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Benutzername: 
Kwinsu
Wohnort: 
Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 103 Bewertungen
Bewertung vom 23.05.2025
Das Echo der Sommer
Labba, Elin Anna

Das Echo der Sommer


ausgezeichnet

Rávdná, ihre Schwester Ánne und ihre Tochter Ingá sind Sami, sie folgen dem Lauf der Jahreszeiten. Im Winter leben sie in einer Baracke im Osten, im Sommer ziehen sie gen Westen an den See, um dort der Fischerei nachzugehen. Immer wieder wird durch ein großes Elektrizitätsunternehmen ihr Territorium verkleinert, indem es den See, der ihre Lebensgrundlage darstellt, mehr und mehr aufstaut. Jedes Mal verlieren sie ein Mehr an dem ohnehin schon geringen Eigentum. Die Samen werden als minderwertiges Volk angesehen, nahezu ohne Rechte. Doch ihr Widerstand wird im Laufe der Jahrzehnte immer mehr...

Elin Anna Labba thematisiert in "Das Echo der Sommer" die kontinuierliche Vertreibung der Sami auf eindrucksvolle Weise. Die indigene Bevölkerung Skandinaviens wurde lange Zeit als minderwertig angesehen, als Menschen betrachtet, die es selbst nicht zustande bringen, in "geordneten" Verhältnisse zu leben. Ohne groß zu fragen, werden sie peu à peu ihres Lebensraumes beraubt, ohne eine Mitsprache an ihrer Zukunft zu haben. Labba erzählt anschaulich die Naturverbundenheit der Sami - und wie diese von der schwedischen Obrigkeit gekonnt ignoriert wurde. Die drei Frauen stecken sich lange zurück, bis sie nicht mehr mitmachen wollen. Dabei gehen sie äußerst unterschiedlich mit der schleichenden Vertreibung um. Ánne, selbst vom Schicksal stark mitgenommen, resigniert, während ihre Schwester Rávdná immer mehr Widerstand leistet. Rávdnás Tochter Inga will bloß leben, interessiert sich nicht wirklich für Politik, sondern bemüht sich um ein erträgliches Überleben. Sie leben im Einklang mit der Natur, doch im Laufe der Zeit scheint das immer mehr ein Hindernis zu sein.

Die Erzählung der Autorin hat eine besondere Atmosphäre, die Leser:innen spüren förmlich die Verbundenheit der Figuren mit der Natur und die zerstörerische Kraft der hegemonialen Herrscherbevölkerung. Die Sprache ist kühl, beinahe unemotional und hinterlässt doch den Eindruck der puren Unterdrückung der indigenen Bevölkerung. Wir begleiten die Protagonistinnen über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren (1920er bis in die 1970er Jahre) und fühlen, wie unterschiedlich deren Umgang mit der Unterdrückung doch ist. Von purer Resignation, über widerständischen Handeln zu Ignoranz ist alles vorhanden. Die Charaktere sind äußerst unterschiedlich, ihnen gemein ist aber, dass sie nie wirklich zugänglich sind. Trotzdem sind all ihre Handlungen nachvollziehbar, auch wenn es schwer erträglich ist, in welchem Ausmaß die Unterdrückung stattfindet.

Das Buch ist für alle geeignet, die sich mit der Geschichte und dem Umgang mit dieser europäischen indigenen Bevölkerung auseinander setzen wollen. Die Landschaftsbeschreibungen und die kulturellen und religiösen Aspekte der samischen Bevölkerung werden glaubhaft vermittelt. Die Autorin schafft es gekonnt, Bilder zu erzeugen, die die Handlung, die Figuren und die landschaftliche Atmosphäre authentisch widerspiegeln.

In den letzten Jahren hat es einige Literatur gegeben, die sich mit der samischen Kultur und deren Unterdrückung beschäftigt haben. Elin Anna Labba schafft es in "Das Echo der Sommer" glaubhaft, deren Unterdrückung und eigenen Widersprüche darzustellen. Was aber, wie bei einigen anderen Werken ebenfalls, vernachlässigt wurde, ist, dass den Leser:innen die Möglichkeit geboten wird, die sprachliche Kultur verständlich zu machen. Auch in "Das Echo der Sommer" wird in der samischen Sprache gesprochen, doch leider wird es verabsäumt, wesentliche Ausdrücke in einem Glossar dem nichtwissenden Leser:innenpublikum näherzubringen. Zwar hat mich das wesentlich weniger gestört, wie in anderen Romanen, die das Schicksal der Sami thematisieren, weil die Bedeutung oft in Nachfolgesätzen gekonnt weiterverfolgt wurden. Trotzdem wäre es dem interessierten Lesepublikum durchaus zuzumuten, durch Fußnoten oder einem Glossar immer wieder auftauchende Begriffe wie "Giisá" oder "Eanni" zu erklären, einfach auch um mehr Verständnis den Protagonistinnen gegenüber zu erzeugen. Diese Auslassung im Sinne der Leser:innen begründe ich auch meine Entscheidung, eine Stern für dieses ansonsten wunderbar authentische Bild der Sami in Romanform abzuziehen.

Bewertung vom 19.05.2025
Dream Count
Adichie, Chimamanda Ngozi

Dream Count


sehr gut

Chimamanda Ngozi Adichie ist eine unglaublich talentierte Beobachterin und erzählt die Geschichten ihrer Figuren eindringlich und intensiv. In "Dream Count" verfolgen wir Teile der Lebensgeschichten von Chiamaka, Zikora, Omelogor und Kadiatou, die entweder durch Verwandtschaft und durch das Schicksal miteinander verbandelt sind. Die einleitende Geschichte, die in der Ich-Form erzählt wird, ist über Chiamaka, genauso wie das abschließende Kapitel. Die anderen Frauen lernen wir etwas distanzierter in den anderen Kapiteln genauer kennen.

Die vier sind alle Afrikanerinnen, die auf die ein oder andere Art in den USA gelandet sind, wobei Chiamaka, Zikora und Omelogor aus einem sehr wohlhabenden Haus in Nigeria stammen, Kadiatou hingegen hat eine Flucht aus Guinea in die USA hinter sich. Ihrer aller Schicksal ist stark geprägt von ihren Erfahrungen mit Männern und den hochtrabenden Erwartungen ihrer Verwandtschaft, das oberste Ziel scheint eine Heirat und das Kinderkriegen zu sein. Doch bei alle den Frauen laufen die Leben entgegen der in sie gesetzten Erwartungen, ihr Umgang damit ist unterschiedlich: Von einer Wurschtigkeit, über Naivität bis hin zum Selbstunterdrucksetzen ist alles dabei. Manchmal tut es weh, wie einzelne Charaktere - vor allem Chiamaka - ihr Glück von Männern abhängig machen. Sie ist ohnehin die schwer auszuhaltendste Figur, für mich zumindest. Sie definiert sich förmlich über ihre Partner, macht oft das, was eben diese wollen. Sie fantasiert der Reiseschriftstellerei nach, fliegt in unzählige Länder, um anschließend erfolglos ihr Geschriebenes an die Presse zu bringen. Das ist aber kein Problem, denn finanziert wird das alle ohnehin von ihrer Familie, die nur selten den Unmut entgegen der verschwenderischen Ekstase äußern.

Die dargebotenen Beobachtungen der Autorin über ihren Figuren sind detailliert und sehr intensiv. Alle Handlungen sind nachvollziehbar, der Lesefluss gerät aber aufgrund der Dichte des Textes oft ins Stocken. Ich habe das Buch wirklich sehr gern gelesen, allerdings hinterlässt es mich etwas ratlos. Meistens erwarte ich mir beim Lesen ja irgendeine Moral der Geschichte, diese konnte ich hier aber leider nicht wirklich erkennen. Die Sprache der Autorin hat mich in den Bann gezogen, zweifelsohne, sie schafft grandiose Sätze wie "Doch in stillen Momenten, wenn ich alleine war, hatte ich Angst, dass das, was sich wie Zufriedenheit anfühlte, eigentlich Resignation war." (S. 108), hat mich mitgerissen - vor allem die Geschichte um Kadiatou ist unfassbar bewegend. Aber da ist auch immer wieder das Gefühl der Langeweile und der Ratlosigkeit, weil ich einfach keine Antwort auf das "Warum" (wurde dieser Roman so erzählt, wie er erzählt wurde) finde. Auch nicht nach dem Ende, nach dem Nachwort, in dem die Autorin ihre Beweggründe und Hintergründe darlegt. Ich persönlich habe nicht erkannt, dass es in "Dream Count" vorwiegend um Mutter-Tochter-Beziehungen gehen soll, wie es uns die Autorin wissen lässt. Ehrlich: mir hätte es genügt, wenn Kadiatous Geschichte, vielleicht sogar noch etwas detaillierter, erzählt worden wäre. Nichtsdestotrotz habe ich das Buch, bei allen Längen und Unverständlichkeiten sehr gerne gelesen, weil es trotz eines schlüssigen Plots doch schöne Erzählkunst ist. Und ich habe viel neue Einblicke in verschiedene afrikanische Kulturen bekommen, die der mir gewohnten doch gar nicht so unähnlich sind, nein, die Parallelen sind erstaunlich. Dass ich für "Dream Count" eine Leseempfehlung ausspreche, ist für mich genauso einleuchtend wie mysteriös. Ein Hin und Her, das im Gedächtnis bleibt.

Bewertung vom 09.05.2025
Für Polina
Würger, Takis

Für Polina


ausgezeichnet

Hannes wächst in einem besonderen Umfeld auf: gemeinsam mit seiner alleinerziehenden Mutter zieht er zu dem schrulligen, älteren Heinrich, der in einer Villa im Moor lebt. Der Junge, der schon immer schweigend vor sich hin gelebt hat, entdeckt dort seine Liebe zur Musik. Er beginnt Klavier zu spielen und bald schon komponiert er besondere Stücke: er erfasst durch seine spezielle Sensitivität das Wesen von Menschen in seiner Musik. Für seine einzige Freundin, für die er bald romantische Gefühle entwickelt - Polina - erschafft er die schönste Sonate. Doch nach einem Schicksalsschlag, der die ungewöhnliche Wohngemeinschaft zerschlägt, endet sein Klavierspiel abrupt. Erst nach vielen Jahren findet er seine Leidenschaft wieder - und geht dabei viral.

"Für Polina" ist ein fast unbeschreiblich gutes Buch. Ich bin bei Hypes immer etwas skeptisch, aber selten hat mich eine solche Zurückhaltung so berührt. Die Geschichte plätschert vor sich hin und erst im Laufe der Zeit kommt die Erkenntnis, dass es sich hierbei um ein leises und wunderschönes, modernes Märchen handelt. Takis Würger zeichnet seine Figuren mit immenser Leidenschaft, sie sind alle besonders, etwas aus der Bahn geraten, aber so, dass man sie nur lieben kann. Speziell wenn er "normale" Menschen auftreten lässt, erkennt man die Außergewöhnlichkeit der Charaktere, an die man sich so schnell gewöhnt hat, dass man erst im Vergleich wieder darauf aufmerksam wird. Die Figuren haben mich emotional intensiv berührt, nicht immer nur im positiven, nein, ab und an nerven sie und man möchte sie packen und durchschütteln. Im Nachklang empfinde ich "Für Polina" wie "Die fabelhafte Welt der Amelie" in Buchform. Die Liebe zum Detail und zur Entschleunigung sind so fabelhaft konstruiert, dass Würger eine eigene Welt schafft, die parallel zu existieren scheint.

Zwischendurch, wie Hannes ins Erwachsenenalter kommt, hat das Buch seine Längen, die mich es für ein paar Tage zur Seite legen ließen. Nach kurzem Stottern wird die Geschichte aber wieder flüssig und zieht einen erneut in seinen Bann. Diese Mischung aus Schrulligkeit, Ehrlichkeit und aneinander-Vorbeireden, aber auch die tiefe Sehnsucht nach anderen Menschen, die feinen Nuancen von Beziehungen, die Takis schildert, die Leidenschaft und Zielstrebigkeit der Charaktere sind tief berührend, absolut fesselnd und einfach wunderschön. Und die Erkenntnis: ohne Literatur wie dieser, wäre das Leben nicht zu bewältigen!

Bewertung vom 06.05.2025
Wie du mich ansiehst
Lohmann, Eva

Wie du mich ansiehst


ausgezeichnet

Johanna ist Mitte vierzig und es trifft sie, dass sie nicht mehr gesehen wird. Grundsätzlich ist sie glücklich mit ihrem Leben - ihr Blumenladen floriert, seit sie die exzentrische und kreative Ruby eingestellt hat, ihre Ehe mit Hendrik läuft gut, ihre Tochter pubertiert altersgemäß. Nur der Tod ihres Vaters, der ihr einen kleinen Garten hinterlassen hat, macht ihr zu schaffen. Und: die tiefe Sorgenfalte auf ihrer Stirn. Als sie sich diese wegmachen lässt und es keiner bemerkt, gerät ihre Gedankenwelt ins Wanken...

Was für ein schöner Roman Eva Lohmann hier gelungen ist! Er ist ruhig und aufwühlend zu gleich, er regt enorm zur Selbstreflexion an, besonders, wenn man in einem ähnlichen Alter wie die Protagonistin ist. Durch die Hauptfigur, die sich auf die Selbstreflexion einlässt, erhalten auch die anderen Charaktere ihre Haltung, ihren Zeitgeist. Die Geschichte selbst ist alltäglich, sie behandelt unterschiedliche Beziehungen, beleuchtet wie das Miteinander funktioniert und wie auch das Getrennt-sein etwas heilbares hat. Die Emotionen Johannas sind so nachvollziehbar, ohne je ins kitschige zu geraden. Die Autorin schreibt mit Liebe zum Detail und schafft es, wunderbare Bilder in den Kopf zu zaubern.

"Wie du mich ansiehst" ist ein wunderbares, reflektiertes Buch über das Älterwerden, über das Tochter- und das Mutter-Sein, über Makel im Äußeren, im Inneren und in Beziehungen, über die Herausforderungen des Miteinanders. Vor allem aber geht es um das Sehen und Gesehen-werden und hinterlässt ein irrsinnig wohliges Gefühl im Brustkorb, weshalb ich ein Lesen dieses Kleinods nur jedem ans Herz legen kann.

Bewertung vom 06.05.2025
Das Lieben danach
Bracht, Helene

Das Lieben danach


sehr gut

In "Das Lieben danach" nimmt uns die Autorin Helene Bracht (Pseudonym) mit in die Aufarbeitung ihrer eigenen Missbrauchserfahrungen. Im Alter von fünf bis acht Jahren wurde sie von einem Nachhilfelehrer sexuell missbraucht. Eindringlich beschreibt sie den Widerspruch zwischen enormen Schmerzen und dem Gefühl endlich geliebt und gesehen zu werden, etwas besonderes zu sein.

Dass eine solche traumatische Erfahrung nicht spurlos an ihr vorübergeht und sie ihr weiteres Leben auf die ein oder andere Weise begleitet, ist klar. Bracht reflektiert viel und eingehend, über den Missbrauch, ihren Umgang damit, aber auch über die Rolle ihrer Eltern. Und sie bleibt nicht dabei stehen, nimmt ihr weiteres Leben in den Blick. Beispielsweise berichtet sie über eine Beziehung mit einem Heiratsschwindler und wie sie auf ihn hereinfallen konnte, beleuchtet eine beinahe Vergewaltigung, die sie mit Worten abwenden konnte und schließlich erkennt sie auch, dass sie selbst Täterin war.

Ihre Lebensreflexion ist beeindruckend, ehrlich, hart und direkt. Oft blieb mir der Atem weg, oft war ich fasziniert von der Widersprüchlichkeit. Besonders zu denken gab mir, wie Bracht eine Begegnung mit einer Frau schildert, der sie in der Vergangenheit Gewalt angetan hatte, sie sich selbst aber an diese kaum mehr erinnern konnte. Wie oft es einem selbst wohl so ergeht, dass man einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, es selbst aber aus eigener Bedeutungslosigkeit - oder als Schrecken vor einem selbst - verdrängt?

Helene Bracht, die selbst als Psychotherapeutin arbeitet, ist mit "Das Lieben danach" eine tiefgründige Reflexion über ihre Missbrauchserfahrungen gelungen, die sich zwischen Essay, Sachbuch und philosophischer Abhandlung bewegt. Obwohl es zwischendurch seine Längen hat, ist es ein lesenswertes Buch für alle, die an der Thematik interessiert sind und sich von der Direktheit der Sprache nicht abschrecken lassen.

Bewertung vom 26.04.2025
Die Frau und der Fjord
Strohmeyer, Anette

Die Frau und der Fjord


gut

Gro ist gefangen in ihrer Trauer - nachdem ihr Mann Nicklas unerwartet verstarb, weiß sie nichts mehr mit ihrem Leben anzufangen. Sie gibt ihre Arbeit als Geologin bei einem großen Erdölkonzern auf und kauft sich ein Haus an einem einsamen Fjord in den Lofoten. In der Einsamkeit sucht sie nach Heilung. Nach und nach erkennt sie, dass die völlige Isolation unmöglich ist. Als eines Tages ehemalige Kollegen auftauchen, um in ihrem Fjord nach Öl zu suchen, werden neue Kampfesgeister in ihr geweckt.

"Die Frau und der Fjord" ist ein ruhiger, nachdenklicher Roman. Intensiv erleben wir das Innenleben der Protagonistin Gro, das zerrissen ist vor Trauer und Selbstmitleid. Die Sprache der Autorin Anette Strohmeyer ist einnehmend und kurzweilig, die umfangreichen Beschreibungen von Flora und Faune ermöglichen ein tiefes Eintauchen in die lofotische Landschaft. Die kurzen Kapitel ermöglichen ein rasches Vorankommen.

Nichtsdestotrotz ist der Roman nur oberflächlich tiefgründig. Gros Welt dreht sich nur um sich selbst und sie zerfließt in ihrem Selbstmitleid um das Schicksal ihres verstorbenen Mannes. Immer wieder wiederholen sich die selben Gedanken und die Selbstsüchtigkeit der Protagonistin nervt zusehends. Kategorisch stößt sie andere Menschen fort, will eigentlich gar nicht aus ihrem Selbstmitleid heraus. Aber erst durch den Kontakt mit anderen Menschen gelingt es ihr, ihre Situation zu reflektieren, auch wenn dies schier ewig dauert. Die Erkenntnis, dass es ohne andere Menschen nicht geht, ein glückliches Leben zu führen, dauert, kommt aber schließlich doch noch an.

Die Trauergeschichte basiert auf persönlichen Erlebnissen der Autorin. Deshalb ist dieses selbstgebaute, innere Gefängnis, das sich die Protagonistin Gro baut, auch authentisch und nachvollziehbar. Leider empfinde ich Gro und auch die anderen Charaktere als etwas einseitig - entweder gut oder böse. Schattierungen dazwischen blinken zwar kurz auf, werden aber nicht eingehender beleuchtet. "Die Frau und der Fjord" war ein netter Roman zum Zwischendurchlesen, der vor allem wegen seiner landschaftlichen Atmosphäre einnehmend ist, jedoch keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen wird.

Bewertung vom 21.04.2025
Im Wind der Freiheit (eBook, ePUB)
Kinkel, Tanja

Im Wind der Freiheit (eBook, ePUB)


weniger gut

In Tanja Kinkels neuem Historienroman "Im Wind der Freiheit" begleiten wir die beiden Frauen Susanne und Louise in ihrem Kampf um die Demokratie. Die Welt aus der sie stammen, könnte nicht unterschiedlicher sein: während Louise eine erfolgreiche Schriftstellerin aus gutem Hause ist, ist Susanne Arbeiterin in einer Fabrik. Als sie bei einem Versuch Gerechtigkeit für eine Freundin zu erlangen ihre Arbeit verliert, ist sie gezwungen als Sexarbeiterin zu arbeiten. Von Anfang an ist ihr Schicksal miteinander verwoben und in den heißen Kämpfen im Jahr 1848 kommen sie ohne einander nicht aus, auch wenn ihre Beweggründe im Kampf nicht die gleichen sind...

Die Autorin verknüpft gekonnt tatsächlich existierende Frauen aus der Geschichte (wie Louise Otto) mit jenen, die aufgrund ihrer "geringen" Stellung nicht in die Geschichtsbücher eingegangen sind. Sehr detailliert lässt sie uns die historischen Geschehnisse von 1848 anhand ihrer Figuren miterleben, die in den deutschen Fürstentümern und in Österreich für eine Republik und ein allgemeines, wenn auch nur für Männer geltendes Wahlrecht kämpfen. Dass auch Frauen ein wichtiger Teil dieses Befreiungskampfes waren, gelingt der Autorin anschaulich aufzuzeigen.

Grundsätzlich ist die Sprache, in der der Roman verfasst wurde, einfach und kurzweilig zu lesen. Allerdings haben die einzelnen historischen Abhandlungen definitiv ihre Längen, was es nicht einfach macht, dem Roman in allen Teilen zu folgen. Zudem ist die Anzahl der unterschiedlichen Charaktere hoch, leider wurde verabsäumt eine Figurenliste anzufügen, an der man sich orientieren hätte können. So wird auch mit keinem Wort erwähnt, welche Charaktere auf wahren, welche auf fiktiven Begebenheiten beruhen. Lediglich eine kurze Quellenliste am Ende lässt die historischen Persönlichkeiten vermuten. Dieses vollkommene Fehlen von Aufklärungsarbeit - nicht einmal anhand eines Nachworts - überlässt es den Lesenden selbst, Fakten zu recherchieren. Das ist für meine Ansprüche an einen Historienroman sehr schwach.

Früher habe ich ganz viele historische Romane gelesen, in den letzten Jahren ist mir die Vorliebe dafür allerdings abhanden gekommen. Grund dafür ist, dass die Romane oft ähnlich aufgebaut sind: im Zentrum steht meistens eine Liebesgeschichte, die Protagonist:innen wollen allesamt einen gesellschaftlichen Fortschritt und haben oft Vorstellungen davon, die so von der Gegenwart geprägt sind, dass mir diese unglaubwürdig erscheinen. Trotzdem schafft es die Figur irgendwie, nach ihren Vorstellungen leben zu können, auch wenn das in der jeweiligen Zeit ziemlich unvorstellbar war. Als ich die Leseprobe zu diesem Buch gelesen habe, dachte ich mir, dass "Im Wind der Freiheit" einen anderen Weg gehen könnte. Leider war dem nicht so und oft ertappte ich mich dabei, gewisse Gedankengänge oder Taten der handelnden Personen als unglaubwürdig zu empfinden. Zudem waren die Liebensgeschichten viel zu vorhersehbar und hätten - für meinen Geschmack - bei den fiktiven Charakteren auch nicht unbedingt sein müssen. Hatte ich mir erhofft, dass vor allem die Frauenfiguren, die sich nach Anerkennung sehnen, Tiefe erhalten, wurde ich dahingehend leider enttäuscht und ihr Wunsch nach Gleichberechtigung wurde nur oberflächlich verfolgt. Letztendlich empfand ich das Lesen als ermüdend.

Mein Fazit: "Im Wind der Freiheit" ist ein klassischer Historienroman, der viel Aufklärungsarbeit über die Freiheitskämpfe des Jahres 1848 liefert, der für meinen Geschmack aber zu klischeebeladen und vorhersehbar ist. Leider fehlt eine Information über historische Persönlichkeiten genauso wie eine Figurenübersicht. Wer etwas über das wichtige Jahr 1848 lernen will, ist hier gut aufgehoben, wenn einem viele Längen, die üblichen Liebensgeschichten und kaum überraschende Charaktere nicht stören.

Bewertung vom 08.04.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


gut

Westdeutschland, 1983: Daniels Eltern sind pleite. Der 14-Jährige hätte sich auf einen schönen Konfirmationsanzug und auf den Schüleraustausch in Frankreich gefreut, aber ob damit etwas wird, ist ungewiss. War das bisherige Leben der sechsköpfigen Familie bislang gutbürgerlich angenehm, kämpfen sie nun darum, nicht auch noch ihr Haus zu verlieren. Doch immer wieder verschließen die Eltern die Augen vor der Realität und Daniel ist gefangen zwischen seinen Träumen und der bitteren familiären Realität.

Christian Schünemann zeichnet in "Bis die Sonne scheint" ein liebevolles Portrait der 80er Jahre mit vielen Anleihen an die Popkultur und lässt seinen Protagonisten Daniel trotz der familiären Krise humorvoll und jugendlich auftreten. Abwechselnd verfolgen wir seine Geschichte: seine Freundschaft zu Zoe und seiner Bewunderung für den Austauschschüler Jean Pierre, aber auch wie er aus beobachtender Rolle den Abstieg seiner Familie wahrnimmt. In einem zweiten Erzählstrang werden die Hintergründe ihrer Familiengeschichte näher betrachtet: wie es den Großeltern im Nationalsozialismus ergangen ist und wie sich die Zeit danach gestaltete; wie Daniels Eltern Marlene und Siegfried aufwuchsen und wie sie sich schließlich kennenlernten, gemeinsam Eltern wurden und Wohlstand aufbauten.

Spannend ist, wie unterschiedlich die Sprache der beiden Erzählstränge ist. Daniels Episoden sind trotz der schwierigen Lage humorvoll erzählt, zudem sind am Anfang jedes Daniel-Kapitels französische Sätze samt Übersetzung, die das Folgende andeuten; wohingegen die historischen Familienrückblicke in einer äußerst nüchternen Betrachtungsweise geschildert werden. Nichtsdestotrotz nahmen mich die Blicke in die Vergangenheit mehr ein, als der gegenwärtige Erzählstrang um Daniel. Das mag auch daran liegen, dass ich bis zum Schluss kaum eine Verbindung mit dem 14-Jährigen herstellen konnte, war mir seine Zeichnung irgendwie zu oberflächlich und - irgendetwas fehlte mir. Auch die anderen Figuren waren für mich wenig greifbar, aber ihr Schicksal war trotz der Nüchternheit ergreifend.

Es ist nun eine Woche her, dass ich das Buch gelesen habe und ich musste erschrocken feststellen, dass ich mich kaum noch daran erinnern konnte - erst das Nachlesen im Buch und das Durchlesen einiger Rezensionen brachten die Erinnerungen zurück. So etwas passiert mir doch recht selten, ich lasse mir eigentlich immer Zeit, um das Gelesene nachwirken zu lassen. Nun kann ich mich aber auch daran erinnern, dass das Ende für mich viel zu offen war und ich mir einen Schluss gewünscht hätte, der einem die Möglichkeit gibt, dem Protagonisten noch eine hoffnungsvolle Zukunft anzudenken. Immerhin ist die Geschichte, wie uns der Autor im Nachwort wissen lässt, auf seiner persönlichen Biografie basierend. Trotzdem das Buch angenehm zu lesen war, wird es mir wie Daniels Eltern gehen: ich werde die Existenz dieser Geschichte (erneut) aus dem Gedächtnis verdrängen.

Bewertung vom 07.04.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


ausgezeichnet

Während Franz Escher auf den Elektriker wartet, der seine Steckdose mit Wackelkontakt reparieren soll, vertreibt er sich die Zeit mit einem Buch über den Mafioso Elio Russo. Dieser sitzt im Gefängnis und soll ins Zeugenschutzprogramm, da er zahlreiche seiner Mafiakollegen verraten hat. Während er auf sein neues Leben wartet, schmökert er in einem Buch über einen Begräbnisredner namens Franz Escher - uns so beginnt die Geschichte zweier Männer, die sich lesend kennenlernen.

Wolf Haas beweist mit "Wackelkontakt" aufs neue seine schriftstellerische Genialität. Als ich von der Story hörte, dachte ich mir: wie soll das funktionieren? Geht dieser Kreisel auf? Ja, er tut es, sowas von! Die Übergänge von dem einen Charakter auf den anderen funktionieren fließend, ohne dass man den Anschluss verliert. Bis zum Schluss weiß man nicht, ob die beiden Männer sich jemals treffen werden und wie alles zusammenhängt, die Spannung bleibt durchgehend hoch.

Haas' Sprache ist wie gewohnt pointiert und schwarzhumorig, seine Figuren haben allesamt einen liebevollen Hau, man muss sie einfach mögen, so schrullig sie auch sind. Zu keinem Zeitpunkt ist mir langweilig geworden, ich wollte einfach weiterlesen und weiterlesen, nicht mehr ausbrechen aus dieser Dauerschleife - stets mit einem Lächeln auf den Lippen. Dem ersten Anschein nach sind Haas' Wackelkontakt-Figuren gar nicht tiefgründig, aber das täuscht - mit seiner besonderen Beobachtungsgabe skizziert er schräge Charaktere, die so Nahe an der Realität liegen, dass man sich sicher ist, sie würden existieren. Und vielmehr sollte man auch gar nicht sagen. Sondern "Wackelkontakt" einfach lesen. Es ist ein absurder Genuss!

Bewertung vom 07.04.2025
Lyneham
Westerboer, Nils

Lyneham


ausgezeichnet

Nachdem die Erde dem Untergang geweiht ist, verläßt eine Gruppe Menschen ihren Heimatplaneten um eine neue Bleibe zu finden. Der auserwählte Mond Perm bietet keine optimalen Voraussetzungen, aber die Menschen wollen sich ihn zum Untertan machen. Henry Meadows verunglückt mit seinen Geschwistern und seinem Vater bei der Ankunft, aber mit Müh und Not gelingt es ihnen, die sicheren Biome zu erreichen. Doch wo ist nur ihre Mutter, die schon längst hier sein sollte? Es beginnt ein beschwerlicher Spießrutenlauf, um die Wahrheit über deren Verbleib herauszufinden - und auch die Frage, ob Perm tatsächlich zur neuen Heimat werden kann.

Nils Westerboer gelingt es in "Lyneham" auf großartige, reflektierte Art und Weise die menschliche Existenz und die steten ethischen Fragen um die Legimitation des Fortbestehens der Spezies mit allen erforderlichen Mitteln anhand einer spannenden und vielschichtigen SciFi-Geschichte zu diskutieren. Ist es gerechtfertigt, anderes Leben zu töten, damit wir weiterbestehen können? Dürfen wir die Lebensbedingungen so anpassen, dass wir unsere Bedürfnisse erfüllen können, koste es was es wolle?

Dem Autor gelingt es mit einer fast magischen Sprache eine spezielle Atmosphäre zu schaffen - er erweckt die fiktive Welt Perms zum Leben, beschreibt sie so liebevoll und detailliert, dass die Lesenden seine Welt im Kopf vor Augen sehen. Er schafft den Schritt aus dem eigenen Denken und kreiert Welten, die man sich als Erdenbürger:in nur schwer vorstellen kann. Die ganze Geschichte, die vielfältig beschriebenen Beziehungen sind komplex und werden stets neu- und weiterverhandelt. Im Fokus stehen Vertrauen und Wahrheit, Schein und Sein. Die Technologie ist der Menschen Untertan, aber kann ein Neuanfang auch die Abschaffung menschlicher Hierarchien bedeuten? Westerboer glaubt nicht daran, auch wenn seine Figuren lange daran festhalten. Er kennt das Wesen des Menschen, philosophiert auf eindringliche Art darüber, um zum Schluss zu kommen, dass wir wohl nie aus Fehlern lernen werden. Aber es gibt auch Hoffnung und diese heißt Empathie. Sie reicht für die eigene Spezies, aber wird sie auch für Fremde reichen?

Direkt und teilweise brachial wirken die nüchternen Betrachtungen der Charaktere, regen aber kontinuierlich zum Nachdenken und Reflektieren an: "Eine Gesellschaft, deren Mitglieder glauben, etwas zu haben, unterliegt einer fundamentalen Illusion, die ihr unweigerliches Scheitern nach sich ziehen muss." (S. 159) Das sitzt und berauscht ob seiner scharfen Beobachtungsgabe.

Neben all dem Philosophischen und Existenziellen reißt auch die Geschichte einen mit, getragen von der besonderen Atmosphäre Perms mit all seinen unsichtbaren Lebewesen. Die Geschichte erzählt sich aus Henrys Perspektive und jener seiner Mutter, die in unterschiedlichen Zeiten leben und doch stark verbunden sind. Die Existenz aller ist ein großes Rätsel, das am Ende in weiten Teilen aufgelöst wird.

Mein Fazit: Lyneham ist ein absolut lesenswerter SciFi-Roman, der die großen Fragen um die verändernden Eingriffe der Menschen stellt und neben einer großartigen Geschichte auch noch zum Philosophieren und Reflektieren einlädt. Ein großes Highlight, das nicht nur für SciFi-Leser:innen geeignet ist, sondern für alle, die unser Tun hinterfragen möchten.