 Jahren von ihrem Vater ermordet wurde, und die wohl tragischste Figur des gesamten Buches ist. Spannend auch, wie Kumpfmüller nach und nach enthüllt, welche Fähigkeiten die Gespenster haben und welche eben nicht, wo sie auf die Welt der Lebenden angewiesen sind. Dabei erfahren wir als Leser:innen immer eben genauso viel oder wenig wie die Gespenster selbst.

Rein sprachlich wirkt "Wie Gespenster" im positiven Sinne manchmal ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Da wird geseufzt, ein "Ach" folgt einem "Oh weh" und man wähnt sich gelegentlich in einem Drama des Sturm & Drang. Doch wirkt dies gar nicht antiquiert, sondern passt ganz hervorragend zu dieser emotionalen Ballade aus dem Jenseits, das in diesem Roman doch fast gleichzeitig das Diesseits ist. Gerade in den Beschreibungen der Annäherung zwischen Andrä und Lilli, die übrigens auch hervorragend zum elegant-geheimnisvollen Cover passen, finden sich zahlreiche zärtliche Momente, die zudem vollkommen ohne Kitsch auskommen.

Das Gelungenste überhaupt ist jedoch die Atmosphäre. Kumpfmüller erzählt äußert langsam, um sie entfalten zu können. Das merken auch die Figuren, die oft genug betonen, wie viel Zeit sie doch hätten. In seiner Grundstimmung erinnert "Wir Gespenster" atmosphärisch ein wenig an die melancholische Jakob Franck-Reihe von Friedrich Ani, in den Zweifeln der Gespenster an ihrer (Nicht-)Existenz blickt auch David Lowerys genialer Film "A Ghost Story" immer mal wieder durch - beides also ganz hervorragende Referenzen. Da stört es kaum, dass sich die Mördersuche im letzten Drittel ein wenig hinzieht. Auch Krimileser:innen ohne Scheuklappen dürften also auf ihre Kosten kommen.

Insgesamt ist "Wir Gespenster" ein melancholischer und philosophischer Roman über das Leben und den Tod, der zudem immer wieder auch etwas zutiefst Tröstliches hat. So fragen sich nicht nur die Gespenster irgendwann, wer eigentlich die Traurigeren sind: die Lebenden oder die Toten?

Bewertung vom 20.08.2024
Und dahinter das Meer
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


sehr gut

London, 1940: Während immer häufiger deutsche Bomben auf die englische Hauptstadt fallen, entschließen sich Millie und Reginald dazu, ihre Tochter Beatrix in die sicheren USA zu schicken. Nach einer langen Schifffahrt warten in Boston die Gregorys auf die Elfjährige. Schnell lebt sich das Mädchen in seiner Gastfamilie ein, was nicht nur an der Herzlichkeit der Eltern, sondern vor allem auch an den Brüdern William und Gerald liegt - und natürlich an der Insel, die sich im Besitz der Gregorys befindet und Beatrix unvergessliche Sommer beschert...

"Und dahinter das Meer" ist der späte Debütroman der 1959 geborenen Laura Spence-Ash, der in der Übersetzung aus dem Amerikanischen von Claudia Feldmann bei mare erschienen ist. In den USA wurde der Roman zum Bestseller und in der Folge in zahlreiche Sprachen übersetzt, wie wir es im Klappentext erfahren. Und auch in Deutschland sollte der Erfolg gewiss sein, spricht "Und dahinter das Meer" doch eine breite Zielgruppe an.

Bereits das Cover, bei dem mare im Vergleich zum Original lediglich die Bomber entfernt hat, dürfte bei potenziellen Leser:innen einen gewissen Kaufreiz entfachen. Eine Frau mit dem Rücken zu den Betrachter:innen, die in die Ferne schaut? Dahinter steckt doch bestimmt eine leicht verdauliche Romanze mit gewissem Kitschfaktor...

Nun, ganz so einfach macht es "Und dahinter das Meer" der Leserschaft nicht. Wobei nicht verhehlt werden darf, dass auch die angesprochenen Käufer:innen nicht enttäuscht sein werden. Denn tatsächlich bewegt sich der Roman in romantischen Gefilden, wobei auch die Kitschgrenze das ein oder andere Mal überschritten wird. Was das Buch von den anderen Rückenfrauen allerdings unterscheidet, sind das hohe sprachliche Niveau und die Erzählkunst Spence-Ashs.

Einerseits gelingt es der Autorin, insbesondere die Insel und das dortige sommerliche unbeschwerte Leben plastisch und liebevoll zu beschreiben. Andererseits - und das ist das eigentlich große Plus des Romans - erweckt sie ihre Figuren so zum Leben, dass man das Gefühl bekommt, seine Freizeit mit ihnen zu verbringen. Dies erreicht Spence-Ash unter anderem mit zahlreichen Perspektivwechseln, manchmal gar innerhalb einer Seite. So ist beispielsweise Bea, wie sie von der Familie bald genannt wird, ihr Zwiespalt hervorragend anzumerken. Von 1940 bis 1945 wird sie einen Großteil ihres bisherigen Lebens in den Staaten bei dieser fremden Familie verbringen, die ihr bald doch näher als die eigene scheint. Darf so etwas überhaupt sein? Und darf sie mehr als schwesterliche Gefühle für den zwei Jahre älteren William entwickeln? Auch Beas Londoner Vater Reginald ist so eine herzerwärmende, authentische Figur. Er ist derjenige, der die wohl schwierigste Entscheidung seines Lebens getroffen und sein Kind verschickt hat. Sein stilles Leid, sein Schwanken zwischen Überzeugung und Zweifeln ist für die Leserschaft stets zu spüren.

Während man die Erzählweise inklusive zahlreicher Adjektive über weite Strecken als schön bezeichnen kann, setzt die Autorin ihre kleinen, überraschenden Nadelstiche eher in der Erzählstruktur. Da "Und dahinter das Meer" über seine gut 360 Seiten einen Zeitraum von insgesamt 37 Jahren behandelt, setzt sie immer wieder erzählerische Lücken und schildert manchmal erst im Nachhinein, manchmal sogar gar nicht, was den Figuren in der ausgelassenen Zeit widerfahren ist. So wirkt es weniger gefällig als die Sprache, wenn liebgewonnene Figuren plötzlich und unvermittelt verstorben sind - ein weiterer bemerkenswerter Kontrast zu den oben genannten Romanzen.

Früh wird hingegen klar, dass "Und dahinter das Meer" im Grunde ein Liebesroman ist. Denn natürlich sind nicht nur Beas Gefühle für William kompliziert - erschwerend hinzu kommt, dass auch der zwei Jahre jüngere Gerald sein Herz an die große Gastschwester verliert. Daraus könnte wie in Emily Brontës "Sturmhöhe" ein bitterböses und furchtbares Eifersuchtsdrama entstehen. Spence-Ash setzt hingegen überwiegend auf Harmonie, was ihr wiederum den Kitschvorwurf einbringen könnte.

Ohnehin kann man dem Buch vieles vorwerfen: Es ist teilweise vorhersehbar, es ist zuckersüß und es nervt mit amerikanischen Spielereien wie den Abkürzungen "Mr und Mrs G.". Nur dass mich all dies mit der Zeit kaum noch störte, weil Spence-Ash es mit ihren melancholischen Rückblicken immer wieder schaffte, mir eine Gänsehaut zu bescheren oder mich zu Tränen zu rühren. Fast so, als schaute man sich eine besonders gelungene Folge der 80er-Jahre-Serie "Wunderbare Jahre" an. Gleichzeitig rührte mich die endlose Empathie und Liebe der Autorin für ihre Figuren, denen sie irgendwann partout kein Leid mehr antun wollte.

Insgesamt ist "Und dahinter das Meer" so etwas wie eine Wohlfühldecke mit kleineren Mängeln in schweren Zeiten, ein warmherziger Liebes- und Familienroman, um den Zyniker:innen einen großen Bogen machen sollten. Alle anderen sollten aber einen Blick riskieren. Auch diejenigen, die sonst keine Bücher mit Rückenfrauen kaufen.

Bewertung vom 13.08.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


ausgezeichnet

Als Pia und Jakob in die Schule gerufen werden, glauben sie ihren Ohren nicht zu trauen. Ihr siebenjähriger Sohn Luca soll gegenüber einer Klassenkameradin sexuell übergriffig geworden sein. Während Jakob bedingungslos hinter Luca steht, mehren sich in Pia die Zweifel. Ist ihr Sohn wirklich so gut und lieb, wie sie es bisher glaubte? Oder steckt in ihm gar ein "kleines Monster"? Pia erinnert sich an ihre eigene Kindheit, damals, als sie und ihre Schwestern Romi und Linda eine unerschütterliche Einheit bildeten. Bis das Unsagbare geschah...

"Kleine Monster" ist der zweite Roman der österreichischen Autorin Jessica Lind, der bei Hanser Berlin erschienen ist. Lind gelingt darin ein bemerkenswert spannendes Psychogramm zweier Familien, deren Bindeglied Pia ist - einmal als Mutter, einmal als Schwester bzw. Tochter. Gerade im ersten der drei Teile enden die kurzen Kapitel oftmals mit einem Cliffhanger. Noch größer wird die Spannung dadurch, dass sich in der Regel die Gegenwarts- mit den Kindheitskapiteln Pias abwechseln und somit eine gewisse Zeit verstreicht, ehe man sich der Auflösung des vorangegangenen Spannungsknotens nähert.

Ein weiteres Plus sind die facettenreichen Figuren, die sich im Verlaufe des Romans überwiegend glaubwürdig entwickeln. Lediglich eine nicht unbeutende Szene gegen Ende des Romans wirkt hier ein wenig übertrieben. Besonders stark - auch atmosphärisch - sind die Rückblicke, die sich mit Pias Kindheit und Familienerinnerungen befassen. Lind stellt durch die Trennung von Gegenwart und Vergangenheit die zentralen Themen Mutterschaft und Schwesternschaft gegenüber. Beiden Themen nähert sich Lind behutsam und intensiviert diese im Laufe des Romans. Angenehm ist zudem, dass "Kleine Monster" trotz der Thematik der sexuellen Übergriffigkeit den klammheimlichen Voyeurismus der Leserschaft überhaupt nicht bedient. So wird die Intimität des jungen Luca gewahrt, was für zusätzliche Spannung sorgt.

Sprachlich scheint der Roman auf den ersten Blick unauffällig zu sein. Das erzählerische Präsens sorgt für eine große Unmittelbarkeit, "Kleine Monster" liest sich generell äußerst flüssig. Doch dann sind da immer wieder diese Sätze, die eine so große Wucht entfalten, dass sie die Leser:innen bewegt und ungläubig zurücklassen. "Wir drei sind eins. Drei Schwestern. Eine glückliche Familie. Bis wir es nicht mehr sind", heißt es plötzlich am Ende eines Kapitels. An einer anderen Stelle lässt Lind Pias Mutter mit Blick auf die adoptierte Romi zu Pia sagen: "Dich habe ich geboren, aber Romi habe ich mir ausgesucht. Sie ist unser Wunschkind." Eine Kränkung auf Lebenszeit, die Pia nicht mehr loslässt.

Ohnehin dreht sich das Buch weniger um "kleine Monster" als um Verletzungen und Verletzlichkeit. Um Liebe und Hass, Verfehlungen und Gewalt. Lind strickt daraus auf 250 Seiten einen intensiven Roman, der ständig mit den Erwartungen der Leserschaft spielt. Da er zudem von der ersten bis zur letzten Seite unterhaltsam ist, sollte er eine durchaus breite Leserschaft ansprechen.

Bewertung vom 13.08.2024
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


sehr gut

Deutschland, im Jahre 2020: Hanna befindet sich in einer Midlife-Crisis. Neben ihrer alltäglichen Einsamkeit drückt ihr vor allem die Corona-Krise aufs Gemüt. Seit einigen Tagen spielt nun auch noch der Verstand verrückt. Bei jeder Gelegenheit sieht sie eine Frau mit dunklen, kurzen Haaren, die ihrer Kindheitsfreundin Zeyna wie aus dem Gesicht geschnitten scheint. Doch zu Zeyna hat sie seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr. Was ist damals eigentlich vorgefallen, das die jahrelange unerschütterliche Freundschaft zwischen den beiden Mädchen und Cem ins Wanken gebracht hat? Hanna erinnert sich und taucht tief ein in die Bochumer Kindheit der 1980er-Jahre...

"Ich komme nicht zurück" ist der zweite Roman von Rasha Khayat, der bei Dumont erschienen ist. Ein Corona-Roman im Jahre 2024? Möchte man über das Thema eigentlich noch etwas lesen? Ja, denn das Buch behandelt neben Corona auch noch andere gesellschaftlich zentrale Ereignisse, wie beispielsweise den 11. September und die Kindheit von Migrant:innen in den 1980er-Jahren. Zudem ist die Sprache ohnehin ein Ereignis. Auf jeden Fall ist es ein Wagnis, das Khayat eingeht, denn für einige Leser:innen mag die - dringend benötigte - kulturelle Aufarbeitung der Krise noch ein wenig zu früh kommen.

Wobei Khayat ohnehin von Beginn an ihr Selbstbewusstsein deutlich macht, das sich auf den Roman und dessen Sprache unmittelbar überträgt. Wo andere Autor:innen in der Widmung weit ausholen, begnügt sich Rasha Khayat mit einem koketten "Für: Mich." Sympathisch und ehrlich!

Das große Plus von "Ich komme nicht zurück" sind in jedem Fall Sprache und Atmosphäre. Khayat wirft die Leser:innen unmittelbar hinein in Hannas Einsamkeit. Der gesamte Text verströmt eine fast schmerzhafte Melancholie, die sich nicht nur aus dem Lockdown speist, sondern auch aus der 80er-Jahre-Kindheit. Der Soundtrack der Jugend, zeitgemäß als Playlist angefügt als "Mixtape für Hanna, Zeyna und Cem", lässt einen selbst zurückblicken auf die 80er-Kindheit, als das Leben noch überwiegend unbeschwert schien. Brillant eingesetzt sind außerdem die Zitate der libanesisch-amerikanischen Schriftstellerin Etel Adnan und des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch, die dem Roman eine poetische Tiefe geben.

Das Zentrum der Erzählung ist Zeyna, was Khayat durch einen gelungenen Perspektivwechsel deutlich macht. Immer, wenn es um die verlorene Freundin geht, wechselt Ich-Erzählerin Hanna ins unmittelbare Du. Problematisch daran ist, dass über weite Strecken des Buches die Tiefe der Freundschaft nur behauptet wird. Im Gegenteil hat man eher das Gefühl, als bestünde eine dauerhafte Konkurrenz im Buhlen der beiden Mädchen um die Gunst von Hannas geliebter Großmutter Felizia.

Ohnehin weist "Ich komme nicht zurück" Schwächen in der Figurenkonzeption auf. Die Großeltern Felizia und Theo sind ausschließlich herzensgut und zu süß gezeichnet. Zeyna ist die vergötterte Freundin, die erst im Rahmen der Attentate vom 11. September ein wenig an Profil gewinnt. Und Cem ist im Grunde nur eine Art Puffer zwischen den Mädchen, ein liebenswerter Junge bzw. Kerl, der niemandem weh tut.

Khayat setzt sprachlich nach einiger Zeit manchmal zu sehr auf Wiederholungen. So stellt sich Hanna in einigen Szenen beispielsweise selbst Fragen, ehe sie diese nahezu wortgleich an ihr Gegenüber richtet. Falls das für Intensität sorgen soll, erreicht es in Wahrheit eher das Gegenteil. Die Sprache von "Ich komme nicht zurück" ist stark genug, um auf solche Spielereien verzichten zu können.

Insgesamt ist "Ich komme nicht zurück" aber ein lesenswerter, melancholischer kleiner Roman, der auf seinen 170 Seiten zentrale Themen wie Freundschaft, Einsamkeit, Rassismus und Liebe auf poetische Weise zu einem gelungenen Potpourri vermischt und am Ende inhaltlich mit einer echten Überraschung aufwartet.

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