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Christina19

Bewertungen

Insgesamt 70 Bewertungen
Bewertung vom 17.09.2024
Als wir Schwäne waren
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


sehr gut

Die Geschichte einer iranischen Familie in Deutschland - literarisch dicht und in poetischer Sprache

Reza ist noch ein Kind, als seine Eltern mit ihm vom Iran nach Deutschland ziehen. Hier leben sie in einem Viertel in Bochum, in dem Menschen der unteren Unterschicht bis zur mittleren Mittelschicht zu Hause sind. Der Familie fällt es nicht leicht, Anschluss zu finden. Sprache und Kultur sind ihnen fremd, ihre Nachbarn beäugen sie misstrauisch, ihre Abschlüsse werden nicht anerkannt. Auch nach Jahren in der neuen Heimat fühlt sich die Familie nicht zugehörig. Behzad Karim Khani erzählt davon, was es heißt, in einem Land anzukommen, ohne wirklich dort anzukommen.

Mit „Als wir Schwäne waren“ hat Behzad Karim Khani einen Roman verfasst, der deutliche autobiografische Züge aufweist. Er verleiht darin Reza seine Stimme. Reza ist der Sohn iranischer Einwanderer, der rückblickend seine und die Geschichte seiner Familie erzählt. Die Geschehnisse schildert er episodenhaft, sodass sich der Roman aus vielen Fragmenten in chronologischer Reihenfolge zusammensetzt. Der Autor bedient sich beim Schreiben einer höchst poetischen Sprache. Seiner Hauptfigur gibt er eine gewisse Distanz zu den Ereignissen, sodass Reza diese – obwohl er selbst Teil des Ganzen war – wie ein außenstehender, objektiver Beobachter recht emotionslos wiedergibt.
Khani schreibt über all die Probleme, die Menschen in Deutschland erwarten. Er weist auf kulturelle Unterschiede hin, erzählt von Sprachproblemen, der fehlenden Anerkennung von Abschlüssen und der Chancenlosigkeit. Er berichtet von Armut und Nachbarn, die deshalb ins kriminelle Milieu abstürzen. Er zeigt die Gewalt und Drogendelikte auf, die in Rezas Viertel vorherrschen. Und er erzählt, wie auch Reza selbst sich nicht gegen den Absturz schützen kann.
„Als wir Schwäne waren“ ist aber nicht nur eine Geschichte über die Perspektivlosigkeit einer emigrierten Familie, sondern es ist auch eine Geschichte von Vater und Sohn, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Auf der einen Seite der Vater, der in Deutschland nie Fuß fassen konnte, immer stiller wurde und vor allem über seine Gedanken und Gefühle nicht sprach. Über einen Vater, der Stolz und Würde besaß. Auf der anderen Seite der Sohn, der immer tiefer in die Kriminalität abrutschte und seinen Stolz noch heute sucht. Es ist die Geschichte zweier, die sich womöglich auch durch die Auswanderung voneinander entfernt und nie wieder so ganz zusammengefunden haben.
So viel uns der Autor über die Herausforderungen der Familie in Deutschland wissen lässt, so wenig gibt er an anderer Stelle preis. Das sorgt dafür, dass die Geschichte einerseits literarisch dicht erzählt ist, die Leerstellen andererseits aber einige Fragen aufwerfen: Wieso hatte die Familie den Iran überhaupt verlassen? Warum haben sie an ihrer Situation im Bochumer Viertel nicht früher etwas geändert, wenn sie nicht glücklich waren?
Obwohl „Als wir Schwäne waren“ in den 1980er und 1990er Jahren spielt, ist der Roman noch immer höchst aktuell und auf jeden Fall lesenswert.

Bewertung vom 13.09.2024
Das Möbel-Handbuch
Ramstedt, Frida

Das Möbel-Handbuch


sehr gut

Ein solides Nachschlagewerk für die Auswahl von Möbeln

Auf über 300 Seiten stellt die schwedische Innendesignerin und Bloggerin Frida Ramstedt Hinweise zusammen, auf welche Kriterien man bei der Auswahl seiner Möbel Acht geben sollte.
Sie befasst sich dabei mit Sitzmöbeln und Tischen ebenso wie mit Stauraummöglichkeiten und Betten. In jeder dieser Kategorien gibt es zahlreiche Unterscheidungen: So geht die Autorin beispielsweise bei den Sitzmöbeln separat auf Stühle, Hocker, Barhocker, Bänke, Schreibtischstühle, Sofas, Sessel und Schaukelstühle ein. Hierzu erteilt sie spezifische Tipps, da z. B. für den Kauf eines Stuhles auf andere Dinge zu achten ist als bei der Anschaffung eines Sofas. Ich finde es klasse, wie differenziert Frida Ramstedt die einzelnen Möbelarten betrachtet. Ihre Tipps sind entsprechend sehr umfangreich, enthalten für mich jedoch wenig neue Informationen (wobei ich mich seit einigen Jahren schon intensiv mit Möbeln befasse).
Interessanter finde ich ein weiteres Kapitel, das sich Materialien widmet. Hier werden unterschiedliche Arten an Holz, Stein, Leder, Textilien und Glas ausführlich beschrieben und miteinander verglichen. So erhält man u. a. einen Überblick über die Unterschiede zwischen Nubuk-, Anilin- und oberflächengefärbtem Leder sowie Kunstleder und erfährt über deren jeweilige Vor- und Nachteile. Die umfangreiche Übersicht inkl. der Beschreibungen erspart somit langes und mühseliges Recherchieren bei der Materialauswahl.
Eine dann folgende Zeitleiste gibt Einblick in die Designgeschichte Schwedens, ehe das Buch mit einem Kapitel zu Planungsgrößen und Konzepten endet. Diesen Abschnitt finde ich besonders hilfreich, da er Einblicke zur Einrichtung von Räumen bietet. Gerne hätte ich dazu noch mehr gelesen: Denkbar wäre für mich z. B. die Vorstellung von Wohnstilen und ein Abriss zur Farbenlehre, also kurzum, wie man Möbel hinsichtlich Form und Farbe geschmackvoll in Räumen mit Tapeten, Teppichen, Leuchten und Vorhängen kombiniert. Vermutlich hätte das an dieser Stelle aber zu weit geführt und womöglich wurde das Thema bereits im ersten Buch „Innendesign“ der Autorin abgehandelt (dieses kenne ich nicht, daher kann ich das nicht einschätzen).
Zuletzt einige Sätze zur Aufmachung des Buches: Der Einband aus Leinen lässt das Werk sehr hochwertig erscheinen, wenngleich mir das Cover der schwedischen Originalausgabe in seiner schlichten Gestaltung noch besser gefällt. Der Inhalt ist klar gegliedert, was die Orientierung in den einzelnen Kapiteln erleichtert. Einige Passagen sind um Darstellungen von Möbeln ergänzt, wobei diese durchgängig schwarz-weiß und somit recht schlicht gehalten sind.
Alles in allem ist dieses Buch ein solides Nachschlagewerk, wenn man die Anschaffung neuer Möbel in Betracht zieht.

Bewertung vom 05.09.2024
Die vorletzte Frau
Oskamp, Katja

Die vorletzte Frau


ausgezeichnet

Eine Beziehung und die Rollen einer Frau im Wandel der Zeit

Als sie Tosch kennenlernt, ist sie gerade einmal 30 Jahre alt. Er ist ihr Dozent am Literaturinstitut und 19 Jahre älter. Obwohl beide (noch) verheiratet sind, stürzen sie sich in ein leidenschaftliches Verhältnis. Sie versprechen sich, sich einander mit allen Meisen und Absonderlichkeiten zuzumuten und führen eine harmonische Beziehung. Als Tosch schwer erkrankt, ändern sich ihre Rollen – und damit auch ihre Beziehung…

Katja Oskamp erzählt in ihrem autobiografisch geprägten Roman von zwei Menschen an unterschiedlichen Punkten ihres Lebens, die sich kennen- und lieben lernen. Die Beziehung erleben wir aus Sicht der Frau, die mit über 50 Jahren rückblickend ihre Erinnerungen schildert. Sie tut das in einer Art und Weise, die ich sehr gerne mag: Oskamp lässt uns nah am Geschehen teilhaben, übermittelt Situationen meist knapp und nüchtern, ist dabei stellenweise dennoch wunderbar humorvoll. So erzählt sie, wie sie Tosch einst als Studentin in Leipzig traf, wie sie einander ergänzten und eine ganz und gar harmonische Beziehung führten. Oskamp berichtet, wie sich beide durch ihre getrennten Wohnungen ein Stück Unabhängigkeit bewahrten, wie genau diese Wohnsituation in der Beziehung aber auch zu einem „Komm her, geh weg“ führte. Auf mich machte das fast den Eindruck, als wenn vor allem Tosch zugunsten seiner Freiheit keine Verbindlichkeiten eingehen wollte. Den Wendepunkt in der Beziehung zu dem „Mann ihres Lebens“ markiert Toschs Erkrankung. Mit dieser begann eine Zeit des Abschiednehmens. Da jedes Ende einen Neuanfang bedeuten kann, lässt uns Oskamp auch daran teilhaben und zeigt auf, wie sie sich als Frau weiterentwickelte.
Während die Autorin vom Beginn, dem Verlauf und dem Ende einer Beziehung schreibt, thematisiert sie zugleich die Rollen einer Frau: Sie ist Mutter und Geliebte, Freundin und Tochter, aber auch Hausfrau, Schriftstellerin und Fußpflegerin. Stets versucht sie den Spagat zu schaffen und allen gerecht zu werden. Dennoch – und das sollte für jedermann gelten – vergisst sie auch sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse nicht.

Bewertung vom 04.09.2024
Mondeis: Trägerin des Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preises 2020; Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024, Kategorie Bilderbuch
Baek, Hee Na

Mondeis: Trägerin des Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preises 2020; Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024, Kategorie Bilderbuch


ausgezeichnet

Ein koreanisches Sommermärchen mit einzigartigen Bildern

In einer klaren Sommernacht leiden die Bewohner eines Mehrfamilienhauses unter der großen Hitze. Die Klimaanlagen laufen, die Ventilatoren brummen. Es ist so heiß, dass sogar der Mond zu schmelzen beginnt. Als Oma Holle das Tropfen hört, eilt sie nach draußen, um das Mondwasser aufzufangen.
Sie sammelt es in einer Schüssel, doch was soll sie nun damit anstellen? Und wie gelangt der Mond zurück an den Himmel?

Mit „Mondeis“ hat Baek Hee Na die moderne Version eines traditionellen koreanischen Märchens geschaffen. Mit ruhigen Worten erzählt sie von Oma Holle, ihren Nachbarn und den Geschehnissen in dieser heißen Nacht. Der Verlauf der Geschichte sorgt dabei für die eine oder andere Überraschung.
Maßgeblich für dieses Buch sind die einzigartigen Bilder der Illustratorin: Mit ihrer Puppenstube kreiert sie eine beschauliche Welt. Man blickt in Wohnzimmer mit kräftigen Tapeten, in kleine Küchen und ins Treppenhaus mitsamt abgestelltem Fahrrad. Die Figuren kommen als Tiere daher und sind durchweg von Hand gezeichnet. So vereint Baek Hee Na auf ihren Fotografien dreidimensionale Räume mit zweidimensionalen Figuren. Die Tiere bleiben in ihrer Farbigkeit zurückhaltend schwarz-weiß, was sie im Kontrast zu der farbigen Umgebung noch mehr hervorstechen lässt. Auch nach mehrmaligem Ansehen gibt es auf jedem Bild immer wieder etwas Neues zu entdecken, seien es Details in den Räumen des Mehrfamilienhauses oder die ausdrucksstarke Mimik und Gestik der Figuren. Besonders gefällt mir, wie Baek Hee Na einzelne Situationen mit Licht in Szene setzt. Ihre Fotografien wirken dadurch besonders stimmungsvoll.
Ein empfehlenswertes Bilderbuch, das zu Recht für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024 nominiert ist!

Bewertung vom 23.08.2024
Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben
Auh, Dayeon

Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben


ausgezeichnet

Eine Parabel voller Optimismus und mit kunstvollen Illustrationen

Eines Tages begab sich der Großvater auf den Weg zum Markt. Er musste dazu einen nahegelegenen Berg besteigen, dem man Unheilvolles nachsagte: Wer hier stürzt, so hieß es, habe nur noch drei Jahre zu leben. Es kam, wie es kommen musste, der Großvater stolperte und fiel. Sorgenvoll blickte er in die Zukunft, bis seine Enkelin einen klugen Gedanken hatte…

„Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben“ ist das Bilderbuch-Debüt der Illustratorin Dayeon Auh. Die Geschichte beruht auf einem koreanischen Volksmärchen. Dadurch ermöglicht sie einen kleinen Einblick in eine fremde Kultur, was ich sehr aufschlussreich und inspirierend finde.
Die Handlung ist mit wenigen Sätzen eher knapp gehalten, muss für mein Empfinden aber auch gar nicht ausführlicher beschrieben werden. Von den Ereignissen rund um den sogenannten „Samnyeongogae“, dem „Berg des Grauens“, erzählt uns die Autorin auf eine sanfte Art und Weise. Gerade diese ruhigen, leisen Töne, die in der Geschichte anklingen, mag ich sehr gerne.
Im Kontrast zur Erzählweise stehen die kraftvollen Illustrationen. Sie sind durchweg seitenfüllend sowie farbintensiv gestaltet, wodurch sie ausdrucksstark daherkommen. Dayeon Auh bedient sich bei der Gestaltung ihres Buches unterschiedlicher Techniken: Sie malt und zeichnet, sie schneidet und klebt. Ihre Bilder zeugen von der besonderen Fantasie der Illustratorin, die beispielsweise Pflanzen und Tiere ganz außergewöhnlich darstellt. All diese Merkmale – von Farb- und Formgebung bis hin zu den angewandten Techniken – verleihen Dayeon Auhs Bildern einen einzigartigen, kunstvollen Stil, der, wie ich finde, gut zum Inhalt passt.
Im Gegensatz zu den deutschen Volksmärchen, die oft Gut und Böse gegenüberstellen, teils gewalttätige Inhalte haben und damit Angst verbreiten, spendet „Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben“ Hoffnung: Die Parabel veranschaulicht nämlich, welch weitreichende Auswirkungen es haben kann, Gegebenheiten aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Dayeon Auh zeigt uns damit die Kraft unserer Gedanken auf – im negativen, vor allem aber im positiven Sinne. Sie lässt Erleichterung, Frohsinn und Optimismus einziehen, die sich auf den Leser übertragen und auch lange nach dem Lesen des Buches erhalten bleiben.
„Ein Berg, ein Sturz, ein langes Leben“ ist ein wertvolles Bilderbuch für Optimisten und Menschen, die es werden wollen!

Bewertung vom 13.08.2024
Vielleicht können wir glücklich sein
Hennig von Lange, Alexa

Vielleicht können wir glücklich sein


ausgezeichnet

Schicksale in der 1940er Jahren – ein Werk gegen das Vergessen

Isabell findet im Nachlass ihrer Großmutter Klara über 130 Tonbandaufnahmen. Darin erzählt diese über ihr Leben in der Kaiserzeit, der Zeit des Nationalsozialismus und im geteilten Deutschland.
In „Vielleicht können wir glücklich sein“ begleiten wir Klara im letzten Jahr des Zweiten Weltkrieges. Ihre Stelle als Leiterin des Frauenbildungsheims hat sie aufgegeben, um sich um ihre vier Kinder kümmern zu können. Klaras Mann Gustav, der sich früher als Lehrer verdingte, wurde schon vor Langem eingezogen und kämpft nun mit seiner Einheit in Schlesien. In ständiger Anspannung wegen der zunehmenden feindlichen Angriffe versucht Klara ihren Alltag zu bewältigen. Zu ihrer Sorge um die Kinder und ihren Mann an der Front mischt sich auch die Angst um Tolla, ihre jüdische Ziehtochter, die nach Theresienstadt deportiert wurde…

Im dritten Band ihrer Heimkehr-Trilogie fängt Alexa Hennig von Lange den Alltag in den Kriegswirren 1944/45 ein. Damit schließt der Roman beinahe lückenlos an den zweiten Teil „Zwischen den Sommern“ an. In ihrer Reihe hat die Autorin mit Klara eine Figur geschaffen, die durch ihre eigene Familiengeschichte inspiriert ist. Entsprechend wirklichkeitsnah schildert sie auch im letzten Band wieder die Ereignisse in Sandersleben. Alexa Hennig von Langes Erzählstil ist dabei sehr lebendig, sodass man durchweg mit der Protagonistin fühlt: Für Klara ist es eine belastende Situation, wochenlang auf ein Lebenszeichen von ihrem Mann und ihrer Ziehtochter zu warten, die Verantwortung für ihre Kinder zumeist alleine tragen zu müssen, immer wiederkehrend Nachrichten vom Tod alter Bekannter zu erhalten und nicht zu wissen, was die Zukunft bringt.
Die Hauptfigur steht hier stellvertretend für Millionen von Schicksalen im zweiten Weltkrieg. So kann der Roman als Dokumentation der traumatischen Erlebnisse gesehen werden, die die Menschen damals durchstehen mussten. Wir erfahren, was es bedeutet, wenn ein Volk unter Lebensmittelknappheit leidet, Medikamente nur noch eingeschränkt verfügbar sind, wenn die Sirenen erklingen und die nächsten Angriffe ankündigen. Wir spüren – teils unmissverständlich beschrieben, teils zwischen den Zeilen –, wie schon Kinder in ihren jungen Jahren unter dem Krieg litten und sich Paare ein Stück weit entfremdeten. Kurzum: Wir können verstehen und nachempfinden, wie sehr der Krieg das Familienleben beeinflusste und die Menschen ein Leben lang prägte.
Trotz aller Widrigkeiten ist während des gesamten Romans die Liebe zu spüren, die Klara für ihre Familie in sich trägt. Und so keimt zwischen den Schrecken des Krieges vereinzelt auch Hoffnung auf: „Vielleicht können wir glücklich sein“.
Alexa Hennig von Langes Roman(-reihe) ist ein ergreifendes Werk gegen das Vergessen und daher eine unbedingte Empfehlung!

Bewertung vom 04.08.2024
Das Pfauengemälde
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


weniger gut

Ein Exkurs in Rumäniens politische Vergangenheit

Nachdem ihr rumänischstämmiger Vater Nicu verstorben ist, durchlebt Ana ihren Alltag in stetiger Trauer. Zwei Jahre nach seinem Tod erhält sie unerwartet Post aus dem Heimatland ihrer Vorfahren. Die Familie, die einst von den Kommunisten enteignet wurde, soll endlich ihr Haus zurückerhalten. Ana hofft, im Zuge dessen auch das Pfauengemälde zurückzubekommen, von dem Nicu so oft gesprochen hat. Sie reist daraufhin nach Rumänien, wo sie viel über ihren Vater, dessen Familie und ihre eigene Herkunft erfährt – und wo sie nach Monaten der Trauer endlich Ruhe und Frieden finden möchte.

Bereits vor einigen Wochen habe ich „Das Pfauengemälde“ bis zur Hälfte gelesen. Ich hatte jedoch Schwierigkeiten, in die Geschichte zu kommen und mir die Vielzahl an Figuren zu merken, weshalb ich das Buch zunächst abgebrochen hatte. Vor ein paar Tagen habe ich es nun noch einmal von vorne zu lesen begonnen, wobei ich im zweiten Anlauf etwas leichter in das Erzählte gefunden habe. Dennoch verlief der Roman ganz anders, als ich das nach dem Klappentext erwartet hatte: In Rückblenden erfährt man viel über Anas Familiengeschichte, die eng mit den politischen Geschehnissen in Rumänien verknüpft ist. Zugleich lernt man damit auch die jüngere Vergangenheit des Landes am Schwarzen Meer kennen, die geprägt ist vom Sozialismus und Kommunismus. Es geht hierbei um Ikonen des Landes, um Unruhen und blutig niedergeschlagene Aufstände. Im Fokus stehen vor allem diejenigen Menschen, die dem Regime im Kampf für die Freiheit Widerstand leisteten und dabei teils ihr Leben ließen. Der Einsatz der Bürger für ihre Freiheit und für ihr Heimatland ist beeindruckend. Trotzdem waren mir die politisch geprägten Passagen der Geschichte zeitweise zu viel. Zudem empfand ich manche Figuren als recht eindimensional dargestellt sowie Begegnungen zu konstruiert. Da ich mich außerdem bis zuletzt nicht mit der Erzählweise anfreunden konnte, kann ich dieses Buch nur bedingt empfehlen.

Bewertung vom 30.07.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

Wie wichtig es für Frauen ist, Grenzen zu setzen (und zu wahren!)

In Yannick glaubte Jella, den perfekten Partner gefunden zu haben: Er war gutaussehend, gebildet und sorgte sich rührend um seinen pflegebedürftigen Großvater. Die Beziehung der beiden begann zunächst romantisch, doch schon bald steht Jella nicht nur vor den Scherben ihrer einst großen Liebe, sondern findet sich auch auf dem Polizeirevier wieder...

In „Die schönste Version“ erzählt Ruth-Maria Thomas die Geschichte einer Liebe, die aus den Fugen gerät. Wir lernen Jella kennen, die ihre Kindheit und Jugend in einer ostdeutschen Kleinstadt verbringt. In der Pubertät verliebt sie sich zum ersten Mal und beginnt, sich hübsch zu machen, um ihrem jeweiligen Schwarm zu gefallen. Jella hat erste Dates und sammelt Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Dabei lernt sie, was sie tun muss, um bei den jungen Männern gut anzukommen. Thomas zeigt hier deutlich auf, wie häufig die Protagonistin ihre eigenen Grenzen missachtet. Sie schreibt aber auch davon, wie Jellas Befinden in unserer vom Patriarchat geprägten Welt teils von ihren Verehrern ignoriert wird – eine Übergriffigkeit, die nicht nur sprachlos macht, sondern ein Gefühl der Ohnmacht hervorruft. Später lernt Jella Yannick kennen. Die Beziehung der beiden ist intensiv, beinah turbulent. Umso mehr es auf und ab geht, desto gefährlicher wird das Verhältnis zwischen den zweien. Wieder werden Grenzen überschritten, bis Jella die Reißleine zieht.
Ruth-Maria Thomas regt mit ihrem Debütroman dazu an, über ebensolche Grenzen nachzudenken: Wo verlaufen diese und was geschieht, wenn sie überschritten werden? Sie thematisiert Schuld und Unschuld, wobei ihre Geschichte keine platte Schwarz-Weiß-Malerei darstellt. Mit den facettenreichen Charakteren kommen auch alle Grauschattierungen zur Sprache. In Jella zeigt die Autorin mögliche Folgen von psychischer und physischer Gewalt auf: Nach dem Schock über das, was ihr widerfahren ist, stellt sich zunächst eine gewisse Ohnmacht ein. Jella wird von Übelkeit und Erbrechen heimgesucht und entwickelt Panikattacken. Erst sehr spät ergreift sie die Initiative und befreit sich aus der toxischen Beziehung. Thomas‘ Buch kann daher als Appell verstanden werden
- sein wahres Ich nicht zu verstecken, um anderen Menschen zu gefallen
- auf das eigene Bauchgefühl zu hören sowie Grenzen abzustecken und zu wahren
- für sich und seine Bedürfnisse einzustehen.

Bewertung vom 22.07.2024
Komm, wir trösten den kleinen Stern
Schönegge, Mira

Komm, wir trösten den kleinen Stern


sehr gut

Ein bezauberndes Kinderbuch mit atmosphärischem Setting

Mit ihrem Hängebauchschwein Rolf lebt Schnipsel auf der Vulkaninsel Ometepe. Gemeinsam schauen die beiden eines Abends in den Himmel. Sie entdecken dort den Stern Ninjesi, der ganz betrübt dreinschaut. Ninjesi erzählt ihnen, wie einsam er sich fühlt und dass ihm eine Umarmung guttäte. Mit Hilfe des Mondes machen sich Schnipsel und Rolf auf den Weg in den Himmel und versuchen, Ninjesis Wunsch zu erfüllen.

„Komm, wir trösten den kleinen Stern“ lädt Kinder ab 3 Jahren auf eine fantasievolle Reise ein. Mit einer Geschichte in Reimform entführt Mira Schönegge ihre Leser zunächst nach Ometepe. Sie erzählt davon, wie die Insel einst aus zwei Vulkanen entstand und später von Schnipsel, ihrer Mutter und dem Hängebauchschwein Rolf bezogen wurde. Ich bin ein großer Fan des Settings und der Art, wie die Autorin diese Welt in ihren Illustrationen festhält. Die Bilder sind großflächig gestaltet, strahlen etwas Exotisches aus und sind ganz besonders stimmungsvoll. Wir sehen ein farbenfrohes Häuschen, Palmen und Kakteen, Ylang-Ylang sowie Schnipsel, die mich mit ihren buschigen Augenbrauen ein wenig an Frida Kahlo erinnert. Die Illustrationen sind sehr detailreich, sodass es auf jeder Seite viel zu entdecken gibt.
Als Ninjesi in Erscheinung tritt und um eine Umarmung bittet, treten wir gemeinsam ein Abenteuer zu dem kleinen Stern an. Gut gefällt mir, dass der Mond seine Unterstützung anbietet und Schnipsel und Rolf in den Himmel transportiert.
Mit ihrer Geschichte greift Mira Schönegge eine Vielzahl an Themen auf: Sie zeigt mit Schnipsel, was Diversität bedeutet, gibt den beiden Hauptfiguren eine große Portion Mitgefühl und Mut und schenkt Ninjesi Hoffnung. Vor allem aber weist sie auf den besonderen Wert einer Freundschaft hin.
Ein wirklich schönes und empfehlenswertes Kinderbuch!

Bewertung vom 18.07.2024
Der Bademeister ohne Himmel
Pellini, Petra

Der Bademeister ohne Himmel


ausgezeichnet

Eine alltagsnahe Geschichte über die feinen Beziehungen zwischen Menschen

Am liebsten würde sie vor ein Auto laufen. Obwohl Linda gerade erst 15 Jahre alt ist, möchte sie nicht mehr leben. Einzige Lichtblicke in ihrem Alltag sind die gemeinsamen Zeiten mit Hubert und Kevin. Hubert ist 86 und an Demenz erkrankt. Drei Mal pro Woche besucht Linda ihn, um seine polnische Pflegerin zu entlasten und ihr Taschengeld aufzubessern. Kevin ist Lindas einziger Freund. So intelligent er ist, so eigenwillig kann er mitunter sein. Als eines Tages das Schicksal zuschlägt, beginnt Linda ihre Pläne zu überdenken…

Petra Pellini hat mit „Der Bademeister ohne Himmel“ eine berührende Geschichte über die feinen Beziehungen zwischen Menschen geschaffen. In eingängigem und teils humorvollem Schreibstil erzählt sie von Linda und deren Alltag. Neben der Schule verbringt die Protagonistin den Großteil ihrer Zeit bei Hubert. Die Autorin versteht es, dessen Lebensabend einschließlich seiner Demenzerkrankung alltagsnah zu beschreiben. Mit Ewa stellt sie ihm eine Figur an die Seite, die Huberts häusliche Pflege tatkräftig übernimmt und zeitgleich so großherzig und gutmütig ist, dass man sie selbst gerne zur Freundin hätte. Außerdem gibt es da noch den „Nachtfalter“, wie Linda sie nennt. Gemeint ist Huberts Tochter, die zwar dessen tägliche Versorgung organisiert hat, sich selbst jedoch wenig in das Wohlergehen ihres Vaters einbringt. Eine große Rolle in Lindas Leben spielen weiterhin ihre Mutter, die nach der Trennung von dem gewalttätigen Vater alleinerziehend ist, sowie Kevin und dessen Mutter Sara.
Die Charaktere in diesem Roman sind allesamt höchst unterschiedlich und könnten doch kaum lebensechter gezeichnet sein. Ganz zart sind ihre Leben miteinander versponnen. Dabei blitzt an etlichen Stellen des Buches auf, wie wichtig sie füreinander sind: „Wir gleichzeitig Lebenden sind füreinander von geheimnisvoller Bedeutung.“, heißt es an mehreren Stellen. Petra Pellini weist hier insbesondere darauf hin, welchen Wert unterschiedliche Generationen füreinander haben. Junge Menschen brauchen die Älteren und umgekehrt. Mit ihrer Geschichte macht sie uns zudem die Endlichkeit des Lebens bewusst und sorgt damit dafür, das eigene Leben und die Gesellschaft seiner Mitmenschen wieder mehr wertzuschätzen.
Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen und kann es nur empfehlen!