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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Lena
Wohnort: 
Köln

Bewertungen

Insgesamt 145 Bewertungen
Bewertung vom 30.07.2025
Bittersüß
Williams, Hattie

Bittersüß


ausgezeichnet

Vor sieben Jahren ist Charlies Mutter an einem Schlaganfall verstorben bis heute leidet sie unter dem Verlust. Ihre Mutter war es auch, die ihr die Romane des Autors Richard Aveling nahegebracht hat.
Charlie ist inzwischen 23 Jahre alt und arbeitet als Presseassistentin in einem renommierten Londoner Verlag. Dort wird das neue Buch von Richard Aveling verlegt. Charlie lernt ihn persönlich kennen und geht eine Affäre mit dem verheirateten Mann ein. Er trifft sich mit ihr, wenn er Zeit hat, verspricht ihr nichts und verlangt im Gegenzug von ihr absolutes Stillschweigen - auch in ihrem eigenen Interesse.
Mit ihren beiden besten Freunden Ophelia und Eddy, die gleichzeitig Kollegen und Mitbewohner sind, kann sie nicht über ihre Gefühle sprechen. Doch je länger die Liebesgeschichte andauert, desto schwieriger wird die Verheimlichung und die Last der ungleichen, aber alles verzehrenden Beziehung.

Der Roman gleicht einer emotionalen Achterbahnfahrt. Charlie verliebt sich unsterblich in den über 30 Jahre älteren Schriftsteller, der für sie seit ihrer Jugend ein literarisches Idol ist. Gleichzeitig sind er und sein Werk eine Verbindung zu ihrer verstorbenen Mutter, die sie schmerzhaft vermisst. Der weltgewandte und charmante Bestsellerautor zieht sie magisch an und schon bald kann sich Charlie ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Aus Angst vor Ablehnung oder verlassen zu werden, tut sie alles, um ihm zu gefallen und ist auf Abruf für ihn bereit. Sie nimmt sogar in Kauf, dass ihre Freundschaft zu Ophelia und Eddy leidet, die die ungleiche Beziehung nicht gutheißen.

Die Auswirkungen der heimlichen Affäre auf ihr Leben sind massiv, was Charlie so gut es geht, ignoriert. Sie sehnt sich nach Liebe, ist in der Beziehung jedoch einsam. Ihre Freunde, bei denen sie erstmals nach dem Tod ihrer Mutter ein Zuhause und einen Familienersatz gefunden hatte, stößt sie vor den Kopf und manövriert sich selbst in die Isolation.

Charlie ist eine unsichere, verletzliche Frau, die keine hohe Meinung von sich hat. Es berührt und macht wütend, wie sie ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellt und sich dominieren lässt. Es ist völlig unklar, wo die Beziehung zu Richard hinführt, denn eine gemeinsame Zukunft scheint unmöglich. Ihre trübsinnigen Gedanken nehmen stetig zu und erfüllen mit Sorge. Keimt kurzfristig Hoffnung auf, dass sich Charlie aufgrund erneuter Verletzungen endlich von Richard lösen kann, schafft er es, ihre Verletzlichkeit auszunutzen und sie wieder fester an sich zu binden.

"Bittersüß" schildert empathisch und realistisch das Machtgefälle innerhalb einer Beziehung und die Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Es ist eine Coming-of-Age-Geschichte über die Suche nach einem Platz im Leben, in der Unsicherheit, mangelnder Selbstwert, Trauer und psychische Gesundheit einen wesentlichen Teil ausmachen, in der es jedoch durch die verlässliche Freundschaft auch hoffnungsvolle Momente gibt.

Bewertung vom 30.07.2025
Eine vorbildliche Tochter
Axat, Federico

Eine vorbildliche Tochter


ausgezeichnet

Die aus dem Fernsehen bekannte Investigativjournalistin Camila Jones hat sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und versucht sich gerade mit ihrem Vorruhestand anzufreunden, als der Lokaljournalist Tim Doherty sie bittet, sich einem in seinen Augen ungeklärten Kriminalfall zu widmen. Vor zehn Monaten soll sich die 14-jährige Schülerin Sophia von einer Brücke gestürzt haben. Die Polizei geht von einem Selbstmord aus, wohingegen ihre Eltern und Freunde sich einen Suizid der hochintelligenten Schülerin nicht vorstellen können.
Tim und Camila vermuten einen Zusammenhang ihres Verschwindens mit einem Video, das ihre Freundin Janice in einer beschämenden Situation zeigt und in der Schule viral gegangen ist. Der Junge, der das Video aufgenommen hat, wurde zwei Monate nach ihrem Verschwinden tot aufgefunden und Janices Bruder als Tatverdächtiger verhaftet.

Erst verschwindet die Tochter spurlos oder soll Suizid begangen haben und Monate später stürzt ihre Mutter vom Balkon und liegt im Koma. Für die beiden Journalisten kann dies kein Zufall sein und der Arbeitseifer der bekannten Fernsehjournalistin ist wieder geweckt.

Der Thriller handelt auf mehreren Zeitebenen, wobei der Fokus in der Gegenwart auf den Recherchen von Camila Jones liegt, die den Ermittlungen der Polizei nicht traut und die Wahrheit hinter den Ereignissen der letzten Monate in Hawkmoon herausfinden möchte.
Die Vergangenheit geht mehrere Monate zurück und erzählt, was sich vor Sophias Verschwinden in einer Clique von Jugendlichen ereignet hatte, ohne zu offenbaren, was tatsächlich ursächlich für Sophias Verschwinden ist und die Frage zu klären, ob sie noch am Leben ist. Es geht um die erste Liebe und die Dynamik, die sich unter den Freunden entwickelt.
Beide Erzählebenen ergänzen sich und geben mehr Details über eine Kette von Handlungen preis, die bis zu einem Mord geführt haben.
Ab der Hälfte des Romans wird die Geschichte um eine weitere Perspektive ergänzt, die neue Fragen aufwirft.

Als Leser(in) hat man gegenüber den Journalisten einen Wissensvorsprung, was die Spannung jedoch nicht mindert. Geht man anfangs noch von der Eskalation von Streitigkeiten unter Jugendlichen aus, wird das Ausmaß der Machenschaften in der Kleinstadt, wer die Strippen dort zieht und welche Verbrechen sich dort ereignen, erst allmählich offensichtlich.

Der Psychothriller ist originell aufgebaut und sorgt durch den Wechsel aus gegenwärtigen und vergangenen Ereignissen für zahlreiche Mini-Cliffhanger, die "Eine vorbildliche Tochter" zu einem Pageturner machen.
Die Journalisten stehen in eine Wespennest unvorstellbaren Ausmaßes. Camila lässt sich weder leichtfertig mit Aussagen abspeisen noch sich von den Strippenziehern im Ort einschüchtern.
Die Geschichte ist durch immer neue Enthüllungen wendungsreich und spannend, wobei es immer komplexer wird, am Ende alle Puzzleteile zusammenzufügen. Es geht um die Herstellung von Gerechtigkeit, wobei die Helden zumal unkonventionelle Wege gehen.

Bewertung vom 28.07.2025
Die Briefeschreiberin
Evans, Virginia

Die Briefeschreiberin


sehr gut

Sybil van Antwerp ist pensionierte Juristin, Mutter und Großmutter und lebt im Alter von 73 Jahren allein in Annapolis. Schon mit jungen Jahren hat sie eine Leidenschaft fürs Briefeschreiben entwickelt und geht ihrem Hobby trotz schwindenden Augenlichts unermüdlich nach. Sie schreibt nicht nur Freunden, Familienmitgliedern und Bekannten, sondern auch bekannten AutorInnen, Kundendienstmitarbeitern oder sonstigen Personen, von denen etwas erwartet oder das Bedürfnis hat, ihnen etwas mitzuteilen.
Sybil reflektiert dabei ihr Leben, gesteht Fehler ein und versucht sich zu versöhnen, ist auch im hohen Alter noch durchsetzungsstark und setzt sich vehement für ihre Anliegen und die der Menschen ein, die ihr wichtig sind.

Der Roman besteht einzig aus der Korrespondenz von Sybil, den Briefen und E-Mails, die sie innerhalb einer Dekade ab Juni 2012 schreibt und die sie in dieser Zeit erreichen. Auf diese Weise lernt man Sybil als kompetente Frau kennen, die sich beruflich in einer Männerdomäne durchsetzen musste, die privat einen schlimmen Schicksalsschlag hinnehmen musste und die Recherchen in Bezug auf ihre Wurzeln tätigt.
Sybil ist eine Mutter, die kein einfaches Verhältnis zu ihren erwachsenen Kindern hat und die durch einen anonymen Briefeschreiber erkennt, dass sie als rechte Hand eines Richters in einem Fall zu hartherzig agiert hat.

"Sie lebt in ihren Briefen". Es ist interessant zu sehen, dass man allein durch Briefe mit Freunden und Fremden einen umfangreichen Blick auf ein ganzes Leben erhält und dass die Hauptfigur auf diese Weise nahbar wird. Trotz der in der Regel nur kurzen Briefe von und an verschiedene Personen und der dadurch nicht linearen Erzählweise lässt sich die Geschichte flüssig lesen. Jeder Briefwechsel hat seinen eigenen Stil, jeder Absender erhält eine eigene Stimme und auch Sybil drückt sich jeweils passend herzlich und persönlich oder förmlich und distanziert aus.
Die Fülle an Briefen offenbart immer mehr Details aus Sybils Leben und charakterisiert sie als pedantische, starrköpfige, gerechtigkeitsliebende und empathische, großherzige Frau, die im Leben viel mitgemacht hat und nicht ohne Fehler ist.

Der Roman handelt von allen Facetten des Lebens, von Liebe und Freundschaft, von persönlichen Kämpfen und Kraftanstrengungen, von Glück und Niederlagen, Familiengeheimnissen und späten Geständnissen sowie auch von Krankheit und Tod.
Es ist mutig, einen Roman in der Form zu verfassen und auch - oder gerade weil - ich Sybil als sehr interessante, kluge und reizbare Persönlichkeit wahrgenommen habe, hätte mir ein Roman über ihr Leben als chronologische Erzählung oder fiktive Biografie noch besser gefallen.

Bewertung vom 28.07.2025
Man müsste versuchen, glücklich zu sein
Holbe, Julia

Man müsste versuchen, glücklich zu sein


weniger gut

Nachdem beide Elternteile kurz hintereinander verstorben sind, kehrt Flora ein Jahr später in ihr Elternhaus zurück, um es auszuräumen und zu verkaufen. Zeitgleich kommt ihre jüngere Schwester Millie dort an, die sie seit Jahren nicht gesehen hat und die sich auch nicht um die alternden Eltern gekümmert hatte.
Zuhause kommen Erinnerungen an die Eltern, die Großeltern und eine Kindheit auf, die wenig kindgerecht war.

Der Roman wird ausschließlich aus der Perspektive von Flora geschildert, die zeitgleich mit ihrer "blöden Schwester" Millie in ihrem Elternhaus in Luxemburg ankommt und dort entrümpeln möchte.
Die Erinnerungen Floras an ihre Kindheit sind sprunghaft und lassen keinen Zusammenhang erkennen. Willkürlich werden kindliche Erinnerungen episodenhaft aneinandergereiht, während sich in der gegenwärtigen Situation wenig ereignet. Es wird lamentiert, ohne sich auszutauschen, wobei es in den Betrachtungen auch zu Wiederholungen und Widersprüchen kommt.
Auf eine Aussprache der beiden Schwestern und eine Erklärung, was zu der Entzweiung geführt hat, wartet man vergeblich. Die Dialoge sind von Nebensächlichkeiten und kindischen Geschwisterzwistigkeiten geprägt und teilweise muss man sich zusammenreimen, wer von beiden gerade spricht.

Millie gibt häufig vor, sich nicht erinnern zu können, während Flora die Verantwortungslosigkeit der Eltern als belastend empfunden hat. Als Kinder hatten sie viele Freiheiten, aber dafür keinen Halt und Verlässlichkeit. Zudem war das Verhältnis der Eltern untereinander von Lügen und Geheimnissen geprägt.

Die Charaktere bleiben trotz der übersichtlichen Anzahl blass und kaum vorstellbar. Die Schwestern sind Mitte 50, wirken aber in ihrem Verhalten deutlich jünger, Sympathien wecken beide nicht. Noch schlimmer ist Floras Tochter Lucie mit ihren altklugen Ratschlägen und Plattitüden.

Von der "Reise zurück in eine verrückte Kindheit" hatte ich mir mehr versprochen. Witz und Melancholie habe ich in der Geschichte nicht gefunden. Durch die sprunghafte und lückenhafte Erzählweise ist die Geschichte über die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in einer Familie mit unkonventionellen, gleichgültigen Eltern wenig einnehmend und berührend. Es fehlt nicht nur der versprochene Witz, sondern auch jegliche Dramatik, Spannung und Sentimentalität. Die Charaktere bleiben unzugänglich, die Geschichte belanglos, langweilig und ohne roten Faden.

Bewertung vom 27.07.2025
Not Quite Dead Yet
Jackson, Holly

Not Quite Dead Yet


ausgezeichnet

Jet Mason wird an Halloween im Haus ihrer Eltern brutal überfallen und so schwer verletzt, dass ihr die Ärzte aufgrund eines entstehenden Aneurysmas nur noch eine Woche Lebenszeit geben. Eine winzige Überlebenschance liegt in einer gefährlichen Operation, die Jet jedoch ausschlägt. Sie möchte in ihrem Leben endlich etwas erreichen und ihren "Mörder" finden. Während die Polizei Jets Exfreund JJ als Hauptverdächtigen im Visier hat, beginnt Jet zusammen mit ihrem Freund aus Kindheitstagen Billy in ihrem Umfeld zu recherchieren und sieht sich schon bald mit zahlreichen Ungereimtheiten konfrontiert, die vor allem ihr nahe stehende Personen verdächtig erscheinen lassen.

Holly Jackson ist bisher aus dem Jugendbuchgenre bekannt und "Not quite dead yet" vermittelt anfangs das Gefühl, einen Jugendthriller zu lesen. Die Hauptfigur Jet wirkt deutlich jünger als ihre 27 Jahre, verhält sie sich doch wie ein trotziges Kind. Aber als Todgeweihte hat sie auch nichts mehr zu verlieren, weshalb ihr Verhalten nicht gänzlich unrealistisch erscheint. Angesichts der Tatsache, dass sie einen Schädelbruch erlitten hat, ist jedoch erstaunlich stark und widerstandsfähig.

Der Plot seinen eigenen Mörder zu finden, ist originell und der Thriller spannend geschildert. Nach Aufdeckung so mancher Lüge und Manipulation kann Jet nicht einmal mehr ihren eigenen Familienmitgliedern vertrauen und hat nur noch ihren Freund Billy, der ihr treu ergeben ist. Sie muss das Motiv ihres Angreifers herausfinden, um den oder die Täterin zu stellen. Hat Jet sich selbst Feinde gemacht und hängt der Angriff mit dem Bauunternehmen ihres Vaters zusammen, das sich durch den Aufkauf von Grundstücken unbeliebt gemacht hat?

Durch viele geschickt platzierte falsche Fährten, ist der Thriller unheimlich wendungsreich und rückt immer wieder andere Personen aus Jets Umfeld in den Fokus ihrer Recherchen. Dabei scheinen gerade aus ihrer Familie einige etwas zu verbergen und Schuld auf sich geladen haben. Das erklärt jedoch noch lange nicht den Angriff auf Jet.
Im Zuge der Tätersuche kommt es zu dramatischen und gefährlichen Szenen, die die Spannung hoch halten. Zudem werden im Laufe der Tages Jets Symptome schlimmer, was den Druck auf sie weiter erhöht und gleichzeitig schmerzhaft daran erinnert, dass ihre Tage gezählt sind.
Welche einzelnen Faktoren letztlich zum Tatentschluss geführt haben, ist am Ende komplex, die Zusammenhänge werden jedoch schlüssig dargelegt.

Bewertung vom 23.07.2025
Weil es nicht anders sein kann
Glen, Joanna

Weil es nicht anders sein kann


ausgezeichnet

Addie lebt zusammen mit ihrer Mutter auf der kleinen Insel Rokesby im Nordwesten Englands, wo sie ein Retreat für Frauen betreiben. Das Geschäftsmodell mit Yoga, Wellness und Meditation ist ein langgehegter Traum ihrer Mutter und Addie ordnet sich gefügig unter. Innerlich brodelt es in ihr und sie spürt, dass sie vom dort weg muss, um ihr eigenes Leben zu leben.
Sol trauert um seine verstorbene Mutter und wandelt auf ihren Spuren. Er möchte alle "dünnen Orte" besuchen, wo sich Himmel und Erde berühren, wie sie es ihm beschrieben hat. Er beginnt seine Reise mit der Insel Ora, die über eine Brücke bei Ebbe mit Rokesby verbunden ist. Dort begegnet er Addie, die einen traurigen Eindruck auf ihn macht. Die beiden fühlen sich voneinander angezogen und nähern sich zaghaft und schüchtern an. Beiden fällt die soziale Interaktion mit anderen schwer, sie sind stark verunsichert und voller Selbstzweifel.
Als Sol Addie aufs Festland bringt, trennen sich ihre Weg aufgrund unglücklicher Umstände. Sie wissen nicht, wie sie einander wiederfinden können und gehen wieder getrennter Wege. Doch die Hoffnung auf ein Wiedersehen bleibt - weil es nicht anders sein kann.

Der Roman ist in einem schnellen Wechsel aus den Perspektiven von Add
ie und Sol geschrieben. Beide Charaktere sind fein gezeichnet und fallen durch ihre besondere Art auf. Sie haben eine bewegte Vergangenheit und schlechte Erfahrungen in ihren Elternhäusern gesammelt, mangele Anerkennung erhalten und stecken voller Ballast. Ihre schüchterne Art zieht sie gegenseitig an und so bauen sie ganz zaghaft eine Beziehung zu einander auf.

Die Geschichte entwickelt sich über mehr als zwei Jahre hinweg und ist in Bezug auf die Liebe von Sol und Addie von einer andauernden Distanz geprägt. Es ist schwierig ihre beiden Leben zu verbinden, nachdem beide Abnabelungsprozesse hinter sich haben und sich neu formieren mussten. Dazu kommt, dass Addie Angst vor weiteren Verlusten und damit Angst vor Bindung hat.

Der Roman ist stark charaktergesteuert und sehr empathisch und einfühlsam geschrieben. Die beiden Hauptfiguren wirken zunächst mit ihren Eigenarten und ihrer mangelnden Fähigkeit der sozialen Interaktion gehemmt und verschroben, gleichzeitig aber sehr authentisch. Es sind Außenseiter, die noch ihren Platz im Leben finden müssen. Die allmähliche Entwicklung zu mehr Mut und Selbstvertrauen ist nachvollziehbar geschildert.

Die Liebe zwischen den beiden ist spürbar, aber dennoch besteht eine andauernde Unsicherheit, ob Liebe allein ausreicht. Es ist fraglich, ob sie ihren "Papageientaucherpakt", der so viel Vertrauensvorschuss und Wartezeit erfordert, halten können oder ob sie einen andauernden gemeinsamen Weg finden werden. Es erfordert Mut, Risiken einzugehen und Verletzungen in Kauf zu nehmen.

Aufgrund der besonderen, sensiblen Charaktere ist "Weil es nicht anders sein kann" eine bezaubernde Geschichte über dysfunktionale Familien, die Prägung von Erziehung, über Geringschätzung und Verlust, aber auch über Liebe, Trost und Hoffnung, die metaphorisch und symbolträchtig geschrieben ist und auf ihre leise, zärtliche Art berührt.
Dem Roman können ganz viele kluge Sätze und Weisheiten über das Leben und Beziehungen entnommen werden, die zum Nachdenken anregen und erkenntnisreich sind.

Bewertung vom 19.07.2025
Wenn Schweigen tötet
Marrs, John

Wenn Schweigen tötet


ausgezeichnet

Nina führt mit ihrer Mutter Maggie ein zurückgezogenes Leben. Jeden zweiten Abend essen sie gemeinsam, wenn Nina kocht und sind zwanghaft um Konversation bemüht, ansonsten geht jede ihrer Wege. Bei Maggie ist der Bewegungsradius jedoch stark eingeschränkt. Sie lebt in der obersten Etage an eine Fußfessel gekettet und das einzige, das ihr bleibt, ist der Blick durch die Lamellen des gepanzerten Fensters.
Nina bestraft ihre Mutter für das, was sie ihr angetan hat, doch sie kennt nicht die ganze Wahrheit. Maggie schweigt hartnäckig, auch wenn die Gefangenschaft sie irgendwann töten wird.

"Wenn Schweigen tötet" ist ein klaustrophobischer Psychothriller, der von einer vergifteten Mutter-Tochter-Beziehung handelt. Nina versorgt ihre Mutter mit dem Nötigsten, während Nachbarn und Kollegen davon ausgehen, dass ihre Mutter dement in einem Pflegeheim ist. Nina geht jeden Tag zur Arbeit und genießt es, zu Hause die Oberhand zu haben und ihre Mutter mit kleinen Schikanen zu quälen. Die Wut auf sie ist jedoch nicht groß genug, sie loszulassen.
Maggie ist inzwischen seit zwei Jahren angekettet und hat dennoch nicht aufgegeben. Sobald sie eine Chance wittert, versucht sie sich zu befreien, auch wenn sie bisher immer gescheitert ist und dafür bestraft wurde. Als sie tatsächlich befürchtet, sterben zu müssen, nimmt sie einen neuen Anlauf, um auf sich aufmerksam zu machen.

Die gegenwärtige Handlung wird durch Rückblenden unterbrochen, die 25 Jahre zuvor beginnen, als Ninas Vater die Familie verlassen hat. Die Folgen des Verlusts, der die Teenagerin traumatisiert hat, erklären Ninas Grausamkeit und ihren Wunsch nach Rache, während gleichzeitig offenbar wird, wie weit Maggie in der Vergangenheit gegangen ist, um ihre Tochter vermeintlich und tatsächlich zu schützen.

Die Geschichte ist spannend und unfassbar wendungsreich. Täter und Opfer wechseln mehrfach und immer wenn man glaubt, den Hintergrund ihrer Motivation durchschaut zu haben, erfolgt eine neue Offenbarung, die alles in Frage stellt.
Es ist ein herrlich verrücktes Kammerspiel, bei dem sich immer mehr Abgründe auftun. Erzählt wird eine Geschichte, die jedoch aus jedem Blickwinkel anders aussieht. Was sich in der Gegenwart und der Vergangenheit in kurzen Kapiteln ereignet, ist extrem, aber für jede Handlung gibt es eine schlüssige Erklärung. Nur langsam setzen sich alle Puzzleteile zusammen, die zu einer Spirale aus stillen Vorwürfen Hass und Gewalt und geführt haben und das ganze Ausmaß einer falsch verstandenen Mutterliebe offenbaren.

Bewertung vom 18.07.2025
Das Geschenk des Meeres
Kelly, Julia R.

Das Geschenk des Meeres


ausgezeichnet

Im stürmischen Winter 1900 wird an der Küste des schottischen Fischerdorfes Skerry ein unbekannter Junge gefunden, der auf erschreckende Weise dem Sohn der Lehrerin Dorothy ähnelt, der vor zwei Jahrzehnten im Meer verschwunden ist und dessen Leichnam nie gefunden wurde. Als die Frau des Pfarrers ihr Baby zu früh zur Welt bringt, willigt Dorothy ein, nun das Findelkind bei sich aufzunehmen, bis seine Herkunft geklärt ist.
Mit der Anwesenheit des Jungen und dem Glauben an Sagen und Mythen verschwimmen allmählich Vergangenheit und Gegenwart. Dorothy gewöhnt sich an den stillen Jungen und läuft Gefahr, ihn als Ersatz für ihren verlorenen Sohn als Geschenk des Meeres zu empfinden.
Auch die Dorfgemeinschaft sieht sich wieder mit der Vergangenheit konfrontiert und beginnt erneut die Verbindung von Fischer Joseph mit Dorothy zu hinterfragen, der sowohl den unbekannten Jungen gefunden hat als auch mit dem Verschwinden von Dorothys Sohn in einen Zusammenhang gebracht wird.

Der Roman handelt auf zwei Zeitebenen und wird aus verschiedenen Perspektiven der Dorfbewohner geschildert. "Jetzt" beginnt mit dem Auffinden des gestrandeten Jungen und wie dieser bei Dorothy ein neues Zuhause findet. Während der Pfarrer mit der Wetterbesserung nach dem Schneetreiben die Suche nach den Eltern des Jungen vorantreibt, entwickelt Dorothy Muttergefühle für das Kind.
"Damals" blickt darauf zurück, wie Dorothy als junge Frau nach Skerry gekommen ist und Schwierigkeiten hatte, sich in der verschworenen Dorfgemeinschaft zu integrieren. Ihre Unsicherheit und Schüchternheit wurde als Arroganz interpretiert und sorgte für einen schweren Stand, besonders unter den Frauen. Ihre Gefühle für Joseph schürten die Eifersucht und führten zu Missverständnissen und einer Reihe falscher Entscheidungen.

Der Roman ist spannend aufgebaut, indem erst allmählich die Geheimnisse der Dorfgemeinschaft aufgedeckt werden. Sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit wirft Fragen auf - nicht nur in Bezug auf die beiden Jungen, sondern auch auf das Verhältnis der Bewohner untereinander.
Die Geschichte ist durchweg tragisch. Dorothy wird missverstanden und ihre Liebe zu Joseph macht sie zum Opfer einer Intrige. Der Verlust ihres Sohnes macht sie zu einer einsamen Frau. Dass ausgerechnet sie sich dem aufgefundenen Jungen annimmt, kann nur alte Wunden aufreißen.

"Das Geschenk des Meeres" ist atmosphärisch düster geschrieben. Es ist weitgehend Winter mit Kälte, Schnee und Sturm und im Hintergrund lauert die Gefahr und die Unberechenbarkeit der See. Frauen fürchten um ihre Ehemänner, die ihnen das Meer nehmen kann und verbringen ihre Zeit mit Klatsch und Tratsch und schüren Gerüchte. Dazu kommen Aberglaube und Mythen, die für Unsicherheit und Schuldgefühlen sorgen.

Es ist ein authentisches Porträt eines abgelegenen Küstenorts zur damaligen Zeit mit klar definierten Geschlechterrollen uns gesellschaftlichen Erwartungen. Die Geschichte handelt von der Einfachheit und Härte des Lebens, von gewalttätigen Männern, intriganten Frauen und verängstigten Kindern, von dysfunktionalen Familien und den Auswirkungen schlechter Erfahrungen. Es geht um Trauer, Verlust, Ausgrenzung und enttäuschte Hoffnungen. Angepasst an die Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts sind die Gefühle der Charaktere verhalten, was die Liebesgeschichte und die Geschichte über Mutterliebe nicht weniger bewegend machen und für anhaltende Spannung sorgen.

Bewertung vom 12.07.2025
Die Sterne leuchten nur für uns
Grimaldi, Virginie

Die Sterne leuchten nur für uns


sehr gut

Finanziell sah es bei Anna als alleinerziehender Mutter schon immer knapp aus und als ihr nun auch noch der Job als Kellnerin gekündigt wird, steht der Gerichtsvollzieher vor der Tür. Sorgen macht sie sich zudem um ihre Töchter. Während die jüngere Lily offenbar in der Schule gemobbt wird, pflegt die 17-jährige Chloé wechselnde Liebschaften und möchte kurz vor dem Abitur die Schule abbrechen.
Anna, die schon früher unter Panikattacken gelitten hat, braucht dringend eine Auszeit. Mit Hilfe einer Abfindung und des Wohnmobils ihres Vaters macht sie sich zusammen mit ihren Töchtern auf den Weg nach Skandinavien, um die Polarlichter zu sehen und sich als Familie durch die gemeinsame Zeit wieder näher zu kommen.

Der Roman wird abwechselnd aus den Perspektiven der drei weiblichen Hauptfiguren geschildert. Die beiden Töchter erhalten ihre Erzählstimme durch ihre Aufzeichnungen. Während Lily an ihr Tagebuch "Marcel" schreibt, schreibt die ältere Chloé einen Online-Blog. Auf diese Weise erhält man Einblick in alle drei Persönlichkeiten und kann ihre Probleme sowie die Verbindungen untereinander besser nachvollziehen.

Anna erhofft sich von der Reise mehr Zeit mit ihren Töchtern zu verbringen, die ihr wegen der Arbeit gefehlt hat. Sie möchte verstehen, was sie verpasst hat, ihr Vertrauen zurückgewinnen und ihnen bei der Bewältigung ihrer Probleme helfen. Selbst ist sie mit ihrer Situation überfordert, blendet ihre eigenen vorübergehend Schwierigkeiten aus und flieht vor ihnen. Chloé und Lily sind bald genervt von der Reise und würden am liebsten so schnell es geht nach Frankreich zurückkehren.

Die Geschichte bietet eine gelungene Mischung aus Reise mit neuen Eindrücken und Erlebnissen sowie einer emotionalen Reise, um wieder zu einer Einheit zu werden. Der Weg führt sie von Frankreich über Deutschland und die skandinavischen Länder bis zum Nordkap. Dabei gibt es viele magische Momente bei der Sichtung von Tieren, beim Eisbaden oder beim Beobachten der Mitternachtssonne, aber auch viel Streit. Das Zusammensein auf engstem Raum ist einerseits belastend, andererseits aber auch eine Chance.

"Die Sterne leuchten nur für uns" ist durch die verschiedenen Orte, die unterschiedlichen Sichtweisen und die Probleme der einzelnen schon aufgrund ihres Alters abwechslungsreich und unterhaltsam. Gerade Lily schreibt sehr ulkig in ihrem Tagebuch, während Chloés Online-Blog ohne Reaktionen von Nutzern weniger authentisch erscheint.

Der Roman entwickelt sich als Roadtrip einer Familie, die wieder zusammenfinden möchte, nicht weiter überraschend. Die finanziellen Fragen bleiben vor der Fahrt ungelöst und während der Fahrt kommen weitere Probleme auf, die Anna zu Hause erwarten könnten, mit denen sie nicht gerechnet hat. Gerade die Beziehung zum Vater der Kinder ist eine Komponente, die Fragen aufwirft und für Spannung sorgt.
Die ungeplante Reise ist auf den ersten Blick nicht die vernünftigste Entscheidung bei Schulden und Arbeitslosigkeit, aber ein kluger Entschluss für mehr Nähe, Verständnis und Zusammenhalt, die unbezahlbar sind.

Bewertung vom 10.07.2025
Himmelerdenblau
Hausmann, Romy

Himmelerdenblau


ausgezeichnet

Die 16-jährige Julie Novak verschwand am 7. September 2003 spurlos aus ihrem Elternhaus in Berlin-Grunewald. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums möchte ein True Crime-Podcast über den Cold Case berichten und zu diesem Zweck auch Julies Vater interviewen. Dieser war ein bekannter Herzchirurg an der Charité und ist inzwischen an Demenz erkrankt. Trotz seiner Erkrankung hat er Julie nie vergessen und die Hoffnung nicht aufgegeben, sie wieder zu sehen. Seine jüngere Tochter Sophia, die sich um ihn kümmert, möchte die alten Wunden nicht wieder aufreißen und ist gegen das Interview und eine erneute Medienberichterstattung.
Als mutmaßlicher Täter stand damals Julies Ex-Freund Daniel, der einige Jahre älter als seine Freundin war, im Fokus der Ermittlungsbehörden, bis davon ausgegangen wurde, dass Julie freiwillig gegangen ist. Auch Julies Vater hielt Daniel für verdächtig. Er arbeitet als Altenpfleger, hat den Makel eines möglichen Mörders oder Entführers jedoch nie ablegen können.
Liv und Phil, die für den Podcast verantwortlich sind, hoffen, dass sie mit ihrer Sendung dem Fall einen neuen Impuls geben und vielleicht sogar zur Aufklärung des Falles beitragen können. Bei ihren Recherchen stoßen sie auf Ungereimtheiten, als sie widerrechtlich das inzwischen unbewohnte Haus der Novaks betreten.

Der Roman wird aus verschiedenen Perspektiven der handelnden Personen geschildert, wobei nicht alle gleich zu durchschauen sind. Besonders prägnant ist die Sicht des Vaters Theo, der zumal den Bezug zur Realität verliert und Erinnerungen mit der Gegenwart vermischt. Seine Perspektive ist von Wortfindungsstörungen und Wiederholungen geprägte und ist ein gelungener Versuch, sich in die Denkweise eines an Demenz erkrankten Menschen hineinzuversetzen.

Liv, die selbst eine schwierige Kindheit hatte und Parallelen spürt, da während der Ermittlungen der Verdacht eines Missbrauchs oder Gewalt im Hause Novak aufkam, ist schon bald sehr tief in das Schicksal der Familie involviert. Ihr geht es nicht mehr nur um eine Steigerung von Hörerzahlen, sondern um Aufklärung, was mit Julie passiert ist. Dabei schließt sie bald nicht mehr aus, dass sie tatsächlich noch am Leben sein könnte.

Die Geschichte ist spannend und wendungsreich und greift passend zum True Crime-Podcast einzelne Elemente wahrer Verbrechen auf. Je mehr Details durch die Recherchen der Podcasterin ans Licht kommen, desto undurchsichtiger wird das Szenario um das Verschwinden der Teenagerin. Dafür sorgen auch die andauernden Perspektivwechsel und die Unberechenbarkeit der Charaktere. Deren Gefühle sind hingegen denkbar nachvollziehbar geschildert. Verzweiflung über ein ungewisses Schicksal, Wut über falsche Verdächtigungen und übergriffige Berichterstattungen, Hunger nach Erfolg und Bestätigung, Rachegelüste und der Wunsch nach Rehabilitation prägen die Handlungen der Charaktere.
Keinen von ihnen lässt die Vergangenheit los, was mitunter zu undurchdachten Aktionen führt.

Die Folgen von Ungewissheit und Ungerechtigkeit sowie wozu der Mensch fähig ist, um die eigene Haut zu retten, werden eindrücklich dargestellt. Jeder Charakter ist belastet, was für eine durchgängig düstere Stimmung sorgt. Ziel des Podcasts ist Gewissheit statt einem offenen Ende und das ist auch das, was die/ den LeserIn in Atem hält. Gerade für Theo, dessen klare Momente gezählt sind, hofft man, dass er Frieden finden kann.