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Eternal-Hope
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Österreich

Bewertungen

Insgesamt 82 Bewertungen
Bewertung vom 12.05.2025
Perlen
Hughes, Siân

Perlen


sehr gut

Vom Aufwachsen mit einer Mutter, die fehlt:

"Perlen" ist das Debüt der britischen Autorin Siân Hughes. Sie hat Jahrzehnte daran gearbeitet, verschiedene Versionen erstellt und immer wieder verworfen, bis sie schließlich diese veröffentlicht hat, und damit auf Anhieb auf der Longlist des renommierten Booker Prize im Jahr 2023 gelandet ist.

Es ist ein ruhiges, nachdenkliches, unaufgeregtes Buch mit viel Poesie und schöner Sprache. Es geht um Marianne, die im mittleren Alter auf ihr Leben zurückblickt, mit speziellem Fokus darauf, was das Verschwinden ihrer Mutter, als Marianne acht Jahre alt war, mit ihr und mit der Familie gemacht hat. Jedes Kapitel beginnt mit (im englischsprachigen Original belassenen) Kinderreimen, viele davon mit sehr düsterem Ende, etwa ganz am Anfang:

"Adam and Eve and Pinch-Me.
Went down to the river to bathe.
Adam and Eve were drowned.
Who do you think was saved?" (S.5)

Wir erfahren, dass die Mutter der Erzählerin ihr viele dieser Reime beigebracht hat und diese Teil der Spiele waren, die sie mit ihrer Tochter gespielt hat... meist ohne dass das kleine Mädchen den düsteren Hintergrund kannte oder verstand. Die Mutter, so wie wir sie durch die Augen der Tochter kennen lernen, muss eine ganz besondere Persönlichkeit gewesen sein: individualistisch und kreativ, naturverbunden und frei, aber auch sehr verwundbar und sensibel.

Schließlich wird sie eines Tages, als Marianne acht ist und ihr kleiner Bruder noch ein Baby, das gestillt wird, mitten am Tag alles stehen und liegen lassen und verschwinden. Die Polizei wird eine Fußspur im Schlamm finden, die in den Fluss führt und so wird vermutet, dass die Mutter sich ertränkt hat, vielleicht aus einem Anflug von postpartaler Depression heraus, auch wenn die Leiche nie gefunden wird. Auftauchen wird sie jedenfalls nie wieder und die Familie - der Vater, das 8-jährige Mädchen und das kleine Baby - muss ohne sie zurecht kommen.

Mariannes Vater Edward ist eine Lichtgestalt in diesem Buch, er macht das Beste aus der Situation, bemüht sich, den Kindern ein guter Vater zu sein, für sie da zu sein und gleichzeitig in seinem Beruf als Historiker an der Universität Geld zu verdienen. So sehr er sich auch bemüht, natürlich bleibt eine Lücke, emotional und auch organisatorisch und finanziell. Es ist nicht mehr möglich, in dem geliebten eigenen Haus am Land zu bleiben, zu abgelegen liegt dieses, um dort Kinder aufzuziehen, die nur mehr einen Elternteil haben, der beruflich oft abwesend sein muss. Also wird schweren Herzens das Haus aufgegeben und weiter in die Stadt gezogen.

Marianne wächst ohne Mutter heran, erlebt Verschiedenes, wünscht sich lange erfolglos ein Kind und wird schließlich dann ungeplant schwanger von einem Mann, der gerade beschlossen hat, sein Leben kinderlos verbringen zu wollen. Also wird sie alleinerziehende Mutter und stürzt kurz nach der Geburt in eine postpartale Psychose... zum Glück ist ihr liebevoller Vater da, um sie aufzufangen und sie erholt sich wieder.

Die eigene Verletzlichkeit wird ihr in ihrer Mutterschaft noch einmal anders bewusst und sie findet passende Worte dazu, über den "Notausgang Suizid", der den Nachkommenden eröffnet wird, sobald jemand in der Familie diesen Weg gewählt hat: "Man sollte ja meinen, ich wäre der letzte Mensch auf Erden, der sich schnell verabschieden will, schließlich weiß ich ja, wie es ist, zurückgelassen zu werden. Trotzdem gehöre ich zur Hochrisikogruppe. Wenn eine nahestehende Person in den Fluss geht und nie mehr daraus auftaucht, bedeutet das, dass diese Möglichkeit auch uns anderen offensteht. Sie leuchtet dann in unserem Kopf auf wie eins dieser grünen Schilder, die man über den Notausgängen am Ende von Hotelfluren sieht,..." (S. 208/209)

Doch zum Glück gibt es auch vieles an Gutem und an Ressourcen in Mariannes Leben und so wird sie ihren eigenen Umgang mit ihrer Verletzlichkeit finden und ihre Tochter beim Heranwachsen begleiten können.

Es ist also ein dunkles und tiefgründiges Thema, das dieser Roman behandelt. Wie viel Autobiographisches drin steckt, weiß ich nicht. Jedenfalls handelt es sich um eine Autorin, die ihr Thema und die psychischen Zustände ihrer Figuren sehr gut versteht und empathisch und mit treffenden Worten und Bildern zu beschreiben versteht. Insgesamt ist es ein Buch, das ruhige Momente braucht, in denen man sich darauf einlässt. Es gibt kaum größere Spannungsmomente... dass die Mutter verschwunden bzw. höchstwahrscheinlich verstorben ist, wissen wir ziemlich von Anfang an, und ebenfalls, dass Marianne es zumindest bis ins mittlere Erwachsenenalter geschafft hat und nun selbst eine heranwachsende Tochter hat - denn aus dieser Perspektive wird erzählt.

Der Reiz des Buches liegt also weniger in der Spannung, als in der tiefgründigen Figuren- und Charakterstudie und dem Porträt einer zutiefst verwundeten Familie, die doch auf ihre Art versucht, das Beste daraus zu machen. Ich habe das Buch gerne gelesen und kann es allen empfehlen, die bereit sind, sich darauf einzulassen.

Bewertung vom 09.05.2025
Blood of Hercules / Villains of Lore Bd.1
Mas, Jasmine

Blood of Hercules / Villains of Lore Bd.1


sehr gut

Düster, sarkastisch und mit sehr eigenwilliger Interpretation griechischer Mythologie:

Alexis muss sich als verlassenes Waisenkind in einer brutalen Welt durchschlagen: die ersten Jahre wächst sie bei lieblosen und gewalttätigen Pflegeeltern auf und muss hungern. Ihr einziger Trost sind ihr Pflegebruder, der etwas später zur Familie kommt und den sie sehr liebt, und die zynische und gefährliche, aber gegenüber Alexis sehr liebevolle und beschützende, unsichtbare Schlange Nyx.

Wir haben als Hauptprotagonistin hier also eine grundsätzlich sympathische und sehr intelligente junge Frau mit einem eigenwilligen, zynischen Humor (der sehr gut zu dem ihrer Schlangengefährtin passt), die aber auch tief traumatisiert ist. Vor diesem Hintergrund lassen sich die weiteren Geschehnisse besser verstehen.

Bei einer Prüfung am Ende der High School stellt sich überraschend heraus, dass Alexis über göttliches Blut verfügt und es wird vermutet, dass sie ein "verstoßenes Halbblut" der olympischen Spartaner sei, Ergebnis einer Liaison zwischen einem Gott oder einer Göttin und einem Menschen. Als solche wird sie auf die griechischen Inseln ins Reich der spartanischen Götter mitgenommen, wo sie sich erst einmal in einem blutigen Massaker für eine Ausbildung qualifizieren muss. Wider Erwarten überlebt sie das Massaker, bekommt als Mentoren Patro und Achilles zugeteilt, zwei als homosexuelles Paar zusammenlebende Spartaner, die zu den dunklen chtonischen Häusern gehören und von ihr erst einmal als Monster angesehen und gefürchtet werden.

Den Hauptteil des 600 Seiten langen Buches macht die Zeit auf der Academy aus. Dort geht es äußerst brutal und militärisch zu, Alexis ist die einzige Frau unter lauter Männern, es gibt weder Essen, noch die Möglichkeit, zu schlafen oder sich zu waschen, und beim kleinsten Verstoß irgendeines Gruppenmitgliedes werden alle in die Wildnis zum Laufen und Schwimmen geschickt, selbst im tiefsten Winter und wenn dort Titanen lauern, die einen umbringen möchten.

Dieses Buch ist kein klassisches Romantasy-Buch, denn die klassische Liebesgeschichte zwischen Alexis und irgendjemand anderem gibt es nicht, auch wenn immer wieder mal betont wird, wie unglaublich attraktiv insbesondere diverse männliche Götter und Halbgötter seien. Spice kommt aber sehr wohl immer wieder mal vor, auch wenn es nicht der Schwerpunkt des Buches ist.

Das Setting mit der griechischen Mythologie im Hintergrund ist interessant, verlangt aber speziell Menschen mit Vorwissen in diesem Bereich einiges an gedanklicher Flexibilität ab: zwar kommen die bekannten Götternamen vor, doch werden deren Beziehungen und Eigenschaften stark neu interpretiert und am meisten Spaß hat man am Lesen, wenn man sich von allem vorhandenen Vorwissen zu den griechischen Göttern löst und sich komplett neu auf die Welt einlässt, die hier präsentiert wird. Dass die griechischen Götter nicht Altgriechisch, sondern Latein sprechen, ist auch ein Detail, das einen nicht stören sollte, das ist eben so in dieser Welt.

Die Gesellschaft der Götter, die beschrieben wird, ist eine sehr archaische und von tiefstem Patriarchat geprägt: Frauen gibt es nur wenige, diese haben kaum etwas zu sagen und auf ihre "Ehre" muss geachtet werden (und ist diese beschmutzt, dann besteht eine gängige Lösung darin, sie möglichst schnell zu verheiraten) und die meisten vorkommenden Männer zeigen diverse misogyne Verhaltensweisen. Alexis nimmt das meiste davon passiv hin und wehrt sich wenig. Zwar wird sie von anderen Frauen als Kämpferin für die Freiheit der Frauen verehrt, sieht sich aber selbst null als solche, auch, weil sie ihr Schicksal und ihren Weg ja gar nicht selbst gewählt hat.

Es ist also eine sehr düstere Gesellschaft, die man aushalten können muss innerlich. Wege zur Befreiung der Frauen zeigen sich in diesem Buch noch kaum, vielleicht wird das in den Folgebänden stärker Thema, immerhin ist es der erste Band einer mehrbändigen Reihe.

Wer dieses Buch liest, muss also einiges an Dunkelheit ertragen können: Misogynie, der kaum etwas entgegen gesetzt wird und viel Brutalität und Gewalt. Alexis ist über weite Strecken sehr einsam und bekommt erst spät ansatzweise Verbündete. Charakterentwicklung gibt es bei ihr nur wenig, vermutlich ist sie dafür zu traumatisiert und alleine.

Entgegen gesetzt wird all diesem Dunklen in dem Buch ein sehr zynischer Humor, sowohl von Alexis selbst als auch von ihrer Schlange Nyx, die eine meiner Lieblingsprotagonistinnen war.

Unterhaltsam geschrieben ist das Buch auf alle Fälle und es zieht einen so richtig in diese mystische, dunkle Götterwelt hinein, sobald man es schafft, sich vom Vorwissen zu dem Thema zu lösen und die Welt so hinzunehmen, wie sie hier vorgestellt wird. Es ist somit in Summe durchaus ein empfehlenswertes Buch für Fans von ziemlich dunkler und eigenwillig interpretierter Fantasy mit Dark-Romance-Anteil, die eine ganz andere Geschichte suchen, um dem Alltag zu entfliehen.

Bewertung vom 28.04.2025
Beeren pflücken
Peters, Amanda

Beeren pflücken


ausgezeichnet

Über Entwurzelung, Zugehörigkeit und Identität:

Mit "Beeren pflücken" ist der kanadischen Autorin Amanda Peters ein packendes Debüt gelungen, das völlig berechtigt schon einige Preise gewonnen hat. Es geht um Familie, Identität, altes Unrecht, Wut, aber auch die Möglichkeit für Versöhnung und Verzeihen. Und auch um die Frage des "alternativen Lebens". Wer wären wir, wenn wir in einer ganz anderen Familie aufgewachsen wären? Was hätte das mit uns, aus uns, gemacht?

In den 1960er Jahren arbeitet eine Mi'kmaq-Familie, nordamerikanische Ureinwohner, im Sommer auf Beerenplantagen. Die Eltern und die größeren Kinder pflücken Beeren, die kleineren Kinder laufen so mit und sind tagsüber weitgehend sich selbst überlassen. Es ist eine Zeit, in der man es sich noch nicht leisten konnte, sich die ganze Zeit aktiv um kleine Kinder zu kümmern, ganz besonders, wenn man einer benachteiligten Sozialgruppe angehört hat, so wie die unterdrückten und diskriminierten Mi'kmaq. Die Arbeit auf den Beerenfeldern ist eine harte, doch gibt es auch viel Freude und gemeinsames Zusammensein an den Abenden und in der Freizeit. Es ist eine fröhliche Familie, zu der die 4-jährige Ruthie gehört, sie ist die jüngste von sechs Geschwistern, abends kuschelt sie sich zum Schlafen an ihre Mama, und insbesondere der nur etwas ältere Bruder Joe steht ihr nahe. Er ist es auch, der sie zum letzten Mal sieht, bevor sie spurlos von den Beerenfeldern verschwindet. Alle verzweifelten Suchaktionen der Familie bleiben erfolglos, die Polizei ist nicht sehr gewillt, zu helfen, und es werden Jahrzehnte vergehen, bis die Familie Ruthie wiedersieht.

Das Buch ist abwechselnd aus zwei Perspektiven geschrieben: einerseits die von Ruthie, nun von ihren neuen Eltern Norma genannt, die materiell wohlhabend als abgeschirmtes Einzelkind bei ihren weißen Eltern aufwächst und schon früh beginnt, sich Fragen zu stellen... zu ihrer dunkleren Hautfarbe und auch sonst dem ganz anderen Aussehen im Vergleich zu ihrer irischstämmigen Familie, aber auch zu alten Träumen von einer anderen Mutter und Geschwistern, die von ihren Eltern als banale Kinderfantasien abgetan werden. Zusätzlich sind die Eltern, insbesondere die Mutter, die viele Fehlgeburten hatte, sehr ängstlich, und Norma wird überbehütet und von vielem abgeschirmt, auf eine Art, die sie als sehr erstickend erlebt.

Andererseits lesen wir über das Leben von Joe, Ruthies Bruder, der ihr Verschwinden nie verwunden hat, ein im Leben Herumirrender und Suchender bleibt, von einem Ort zum anderen flüchtet, engen Bindungen aus dem Weg geht und für nichts Verantwortung übernehmen will. Erst spät im Leben, als Joe Krebs im Endstadium hat und ihm nur noch kurz bleibt, findet er nicht nur wieder zu seiner Familie zurück, sondern es kommt auch zu einem Wiedersehen mit Ruthie (das ist kein Spoiler, da es schon ganz am Anfang des Buches zumindest angedeutet wird).

Stilistisch ist das Buch lebendig und interessant geschrieben, es fällt leicht, mit den Figuren mitzufühlen und sich mit ihnen zu identifizieren. Spannend sind auch die unterschiedlichen Perspektiven der zwei Geschwister. Immer wieder zeigt sich in Szenen die noch lange bestehende Diskriminierung der Mi'kmaq, was sehr nachdenklich macht. Die Autorin hat selbst zum Teil Mi'kmaq-Abstammung und kann hier sicher einiges aus der Erfahrung ihrer eigenen Familie mit diesem Thema beisteuern, das macht das Buch noch einmal auf einer tieferen Ebene lebendig und authentisch. Auch die intergenerationalen Traumatisierungen, die die Mi'kmaq und andere Native Americans seit langer Zeit mit sich herumschleppen, das Verleugnen der eigenen Kultur und Sprache und der problematische Umgang mit Alkohol und Gewalt sind Themen. Es ist also ein Buch, das nicht nur gut unterhält, sondern auch über einige vielen Lesenden sicher weniger bekannte Themen aufklärt, und das insgesamt sehr berührend ist - Leseempfehlung!

Bewertung vom 19.04.2025
Hier draußen
Behm, Martina

Hier draußen


ausgezeichnet

Tolles Debüt mit fein gezeichneten, vielfältigen Charakteren:

Martina Behm, die kennt sich offenbar aus mit den vielfältigen Facetten des Lebens auf dem Land heutzutage. Und sie kann schreiben! Selten hat mich ein Debüt so begeistert wie dieses! Fast 500 Seiten lang und ich habe mich keine Sekunde gelangweilt und immer bestens unterhalten gefühlt.

In "Hier draußen" lernen wir außergewöhnlich lebensechte, fein gezeichnete und vielfältige Charaktere kennen. Da ist das moderne Paar aus Hamburg, Ingo und Lara, er Start-Up-Unternehmer, sie Grafik-Designerin, zwei Kinder im Volksschulalter, das sich den Traum von der Idylle und Ruhe auf dem Land und dem unbeschwerten Aufwachsen der Kinder dort erfüllen will. So wird kurzerhand eine hohe Hypothek aufgenommen, ein alter Hof gekauft und saniert. Es bleibt spannend, mitzuverfolgen, ob und wie diese urban geprägten Menschen im Landleben und in der Dorfgemeinschaft ankommen werden, und was es mit ihrer Beziehung macht, wenn Ingo weiterhin seine Tage und oft auch Abende in Hamburg verbringt, während Lara alleine mit den Kindern auf dem Land ist.

Dann gibt es Jutta und Armin, die Übriggebliebenen einer alternativen Wohngemeinschaft mit sechs Menschen, die vor mehreren Jahrzehnten aufs Land gezogen sind. Die beiden sind gute Freunde, vielleicht auch ein bisschen mehr. Jutta gibt Kurse im Hühner-Schlachten, Armin renoviert leerstehende Gebäude, um Ferienwohnungen zu errichten. Insgesamt scheinen sich die beiden über die lange Zeit gut eingelebt zu haben auf dem Land.

Den alleinstehenden Bauer und passionierten Jäger Uwe, mit seiner treuen Jagdhündin Milla, lernt Ingo schon bald nach seinem Umzug näher kennen, als letzterer mit dem Auto versehentlich eine weiße Hirschkuh überfahren hat. Gemeinsam geben die beiden Männer dem schwer verletzten Tier den Gnadenschuss, freunden sich an, Ingo begeistert sich für die Natur und die Jagd, und beide fürchten ein bisschen den im Dorf verbreiteten Aberglauben, dem zufolge es Unglück bringe, eine weiße Hirschkuh getötet zu haben... auch das verbindet.

Noch einige weitere Menschen leben im Dorf, die wir näher kennen lernen: Maggy, ursprünglich aus der Kreisstadt, die sich in den Bauern Sönke verliebt und ihn geheiratet hat, und nun seit Jahrzehnten versucht, die angepassteste und fleißigste Landfrau von allen zu sein, um dazuzugehören. Ihre erwachsene Tochter Marieke, die dieses Beispiel ihrer Mutter abschreckend findet und eine moderne und unabhängige Frau ist... gleichzeitig aber tief mit der Landwirtschaft verbunden und interessiert daran, diese zu übernehmen.

Tove und Enno, die seit Jahrzehnten eine lieblose Ehe führen... die erwachsenen Söhne sind längst aus der Landwirtschaft in andere Berufe und in geografisch weiter entfernte Regionen geflüchtet, keiner davon wollte den Hof übernehmen... wie lange wird Tove, der selbst nichts gehört und die nichts geerbt hat, sich noch von ihrem Mann abwerten lassen?

Diese kurzen Charakterisierungen einiger Dorfbewohner zeigen schon - es sind ganz vielfältige und sehr unterschiedliche Menschen, die sich hier im kleinen Fehrdorf treffen. Die sich kennen lernen, übereinander und miteinander sprechen, gemeinsam Feste organisieren, sich misstrauisch aus der Ferne beäugen, sich aushelfen oder sich auch langsam anfreunden... auch über Alters- und Milieugrenzen hinweg.

Das Buch wechselt immer wieder mal die Perspektive, aus der die Ereignisse erzählt werden, mal erleben wir die Sicht von Ingo, dann die von Lara, dann z.B. die von Uwe oder von Jutta usw. Dadurch bekommen wir beim Lesen noch einmal einen spannenderen und vielschichtigen Blick auf das Dorfgeschehen und die Beziehungen der Menschen untereinander. Gleichzeitig ist es damit ein klug erzähltes Buch, das auch durch diesen Perspektivwechsel aufzeigt, wie differenziert das sein kann, was wir als Tatsache oder Wahrheit ansehen, denn jede und jeder hat den jeweils eigenen, einzigartigen Blick auf die Menschen und Geschehnisse.

Insgesamt gelingt es der Autorin ausgezeichnet, ein vielfarbiges Bild modernen Landlebens zu zeichnen. Neben den Beziehungen der Menschen, die im Zentrum des Romans stehen, thematisiert sie auch Phänomene wie den Umbruch in der modernen Landwirtschaft und die Herausforderungen, mit denen die Bauern zu kämpfen haben, genauso wie Werteunterschiede zwischen Stadt und Land und damit einhergehende Verständnisprobleme, die erst überwunden werden müssen.

Das Buch ist damit nicht nur sehr unterhaltsam geschrieben, sondern auch psychologisch glaubhaft konstruiert, mit tiefgründigen und vielschichtigen Charakteren, einem sehr authentisch geschilderten Setting und so, dass man dabei viel über die Facetten modernen Landlebens lernt. Ein großartiges Debüt: literarisch wertvoll und toll zu lesen - absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 15.04.2025
Vorsehung
Moriarty, Liane

Vorsehung


sehr gut

Können wir unserem Schicksal entgehen?

"Vorsehung" von Liane Moriarty ist ein Buch, das schon mal sehr spannend beginnt: es geht um eine Frau, die auf einmal in einem australischen Flug allen Mitreisenden unaufgefordert Todesalter und Todesursache prophezeit - und darum, wie die jeweiligen Menschen damit umgehen und welche Auswirkung diese Prophezeiung auf ihre Leben hat.

Da gibt es die, die erst einmal nicht viel auf die Prophezeiung geben, die Frau für eine Schwindlerin und ihre Aussagen für Humbug halten... bis die ersten Fälle von Mitreisenden, bei denen sich die Vorhersage bewahrheitet hat, durch die Medien gehen. Es gibt jene, die radikal ihr Leben ändern, um das drohende Unheil abzuwenden... die versuchen, sich vorzubereiten... oder die Wahrsagerin zu finden und sie dazu zu bringen, ihre Vorhersage zu ändern. Insgesamt wird das Leben insbesondere der Menschen, denen persönlich oder deren Lieben ein früher oder gewaltsamer Tod prophezeit wurde, sehr durcheinandergewirbelt. Einige von ihnen schließen sich zusammen und tauschen sich aus, zwei Frauen gründen eine Facebook-Gruppe für alle Mitglieder des betroffenen Fluges usw.

Das Buch liest sich unterhaltsam und leicht und regt dabei zum Nachdenken über Determinismus, den Schmetterlingseffekt und vieles weitere an. Abwechselnd erleben wir die Perspektiven einiger Flugpassagiere und ihres sozialen Umfelds mit: z.B. ein junger Mann, der noch nie in eine Schlägerei verwickelt war, aber dem ein gewaltsamer Tod prophezeit wird, eine bis jetzt kerngesunde Mittsechzigerin, die vorhat, nun endlich in ihrer Pension mit ihrem Mann auf Reisen zu gehen und über der nun das drohende Unheil eines möglichen baldigen Krebstodes schwebt, eine frisch verheiratete Braut, der prophezeit wird, durch ihren Intimpartner getötet zu werden, und eine Mutter mit einem Baby, dem vorhergesagt wird, im Alter von sieben Jahren zu ertrinken (und die die Flucht nach vorne ergreift und das Kind schon frühzeitig in so viele Schwimmkurse wie möglich schickt). Diese und weitere Charaktere lernen wir kennen und sie wachsen einem beim Lesen durchaus ans Herz. Über wessen Leben wir aber am allermeisten erfahren, das ist Cherry, die Wahrsagerin selbst. Auch sie hatte ein sehr interessantes Leben, über das ich gerne gelesen habe.

Insgesamt ist es ein spannend zu lesendes, unterhaltsames Buch mit glaubwürdigen Charakteren und angenehm kurzen Kapiteln, die die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählen. Für mich, die ich hauptsächlich gerne Romane und insgesamt tiefgründige Literatur lese, war es sehr schön zu lesen.

Ich kann mir aber vorstellen, dass es für Menschen, die eher den Reiz und die Spannung eines Thrillers suchen, etwas zu langatmig sein könnte: es stehen eben tatsächlich die ausführlich erzählten Lebensgeschichten im Vordergrund, nicht nur deren mögliches tragisches Ende. Insgesamt ist für mich das Buch klar - so wie es auch auf dem Coverbild steht - viel mehr Roman als Thriller.

Bewertung vom 10.04.2025
Schwebende Lasten
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


ausgezeichnet

Ein ganzes Frauenleben, vor, in und nach der DDR - bewegend und authentisch:

"Schwebende Lasten" von Annett Gröschner ist ein Roman, der bei mir noch stark nachwirkt, nachdem ich ihn vor etwa einer Woche fertig gelesen habe. Nüchtern und sachlich, aber gerade dadurch auch emotional enorm berührend, wird das Leben der fiktiven Hanna Krause geschildert, die prototypisch für so viele Frauen ihrer Generation aus dem ehemaligen Ostdeutschland stehen könnte. Hanna ist um 1913 geboren und sie stirbt irgendwann nach der Wende. Wie viele Zeitenwandel, Krisen und Katastrophen, wie viele Umbrüche und vor allem wie viel Leid hat diese tapfere Frau erlebt!

S. 42: "An solchen Abenden musste er auf der Küchenbank schlafen. Eine bessere Form der Geburtenkontrolle kannte Hanna nicht."

Hanna arbeitet erst als junges Mädchen als Aushilfe im Blumenladen ihrer halben Schwester, dann heiratet sie jung und bekommt die ersten Kinder. Verhütung gibt es nicht, Abtreibung ist verboten (Hanna wird dennoch mehrere haben), regelmäßiger Geschlechtsverkehr wird erwartet und so folgt eine Schwangerschaft auf die nächste, auch in Zeiten von Krieg und Not, in denen nicht klar ist, wie ein weiteres Kind durchgebracht werden soll. Insgesamt wird Hanna sechs Kinder zur Welt bringen, von denen nur vier das Erwachsenenalter erreichen.

Dann im Krieg, S. 109: "Das war noch nicht alles, dachte Hanna in der Notunterkunft, da kommt noch mehr, und sie sollte recht behalten. Das war erst der Anfang."

Durch das ganze Buch und durch Hannas Leben zieht sich die Liebe zu den Blumen. Passend dazu wird jedes Kapitel mit der Vorstellung einer Blumenart eingeleitet. Zwar kann Hanna nur ganz am Anfang ihres Lebens tatsächlich als Blumenhändlerin arbeiten, doch findet sie immer wieder Wege, ihr Wissen dazu weiter zu kultivieren, etwa durch die Pflege eines Gemeinschaftsgartenstückchens nahe ihrer Wohnung im Plattenbau in der DDR. Und auch im Krieg und im Angesicht von Zerstörung, Tod und tiefstem Elend ist die Verbindung zu den Blumen das, was Hanna aufrecht hält: "Hanna existierte. Nicht mehr und nicht weniger. Sie hatte versucht, über das Menschsein nachzudenken, war aber zu keinem Ergebnis gekommen, außer dass Blumen ihr menschlicher vorkamen als ihre eigene Gattung." (S. 126)

In der DDR ergreift Hanna einen ursprünglich typischen Männerberuf, denn mit diesem kann sie mehr Geld für ihre Familie verdienen. Sie wird Kranfahrerin, hier zeigt sich der Bezug zum Titel des Buches, und wir erleben auch diesen Arbeitsalltag von ihr mit: "Die Kranbahn über ihr, die daran befestigten grünen Lampen, die Meisterbude rechts unten, die Drehmaschinen, die Werkstücke, die Gabelstapler und die Männer mit den Helmen, die zu ihr heraufwinkten. Sie war die einzige Frau, sie verteidigte bei der Prüfung ihr Geschlecht, sie war dabei, ins kalte Wasser zu springen." (S. 167)

Auch hier zeigt sich wieder eine klassische Qualität Hannas: sie ist anpackend, tüchtig und mutig, scheut nicht vor Herausforderungen zurück und ist bereit, sich beruflich in neue Gebiete vorzuwagen und sich zu entwickeln. Das sind Eigenschaften, die sie in ihrem Privat- und Berufsleben zeigt.

Sonderlich politisch ist Hanna aber nicht und lehnt sich weder gegen das NS-Regime auf noch setzt sie sich in der DDR für mehr Freiheit ein. Ambitionen, die DDR zu verlassen, hat sie auch keine. Sie ist eine, die sich auch sehr gut mit dem herrschenden System arrangieren kann und damit insgesamt eine ambivalente Persönlichkeit.

Als Hanna schon eine alte Frau von fast 80 Jahren ist, kommt es zur Wende und damit zur Wiedervereinigung. Wieder ein Systemwechsel für Hanna: "Als die Mietergärten verschwanden, wehrte sie sich nicht. Sie blieb einfach auf dem Sofa sitzen und sah sich bei ausgestelltem Ton die Showsternchen im Fernsehen an. Sie zog die Vorhänge zu, hörte aber, wie die Gartenarbeiter die Pflanzen mit der Wurzel ausrissen."

Mit jeweils wenigen Worten gelingt es der Autorin damit, ein eindringliches Bild der jeweiligen Zeit zu malen. Viele Details, aber vor allem die Atmosphäre dieses beeindruckenden Buches wirken in mir tief nach. Es sind harte Bilder, von Tod und Zerstörung, einem Magdeburg, das dem Erdboden gleich gemacht wurde, Jahren der Entbehrung, einem langsamen Aufschwung und zaghafter Hoffnung, wirtschaftlich besseren Zeiten mit wenig Freiheit und etwas Raum für Individualität, wie beim Anlegen der Blumengärten. Ganz viel Sich-Abfinden mit den Umständen, Akzeptieren und das Beste aus dem machen, was möglich ist.

Es ist ein wichtiges Buch, das dazu beitragen kann, Verständnis zwischen den Generationen zu fördern und uns allen noch einmal anders spürbar zu vermitteln, woher unsere Vorfahren kommen und was sie geprägt haben könnte, sodass sie so wurden, wie wir sie erlebt haben und sie schlussendlich uns geprägt haben. Hanna steht hier als Beispiel für viele.

Bewertung vom 09.04.2025
Dein ADHS-Wohlfühl-Guide
Vogel, Laura

Dein ADHS-Wohlfühl-Guide


ausgezeichnet

Wunderschön gestaltet und mit vielen hilfreichen Tipps für neurodivergente Menschen:

In den letzten Jahren ist das Bewusstsein für Neurodiversität sehr angestiegen und immer mehr Menschen finden auf der Suche nach Erklärungen für die Herausforderungen, die sie schon ihr ganzes Leben mit sich tragen, zu Informationen über ADHS, das autistische Spektrum, Hochsensibilität und Hochbegabung und vieles mehr, erkennen sich als neurodivergent wieder. Auch im psychologischen und medizinischen Bereich steigt die Nachfrage nach Diagnostik, Beratung und Behandlung in diesem Bereich.

Mit dem ADHS-Wohlfühl-Guide gibt die Autorin, selbst ADHS-Betroffene und erst im Erwachsenenalter diagnostiziert, Betroffenen ein sehr ansprechendes, buntes und übersichtlich gestaltetes, inspirierendes Werkzeug-Buch in die Hand. Darin können sie Tipps und Tools für verschiedenste Herausforderungen finden, mit denen sie im Alltag zu tun haben.

Eingeteilt ist das Buch in sieben große Kapitel. Im ersten geht es um die Grundlagen und darum, was ADHS überhaupt ist, welche verschiedenen Unterkategorien davon es gibt, warum es sich bei Mädchen und Frauen oft anders äußerst als bei Jungen und Männern und erstere deshalb oft unterdiagnostiziert bleiben, sowie um Gemeinsamkeiten mit anderen Neurodivergenzen wie Hochsensibilität oder dem autistischen Spektrum. Auch auf typische ADHS-assoziierte Herausforderungen im Alltag wie die ADHS-Paralyse, den Tunnelblick oder Brain Fog wird eingegangen.

In den restlichen sechs Kapiteln steht jeweils ein ADHS--spezifisches Schwerpunktthema im Vordergrund, das erklärt wird und für das es dann verschiedene praktische Tipps, Tools und Übungen gibt, um die damit verbundenen Herausforderungen zu überwinden. Die Kapitel heißen (bis auf das letzte) "Ich brauche..." und dann folgt z.B. "Ruhe & Entspannung", "Sicherheit & Geborgenheit", "Fokus & Klarheit", "Inspiration & Lebensfreude" oder "Energie und Motivation". Im letzten Kapitel geht es darum, in Balance zu kommen und zu bleiben. Jedes Kapitel ist in einer anderen Trägerfarbe gestaltet, sodass man leicht erkennt, wo im Buch man sich gerade befindet.

Sehr sympathisch an diesem Ansatz ist der positive Fokus: wer dieses Buch liest, wird nicht ständig daran erinnert, was mit einem selbst falsch sein könnte, sondern kommt in Kontakt mit den eigenen Bedürfnissen und Ressourcen. Dabei legt das Buch insgesamt einen Schwerpunkt auf den für ADHS-Betroffene oft herausfordernden Übergang zwischen Stimulation und Entspannung und gibt viele wertvolle Tipps für Experimente zu diesem Thema.

Vieles, was im Buch an Methoden vorgestellt wird, sind allgemein Tipps für eine gesunde, balancierte und entspannte Lebensführung, von denen auch Menschen ohne ADHS profitieren können, z.B. Achtsamkeitsübungen, das bewusste Wählen wohltuender Hobbys, eine gesunde Ernährung, die Gestaltung einer angenehmen Umgebung, wertschätzende Rituale für sich selbst, Verbundenheit mit anderen pflegen, Journaling, Visionboards und vieles mehr. Damit sind das inhaltlich überwiegend keine unbekannten oder neuartigen Methoden - der neuartige Ansatz ist, sie in den ADHS-Kontext zu stellen und bewusst nach ADHS-spezifischen Bedürfnissen und Themen zu gliedern.

Sehr ansprechend habe ich auch gefunden, dass die Autorin immer wieder kleine Einblicke in ihre eigene Geschichte und ihren Umgang mit dem Thema gibt, das macht das Buch persönlich und nahbar. Beispielsweise ist es ihr gelungen, trotz ADHS nicht nur ein Studium, sondern sogar eine Promotion zu absolvieren, auf ihre ganz eigene, individuelle Weise und mit anderen Arbeitstechniken als sonst dafür üblich sind.

Insgesamt ist es ein wunderschön gestaltetes, inspirierendes, persönliches und wohltuendes Buch, das ich allen ADHS-Betroffenen, aber auch sonst neurodivergenten Menschen und auch allen, die sich insgesamt für Tools zur balancierten und gesunden Lebensgestaltung interessieren, bestens empfehlen kann.

Bewertung vom 06.04.2025
Flusslinien
Hagena, Katharina

Flusslinien


weniger gut

Enttäuschend langweilig, langatmig und unplausibel:

"Flusslinien", das neue Buch von Katharina Hagena, hätte ich so gerne gemocht. So ansprechend waren das schöne Cover mit der Flusslandschaft und die Kurzbeschreibung. Ich habe mich auf ein witziges, lebenskluges und unterhaltsames Buch gefreut, doch wurden meine Erwartungen nicht erfüllt. Damit ich ein Buch mit nur zwei Sternen beurteile, muss schon einiges zusammenkommen. Deshalb werde ich nun genau darauf eingehen, in welchen Bereichen mich dieses Buch enttäuscht hat.

Was schätze ich am Lesen?

1) Eine interessante, glaubwürdige Geschichte:

Hier haben wir die 102-jährige Margrit, die in einer noblen Seniorenresidenz in Hamburg lebt. Ihre 18-jährige Enkelin Luzie, die aufgrund des Traumas eines Vergewaltigung bei einem Auslandsaufenthalt in Australien (wo ihr Vater lebt) die Schule abgebrochen hat und Tätowiererin werden will. Arthur, in seinen 20ern, der seinen Zwillingsbruder Theo verloren hat, als Taucher gearbeitet hat und außerdem Kunstsprachen erfindet und verkauft, aber nebenbei in der Seniorenresidenz als Fahrer jobbt. Abwechselnd erleben wir die Geschichte aus den Perspektiven dieser drei Personen mit. Das wusste ich schon aus der Kurzbeschreibung und das hätte eine nette Geschichte werden können. Leider passiert aber sehr wenig und das Buch ist voll von irrelevanten, ausgiebig erzählten, langweiligen Szenen, die für mich nirgendwo hingeführt haben. Dieses fast vierhundert Seiten lange Buch reiht Szene an Szene an Szenen, ohne wirklichen Spannungsaufbau oder Höhepunkt.

2) Gut gezeichnete, glaubwürdige Figuren, die tiefgründig und authentisch dargestellt sind und eine interessante Entwicklung aufweisen:

Wir lernen die oben erwähnten Figuren kennen und dann noch einige weitere in ihrem Umfeld, z.B. Mutter und Vater von Luzie (sind getrennt) Arthurs Zwillingsbruder Theo, oder Gregor, einen Mitbewohner Margrits in der Seniorenresidenz. Sowohl die drei Hauptfiguren als auch alle Nebenfiguren blieben für mich aber sehr blass charakterisiert. Nach der Lektüre des Buches könnte ich kaum jemanden von ihnen abseits von sehr plumpen Stereotypen (Luzie ist verletzt und rebellisch aufgrund des Traumas, Margrit ist weise und gütig,....) charakterlich tiefgehender beschreiben. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Figuren eine sonderliche Entwicklung durchgemacht hätten und sie bleiben für mich sehr blass. Auch habe ich mich während der Lektüre den meisten von ihnen innerlich nicht nahe gefühlt.

3) Eine besondere, schöne und einprägsame Sprache:

Insgesamt zeichnet sich dieses Buch dadurch auch nicht sonderlich aus. Gelegentlich gibt es schöne und einprägsame Sätze insbesondere in den Margrit-Kapiteln, die ja als weise dargestellt werden soll, so z.B. auf S. 44: "Nun, da die Schatten länger und die Risse tiefer werden, muss sie noch einmal ihre letzten Bilder einordnen." In diesem Bereich schneidet das Buch also für mich weder bemerkenswert noch besonders schlecht ab.

4) Ausgiebige Recherche, sodass man beim Lesen auch etwas über die beschriebenen Themen lernt oder diese zumindest nicht komplett unglaubwürdig wirken:

Das ist ein weiterer Punkt, der mich in diesem Buch sehr enttäuscht hat. Plakativ werden so gut wie alle Zeitgeistthemen (Coronazeit, Ukrainekrieg, Klimawandel, Fridays for Future,...) oberflächlich genannt und eingebaut, ohne sie aber tiefer mit dem Buch zu verbinden. Das wirkt auf mich, als ob die Autorin regelrecht eine Liste all dieser Themen abgearbeitet hätte. Ich mag durchaus Romane mit aktuellem Bezug, aber hier wäre es mir lieber gewesen, die Autorin hätte sich auf wenige dieser Themen beschränkt, diese aber authentischer und tiefgehender in das Buch eingebaut. Überhaupt empfinde ich das Buch über weite Strecken als sehr oberflächlich: immer wieder kamen durchaus interessante Themen auf, z.B. zur Umweltproblematik, die mit der immer weiter betriebenen industriellen Elbvertiefung für die Schifffahrt verbunden ist, aber diese wurden meistens nur kurz gestreift, bis das nächste von gefühlt hunderten Themen kurz angeschnitten wurde. Manches war auch schlicht extrem klischeehaft beschrieben, z.B. reist Arthur nach Belarus, wo sich eine Gruppe für eine seiner Kunstsprachen interessiert, diese Gruppe hat die Kunstsprache in kürzester Zeit nahezu perfekt gelernt, hält darin komplexe faschistische Vorträge und Arthur flieht angeekelt und reist mit dem nächsten Flieger um 4000 Euro zurück nach Deutschland, wobei er die gesamten Ersparnisse von sich und noch welche von seinem Bruder aufbraucht. Hier hatte ich nicht das Gefühl, dass sich die Autorin mit Belarus, mit Kunstsprachen oder mit sonst etwas näher auseinandergesetzt hat. Auch das Tätowieren alter Menschen in der Seniorenresidenz wirkte auf mich nicht sehr glaubwürdig und authentisch geschildert.

Fazit: 2 Sterne für die Bemühung, eine humorvolle, berührende Geschichte zu schreiben, und für stellenweise gute Ansätze dazu. Keine Leseempfehlung.

Bewertung vom 05.04.2025
Der Einfluss der Fasane
Strubel, Antje Rávik

Der Einfluss der Fasane


ausgezeichnet

Tiefgründige Darstellung eines Milieus, in dem Narzissmus floriert:

Hervorragend geschriebene Bücher, solche von Autorinnen und Autoren, die Buchpreise gewinnen, zeichnen sich meist durch ihre Vielschichtigkeit aus. Sie wirken emotional und intellektuell noch länger nach, bieten Stoff für tiefgehende Diskussionen, bilden und regen zum Nachdenken an. Manchen dieser Bücher gelingt es dann auch noch, zusätzlich angenehm und unterhaltsam zu lesen zu sein.

"Der Einfluss der Fasane", das neue Buch der Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2021, Antje Rávik Strubel, ist so ein Buch. Vordergründig liest sich die Geschichte leicht, schnell und unterhaltsam, doch regt sie gleichzeitig tief zum Nachdenken und Diskutieren an.

Worum geht es? Hella Renata Karl hat beruflich im Leben viel erreicht, sie ist Feuilletonchefin einer großen Zeitung und bewegt sich souverän auf dem gesellschaftlichen Parkett. Bei einer lieblosen Mutter in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen, hat sie den großen Aufstieg geschafft: eine intelligente, selbstbewusste und erfolgreiche Frau. Doch nun ist ihre Position bedroht: sie hat aufgedeckt, dass ein beliebter Theaterdirektor, Kai Hochwerth, seine Geliebte geschwängert hatte und diese zur Abtreibung drängen wollte, und darüber einen Artikel verfasst. Kurz darauf nimmt sich der Beschuldigte das Leben, und die Medienlandschaft und das Internet fallen über Hella her und meinen, in ihr die Schuldige für den Suizid gefunden zu haben. Sie bekommt anonyme Drohungen und wird beruflich von ihrem Posten erst einmal auf unbestimmte Zeit beurlaubt.

Soweit zur wichtigsten Rahmenhandlung. Wirklich interessant an diesem Buch finde ich aber die Psychogramme sowohl Hellas als auch des Verstorbenen und weiterer sich im beruflichen Umfeld zwischen Theater und Medien bewegender Menschen. Das Buch zeichnet ein deutliches Bild der Scheinwelt, die gerade in höheren gesellschaftlichen Kreisen herrscht: wie wichtig Status, Auftreten und der schöne Schein sind und wie schnell man nach einem scheinbar kleinen Fauxpas sehr tief fallen kann... das betrifft sowohl Hella als auch Hochwerth.

Überhaupt spiegeln sich beide sehr stark ineinander, Hochwerth ist ein offenkundiger Narzisst, der andere Menschen für seine Zwecke ausnützt, auch sexuell, und manipuliert, während sich Hellas narzisstische Tendenzen erst auf den zweiten Blick offenbaren. Doch erlebt man ihre Gedanken und Handlungsmotive mit, so wie wir das als Lesende des Buches können (denn das ganze Buch ist aus ihrer Innenperspektive geschrieben), so erleben wir sie als eine vom Wunsch nach Erfolg und Status Getriebene mit gleichzeitig instabilem Selbstwert, die mit anderen Menschen nur oberflächliche Beziehungen eingeht, zu wahrer Intimität kaum fähig ist, und ebenfalls dazu neigt, andere auf ihre Funktion für sich zu reduzieren. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die beiden sich durchaus sympathisch waren... zumindest bis zu Hellas Artikel über Kai Hochwerth.

Besonders interessant finde ich an dem Buch aber nicht nur die Frage, ob und in welchem Ausmaß diese beiden nun narzisstisch sind oder nicht, sondern die weitergehende Perspektive, inwieweit das Milieu, in dem sie sich bewegen, Narzissten regelrecht anzieht, heranzieht und fördert bzw. gewisse Persönlichkeitstendenzen in diese Richtung möglicherweise sogar erforderlich sind, um eine solche Karriere zu machen. Auch das wird in dem Buch sehr anschaulich dargestellt, wie ich finde. Somit regt es auch zur Reflexion über die Wechselwirkung zwischen individueller Persönlichkeitsentwicklung und dem jeweiligen Milieu an, genauso wie darüber, welche Werte wir in unserer medien- und darstellungszentrierten Gesellschaft fördern (möchten) und welche nicht.

Damit ist es insgesamt ein nicht nur angenehm lesbares und unterhaltsames, sondern auch sehr intelligentes und tiefgründiges Buch, das ich allen Interessierten sehr empfehlen kann.

Bewertung vom 31.03.2025
Geht so
Serrano, Beatriz

Geht so


ausgezeichnet

Skizze einer Entfremdung von der Arbeit und dem eigenen Leben:

"Geht so", geschrieben von Beatriz Serrano, und ausgezeichnet übersetzt von Christiane Quandt, hat in Spanien den renommierten Literaturpreis "Planeta" gewonnen. Das hat mich neugierig gemacht auf dieses Buch mit dem vordergründig so unscheinbaren Titel, aber gleichzeitig einem sehr aussagekräftigen Titelbild einer jungen Frau, die sich aus einem Fenster hängen lässt.

Tatsächlich ist das Buch eines meiner Jahreshighlights, weil es der Autorin gelingt, in sehr pointierter, treffender Weise die Entfremdung von der Arbeit und damit - weil diese oft so einen großen Raum im eigenen Leben einnimmt - auch insgesamt von sich selbst und dem eigenen Leben, unter der speziell so viele junge Menschen der Generationen Millenials und Zoomer leiden, zu skizzieren und damit nachvollziehbar und nachfühlbar zu machen.

Marisa ist eine junge Frau in ihren 30ern, die in Madrid lebt und Kunstgeschichte studiert hat. Beruflich ist sie in einer Werbeagentur gelandet und mit ihrer Kreativität, Intelligenz und ihrem Charisma sehr erfolgreich in dem, was sie tut. Kaum jemand merkt, wie sehr Marisa innerlich ihren Job, den sie als sinnlos wahrnimmt und der gleichzeitig fast ihre gesamte Zeit und Lebensenergie frisst, hasst. Überhaupt jeden Tag weiter zur Arbeit zu gehen, das gelingt Marisa nur durch die Einnahme von Tabletten, und sie träumt davon, einen Unfall zu haben, der sie von der Last dieser Arbeit befreien könnte.

"... in meinem Fall erschien mir die Werbebranche sicherer und stabiler als die hypothetische und sich immer weiter von mir entfernende Welt der Kunst. Ich schätze, ich habe versagt. Eigentlich habe ich mich, vor der Wahl, glücklicher zu sein oder mehr Dinge zu kaufen, schlicht und einfach dafür entschieden, mehr Dinge zu kaufen." (S. 27)

Auch sonst ist Marisas Leben eher sinnentleert: sie hat kaum Freunde, statt einer ernsthaften Beziehung nur eine Freundschaft+ mit ihrem Nachbarn und hat sich von ihren Eltern innerlich entfremdet. Freude oder zumindest Ablenkung findet Marisa höchstens daran, sich mit ihrem guten Gehalt nach der Arbeit im Supermarkt Delikatessen zu kaufen, und zur Ablenkung banale Youtube-Videos zu schauen, auch in der Arbeitszeit. Die eine Arbeitskollegin, mit der so etwas wie eine Freundschaft am Entstehen war, hat sich das Leben genommen.

Diese und eine weitere Freundin von Marisa, die sich entschieden hat, aus dem Erwerbsleben ganz auszusteigen und sich von wohlhabenden Männern finanzieren zu lassen, zeigen auf, dass es eben nicht nur ein individuelles Persönlichkeitsproblem Marisas ist, dass sie ihre Berufstätigkeit so sinnentleert empfindet, sondern es vielen anderen ähnlich geht und die Probleme dahinter systemische sind.

Und so schleppt sich Marisa jeden Tag innerlich depressiv, aber äußerlich unter dem Einfluss der Tabletten sehr gut funktionierend zu ihrer Arbeit, und wird innerlich in ihrer Einstellung dazu immer zynischer.

Das alles gipfelt in einem verpflichtenden Teambuilding-Event in einem Seminarhotel am sonst freien Wochenende, für das Marisa alle verbleibenden Kräfte zu mobilisieren versucht, obwohl sie eigentlich am Ende ist:

"Seit Monaten laufen die Vorbereitungen für unseren gemeinsamen Ausflug. Und ich habe es verpasst, mir rechtzeitig eine Ausrede einfallen zu lassen. Die Vorstellung, ein ganzes Wochenende mit den Leuten aus meinem Büro zu verbringen, erscheint mir etwa so erstrebenswert, wie mir die Fußnägel mit einer Zange rauszureißen."

Das Buch ist sehr gut geschrieben und aus der Perspektive Marisas erleben wir eine hochintelligente Frau, die ihre Erfahrung und ihr Leid sehr treffend und mit einem bitterschwarzen Humor auf den Punkt bringen kann:

"Jetzt ist das Büro wirklich leer. Noch ein Vorteil, wenn man früher in die Pause geht: man kann sich sehr viel mehr Zeit lassen als nötig, weil sowieso alle beim Essen sind, wenn man zurückkommt." (S. 81)

Insgesamt regt das Buch zum Nachdenken und Diskutieren über viele Themen an: über den Stellenwert von Arbeit, über als sinnlos erlebte Jobs, über das kapitalistische Wirtschaftssystem, in dem wir leben, über mögliche Alternativen und Auswege und über vieles mehr.

Ein kluges Buch, dem ich viele Menschen wünsche, die es lesen und miteinander überlegen, an welchen Stellen es in unserem Wirtschaftssystem und in unserem Umgang mit Arbeit krankt und was wir gemeinsam daran zum Wohle aller verändern könnten.