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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 929 Bewertungen
Bewertung vom 18.06.2025
Machandel
Scheer, Regina

Machandel


weniger gut

DDR-Epos von zerplatzten Lebensträumen

Der erste und bisher einzige Roman der in Ostberlin geborenen und literarisch vielseitig tätigen Schriftstellerin Regina Scheer erschien 2014 unter dem Titel «Machandel». Er bezeichnet ein fiktives Dorf in Mecklenburg, das in weiten Teilen der Schauplatz des Geschehens ist, aber im Niederdeutschen auch ein Bezeichnung für den Wacholder. Die Autorin schildert in ihrer von den 1930iger Jahren über den Zweiten Weltkrieg, DDR und Wiedervereinigung bis in die Neuzeit reichenden Geschichte die Auswirkungen der verschiedenen politischen Epochen auf die Figuren ihres umfangreichen Romans. Im Anhang «Die wichtigsten Personen» stellt sie nicht weniger als dreizehn davon ausführlich vor, und auch die 25 Kapitel dieses Wenderomans sind mit dem Namen einer der fünf Protagonisten überschrieben, aus deren Perspektive jeweils abwechselnd erzählt wird. Beides erweist sich als außerordentlich nützlich für die Orientierung beim Lesen.

Es beginnt damit, dass die 24jährige Clara, wichtigste Protagonistin des Romans und unschwer als Alter Ego der Autorin erkennbar, im Sommer 1984 von Ostberlin aus mit ihrem Mann und Jan, ihrem vierzehn Jahre älteren Bruder, nach Machandel reist. Jan wurde im Schloss von Machandel geboren und verbrachte seine Kindheit dort bei der Großmutter. Es ist ihre erste Reise in das Dorf, wo ihre Eltern sich einst kennen gelernt haben und ihr Bruder dann ein Jahr später auch geboren wurde. Sie entdeckt bei diesem Besuch eine herunter gekommene Kate, die sie als Sommerhaus herrichten will. Clara arbeitet dann dort unter primitivsten Bedingungen an ihrer Dissertation über das Märchen vom Machandelbaum, das es in den verschiedensten Dialekten aus unterschiedlichen Kulturen gibt. Allmählich lernt sie auch andere Dorfbewohner kennen und erfährt von deren Schicksalen. So von Natalja, einer Ostarbeiterin aus Weißrussland, die sich nach dem Krieg nicht hat repatriieren hat lassen und in Machandel geblieben ist. Hans Langner, Claras Vater, war während der Nazizeit im Roten Frontkämpferbund engagiert, überlebte das KZ und kann später in hohe Ämter der DDR. Clara und vor allem ihr Bruder stehen dem Regime kritisch gegenüber, Jan wird als Dissident zu Gefängnis verurteilt und verlässt nach der Haft 1985 die DDR. Er hatte einen Ausreiseantrag gestellt, der wohl wegen seines prominenten Vaters dann auch positiv beschieden wurde. Aber auch Clara und ihr Mann engagieren sich in einer regimekritischen Friedensinitiative, und gute Freunde von ihnen werden als Mitglieder einer Oppositionsgruppe sogar inhaftiert und müssen die DDR 1988 verlassen, - jedes politische Engagement war gefährlich im Arbeiter- und Bauernstaat.

In diesem äußerst komplexen, detailverliebt erzählten DDR-Epos von den zerplatzten Lebensträumen werden die Schicksale der vielen Figuren eng miteinander verwoben. Durch die unterschiedlichen Perspektiven ist es allerdings schwer, die komplizierten Zusammenhänge immer richtig zu verstehen und zuzuordnen. So erwähnt Claras Vater denn auch mehrfach, dass er seiner Tochter «nicht alles» erzählt habe, ein deutlicher Hinweis der Autorin also auf die Leerstellen, die sie für Claras Verständnis der Geschehnisse ganz bewusst gelassen hat. Dieses überbordende Epos als Konglomerat aus fünf Erzählstimmen leidet ein wenig unter deren Gleichklang, es fehlen Spannung erzeugende, alternative Standpunkte und kontroverse Diskussionen. Die Romanfiguren lassen scheinbar klaglos alles über sich ergehen, zeigen sich ohnmächtig einem Generationen übergreifenden, schicksalhaften Geschehen gegenüber.

Nüchtern, präzise und detailreich wird in diesem Roman von einer mystischen Gegenwelt zum ‹real existierenden Sozialismus› erzählt, raffiniert gespiegelt am uralten Mythos «Von dem Machandelboom», der bekanntlich eine bessere Zukunft verheißt. Die ist hier allerdings auch nach dem Mauerfall nicht gegeben und droht ja trotz all der negativen Erfahrungen wieder in einen faschistischen Albtraum abzugleiten. Die Figuren erzeugen keine Emotionen und bleiben unnahbar, ihre Geschichten sind allzu ausufernd erzählt und werden schnell quälend langweilig!

Bewertung vom 14.06.2025
Als wir Schwäne waren
Karim Khani, Behzad

Als wir Schwäne waren


gut

Vom Überwintern in Deutschland

Nach dem Erfolg seines Debütromans hat der auf Deutsch schreibende iranische Schriftsteller Behzad Karim Khani jetzt unter dem kryptischen Titel «Als wir Schwäne waren» seinen zweiten Roman vorgelegt. Die in der Jetztzeit angesiedelte, autobiografisch inspirierte Coming of Age Geschichte hat als hochaktuelle Thematik die Probleme der Migration in Deutschland zum Gegenstand. Reizvoll daran ist die authentische Perspektive, aus der ein jugendlicher Ich-Erzähler das Thema mit scharfem Blick für Details sehr subjektiv angeht. Wobei das Besondere daran ist, dass seine Probleme als Nicht-Deutscher hier nicht beklagt und bejammert werden, sondern in unverhohlenen, gewaltbereiten Hass umschlagen.

In den 1990er Jahren ist seine Familie mit ihm aus dem Iran geflohen und im Ruhrgebiet gelandet. Sein Vater ist Schriftsteller, seine Mutter Soziologin. Sie wohnen in einer Sozialwohnung in einem herunter gekommenen Hochhaus eines typischen Problem-Viertels mit verdreckten, stinkenden Treppenhäusern und allgegenwärtigem Müll drum herum. Die Mitbewohner sind andere Migranten aus aller Herren Länder, denen scheinbar jedes Gespür abgeht für Sauberkeit und Ordnung. Als später auch noch zwei Großfamilien von Sinti und Roma einziehen, zusammen fast einhundert Personen, verschlimmert sich die prekäre Lage dramatisch. Diese mehr als schlimmen Verhältnisse, in denen die kleine iranische Familie dort leben muss, bessern sich auch mit der Zeit nur wenig, ihr Wohnsitz ist und bleibt eine asoziale Müllhalde.

Auf den Straßen drum herum herrschen Zustände, von denen sich seine gebildeten Eltern keine Vorstellung machen können. Beginnend in der Schule erlebt der Junge eine nicht abreißende Welle von Gewalt, unter der er besonders leidet als Kind von Migranten. Diebstahl, Erpressung, Schlägereien sind an der Tagesordnung, aus Frust werden Autos mutwillig beschädigt oder angezündet, dauerndes Schulschwänzen gilt als ein nicht der Rede wertes Kavaliersdelikt. So bleibt es nicht aus, dass der heranwachsende Junge schon früh von seinen fragwürdigen Kumpels zu Ladendiebstahl animiert wird, man ihm aber auch sein eigenes Fahrrad klaut und er mit Drogen in Berührung kommt, zuerst als Junkie, später auch als Dealer, wobei man ihn eines Tages prompt auch erwischt. Unter diesen Umständen schafft er nur gerade so sein Abitur, an Studium und berufliche Karriere ist nicht zu denken.

In dieser Erzählung über Migranten erfährt man tatsächlich viel mehr über die Einheimischen, welche voller Vorurteile die Migranten zu Außenseitern machen und mit ihrer Fremden-Feindlichkeit das verhängnisvolle soziale Klima ja erst selber herbeireden. Die deutlichen Hinweise des Autors auf diese sachlich gebotene Umkehr der Schuldzuweisung prägen den Plot des Romans thematisch ebenso wie die bisher in der deutschen Literatur kaum thematisierte Gewalt, die daraus erwächst. Der Nährboden dafür sind eben genau jene Verhältnisse, von denen Behzad Karim Khani in seinem Roman authentisch berichtet. Er erzählt schnörkellos in einer bildhaften Sprache vom grandiosen Scheitern einer - immer nach dem Motto: «Wir schaffen das» - politisch leichtfertig herbei geredeten, überbordenden Migration in Deutschland. Von Politik ist in diesem Roman allerdings nicht die Rede, hier geht es einzig um die Befindlichkeiten seiner Figuren, die nach Deutschland kamen, aber nie wirklich angekommen sind. Berichtet wird strikt aus deren eigener Perspektive, wobei es einzig um ihre seelische Verfasstheit und die irreparablen mentalen Schäden geht, die atmosphärisch bedingt daraus hervor gegangen sind, - und ja weiterhin ungebremst daraus hervor gehen. Stärkste Figur des Romans ist übrigens der Vater, dem der Kapitalismus völlig fremd ist und der seine Rolle darin nur als Verlierer findet. Die titelgebenden Schwäne sollen andeuten, dass es in dieser Spezies auch Zugvögel gibt, selbst wenn sie mancherorts überwintern, - und der Protagonist gehört eben eindeutig zur Zugvogel-Fraktion. Überwintern in Deutschland, das heißt bleiben, kommt für ihn partout nicht in Frage!

Bewertung vom 12.06.2025
Der große Bagarozy
Krausser, Helmut

Der große Bagarozy


sehr gut

Die Callas und Mephisto

Der Teufel in Menschengestalt ist spätestens seit Goethe eine beliebte Thematik, Helmut Krausser hat sich in seinem Roman «Der große Bagarozy» dem Fauststoff auf eine sehr originelle Art angenommen. In einem aberwitzigen Konstrukt lässt er ihn in seinem Plot sogar in die Gestalt eines Pudels schlüpfen, eine Reverenz an das grandiose literarische Vorbild. Mit leichter Hand betreibt der Autor ein mystisches Spiel um Themen wie Schuld und Lüge, Vernunft und Wahn. Im Mittelpunkt steht die Diva Assoluta der Opernwelt, Maria Calles, als unvergesslicher Sopran weibliches Pendant zum ebenfalls unvergessenen Tenor Enrico Caruso im Olymp der Sangeskünstler.

Die37jährigen Psychiaterin Dr. Cora Dulz, die über «obsessions-bedingte Detail-Überinterpretation» promoviert hat, steckt in einer Sinnkrise. Zwei ihrer Patienten haben erst kürzlich Suizid begangen, trotz aller ihrer Bemühungen, sie von ihrem Wahn zu befreien. Nun erscheint eines Tages Stanislaus Nagy in ihrer Praxis, den sie von seiner Obsession für Maria Callas befreien soll. Abgeklärt wie sie ist nach vielen Jahren als Psychotherapeutin, sind die Therapiesitzungen für sie nur «Talkshows», und die Patienten bezeichnet sie insgeheim nur noch als «Mängelexemplare». Der neue Patient nun stellt sich nach ein paar Sitzungen als der leibhaftige Teufel vor, der die ‹Göttliche› ein Leben lang begleitet, ihre Nähe und ihre Zuneigung gesucht habe. Er habe ihre Karriere gefördert wo er konnte, habe keinen ihrer Auftritte je versäumt, habe alle ihre Triumphe miterlebt, erzählt er. Nach ihrem tragischen, altersbedingten Niedergang von der Höhe ihrer Kunst habe er zerstörerisch mitgewirkt und sich regelrecht geweidet an ihren langen Qualen und dem frühen Tod. Ein Teufel eben, - der nun allerdings, mit der Hilfe von Dr. Cora Dulz, ein normaler, sterblicher Mensch werden will.

Nach einigen Sitzungen trifft sie ihren Patienten spätabends zufällig in einem Café. Sie folgt ihm spontan auf seinen Vorschlag hin, mit ihm in ein nachts menschenleeres Kaufhaus zu gehen, in dem er als Hausdetektiv arbeitet. Später besucht sie ihn in einer Aufführung, wo er als Zauberer unter dem Namen «Der große Bagarozy» auftritt. Sie begeht also den unverzeihlichen Kunstfehler, mit Patienten privat Kontakt aufzunehmen. Aber Nagy hat sie mit seiner überlegenen Art völlig in Bann gezogen, sie ist ihm inzwischen regelrecht verfallen, wie sie bestürzt feststellt. Sie wünscht sich, wie Dr. Faustus, den Teufel sogar leibhaftig herbei als Komplizen! Der attraktive Nagy übt auf sie auch einen erotischen Reiz aus, dem sie nicht widerstehen könnte, - wenn er denn nur wollte. Ihre kinderlos gebliebene Ehe ist nämlich langweilig geworden, sie ist tatsächlich eine «zu beiderseitigem Nachteil verheiratete Frau», wie es im Roman ironisch heißt. Gefangen in einem sinnentleerten, reizlosen Spießerleben, machen ihr die langen, kontemplativ ergiebigen Diskussionen mit Nagy inzwischen die erschreckende Trivialität ihres eigenen Lebens in voller Härte bewusst.

Bernd Eichinger verfilmte diesen originellen Stoff erfolgreich unter gleichem Titel. Der Roman ist einerseits eine Hommage an Maria Callas, deren Leben hier aber nur skizziert wird in Hinblick auf die Problematik des Ruhmes und eines einseitig der Kunst gewidmeten Lebens. Es ist eine überaus pfiffige Idee des Autors, dieses spektakuläre Künstlerleben mit dem berühmten Teufelspakt zu verbinden. Wobei Nagy als Teufel nie ein Wort mit seiner Muse gesprochen hat und Berührungen von ihr einzig dann genießen konnte, wenn sie ihn, als ihren schwarzen Pudel, gedankenverloren gestreichelt hat. Der angenehm lesbare Roman ist gleichzeitig eine harsche Kritik an der überwiegend geistig anspruchslosen, aber zu Gewalt und Krieg neigenden Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. Mit allerlei kurzen, journalistischen Einschüben über originelle Todesarten und etlichen Fotos aus dem Spielfilm angereichert, ist dieser Roman eine kurzweilige, amüsante und oft sogar recht nachdenklich machende Lektüre.

Bewertung vom 08.06.2025
Fegefeuer der Eitelkeiten
Wolfe, Tom

Fegefeuer der Eitelkeiten


ausgezeichnet

Am Ende gibt es fast nur Verlierer

Als typischer Vertreter des mit fiktiven Elementen angereicherten ‹New Realism› erzielte der erfolgreiche US-amerikanische Journalist Tom Wolfe mit seinem Debütroman «Fegefeuer der Eitelkeiten» auch in fiktionalen Gefilden einen Durchbruch als Romancier. Dieser Bestseller gilt als der bekannteste und wichtigste seiner vier Romane, er wird zudem neben «American Psycho» auch als exemplarischer New-York-Roman der 1980er Jahre angesehen. Sehr früh schon wurde er mit Tom Hanks und Bruce Willis in den Hauptrollen auch verfilmt. Der Plot ist während des Börsenbooms in der Regierungszeit von Präsident Ronald Reagan angesiedelt. Thematisiert wird die aus dem extremen Materialismus resultierende, moralische Verwahrlosung der US-amerikanischen Gesellschaft, für die gerade der Moloch des Big Apple einen idealtypischen Schauplatz darstellt. Der Romantitel spielt auf den berühmten Bußprediger Girolamo Savonarola an, der Jugendliche in Scharen durch Florenz ziehen lies, um alles zu beschlagnahmen, was im religiösen Sinne als eitel und unzüchtig galt, - und somit also auch als Beleg für die Verkommenheit des Menschen. All das gesammelte Teufelszeug, Bücher und Bilder vor allem, wurde in den Jahren 1497/98 als Zeichen der Reue auf riesigen Scheiterhaufen öffentlich verbrannt.

Der mit Prolog und Epilog in 31 Kapiteln erzählte, dickleibige Roman beginnt mit der detaillierten Schilderung einer total aus dem Ruder gelaufenen Veranstaltung des New Yorker Bürgermeisters. Der wichtigste Protagonist dieses Plots ist der neureiche, 38jährige Börsenmakler McCoy, der mit hysterischer Frau und verwöhnter Tochter in einer pompösen Wohnung an der Park Avenue wohnt. Er ist ein elitärer Vertreter des ‹White Anglo-Saxonian Protestant›, der sich mit seiner Geliebten aus den Südstaaten in einer angemieteten kleinen Wohnung als Liebesnest trifft. Gegenpart ist der in jeder Hinsicht frustrierte Staatsanwalt Kramer, dessen einst attraktive Frau ihn mit der Geburt eines Kindes für immer an die Familie gebunden hat. Und damit hat sie auch seine Bodybuilder-Ambitionen durchkreuzt und ihn, wie er glaubt, für fremde Frauen unattraktiv gemacht. Er hadert aber auch damit, dass er zu wenig verdient, und beneidet seine ehemaligen Studienkollegen, die längst in Anwaltskanzleien Karriere gemacht haben und nun geradezu im Geld schwimmen. Ein weiterer Protagonist ist der britische Journalist Fallow, der wenig erfolgreich bei einer New Yorker Boulevardzeitung arbeitet und sich durchschnorrt bei allerlei Veranstaltungen.

Eines Abends holt McCoy seine Geliebte vom Flughafen ab, verirrt sich dabei in der Bronx und wird dort in einer Auffahrt auf den Highway von zwei farbigen Jugendlichen gestoppt, die ihn ausrauben wollen. Als seine Geliebte, die sich bei seiner Rangelei mit den Ganoven ans Steuer gesetzt hat, in Panik losfährt, berührt der Mercedes einen der beiden, der dadurch umgestoßen wird. Sie begehen Fahrerflucht und melden den Unfall auch später nicht, da das nur zu Komplikationen führen würde. Die Frau von McCoy kommt ihm schließlich mit der Geliebten auf die Schliche, und ein Erfolg versprechender Wertpapier-Deal, mit dem er seine finanziellen Probleme zu beenden hofft, scheitert kläglich. Ein Reverend macht den Unfall mit Hilfe des Journalisten Fallow zu einer Sensation, eine Hexenjagd auf McCoy beginnt. Der Polizei ist es nämlich gelungen, ihn als Besitzer des Mercedes-Sportwagens und mutmaßlichen Fahrer zu identifizieren, und Staatsanwalt Kramer erhofft sich von dem spektakulären Prozess einen Karriereschub. Am Ende aber gibt es fast nur Verlierer!

Dieser spannende Roman ist in einem journalistisch knappen, nüchternen Stil geschrieben, wobei die vielen protokollartig anmutenden Dialoge und die Passagen mit erlebter Rede durch ihren satirischen Ton gekennzeichnet sind. Sehr gelungen sind auch die verschiedenen Jargons, in denen da geredet wird, der Slang von Polizei und Justiz wird geradezu parodiert, und auch das Fachchinesisch der Börsenmakler und die Idiome der schwarzen Ghettobewohner sind stimmig. Eine bereichernde Lektüre mithin, bei der es einem über mehr als neunhundert Seiten hinweg nie langweilig wird!

Bewertung vom 05.06.2025
Der heilige Skarabäus
Jerusalem, Else

Der heilige Skarabäus


gut

Unterhaltsam, aber geschwätzig

Im Jahre 1909 erschienen erstmals der Roman «Der heilige Skarabäus» der in Wien geborenen Else Jerusalem. Er löste bei seinem Erscheinen einen Skandal aus, war er doch mit seiner Prostituierten-Thematik nicht nur moralisch bedenklich für das damalige Lesepublikum, sondern mit seiner unverblümten Gesellschaftskritik auch ein Ärgernis für die ‹bessere Gesellschaft› Österreichs. Gleichwohl (oder gerade deshalb?) musste dieser als ihr Hauptwerk angesehene Milieu-Roman innerhalb von nur zwei Jahren 22 Mal neu aufgelegt werden, er wurde 1928 verfilmt, 1933 dann in Deutschland als unerwünschtes Schrifttum verboten und fiel anschließend den Bücher-Verbrennungen der Nazis zum Opfer. Der in der ägyptischen Mythologie als Glücksbringer geltende Skarabäus ist ein Mistkäfer, mit dem Buchtitel wird also symbolisch darauf hingewiesen, auf welchem Unrat das angestrebte Glück der Huren aufbaut. Die werden hier erstmals nicht mehr als Außenseiter der Gesellschaft dargestellt wie in dem drei Jahre vorher anonym erschienenen, pornografischen Roman «Josefine Mutzenbacher», sondern sie sind für die als Feministin geltende Autorin ein inhärenter Bestandteil der Gesellschaft.

Damit ist der Roman eine wegweisende und hellsichtige Sozialstudie der besonderen Art, der die bedauernswerten Frauen in den Fokus nimmt, die sich aus verschiedenen Gründen prostituieren. Sie also stehen im Vordergrund, werden als käufliche Ware wie Sklavinnen behandelt und suchen ihr Glück meist vergebens. Am Aufstieg und Fall eines Bordells werden hier die ökonomischen Vorbedingungen der käuflichen Liebe exemplarisch verdeutlicht. Auf Korruption der staatlichen Behörden aufbauend wird die Not und Unwissenheit junger Mädchen gewissenlos ausgenutzt für ein äußerst einträgliches Gewerbe, das für alle anderen Beteiligten viel Geld abwirft. Die Mädchen aber kommen meist vom Land und erhoffen sich naiv, viel Geld zu verdienen oder einen reichen Freier zu finden, der sie als Mätresse nimmt, oder besser ehelicht, und aus ihrer Misere erlöst. Aber das gelingt eben nur selten! Erzählt wird von dem einträglichen Mädchenhandel, der über die Landesgrenzen hinaus für «Frischfleisch» sorgt. Das landet dann bei Eignung, also körperlicher Attraktivität und entsprechendem geistigen Niveau, in den noblen Bordellen der Großstadt. In einem Edelbordell wie dem «Rothaus» in Wien müssen die Liebesdienerinnen aber auch regelmäßig ausgetauscht werden, damit die wohlhabenden, geradezu handverlesenen Freier mit stets neuen Attraktionen versorgt werden und nicht gelangweilt zur Konkurrenz abwandern.

Das sprichwörtlich älteste Gewerbe der Welt wird in diesem Gesellschaftsroman aus der Zeit der k.u.k. Monarchie einer hochnotpeinlichen Analyse unterzogen, die dazu beiträgt, die sozialen Missstände offenzulegen und der Gesellschaft die Leviten zu lesen. Angeklagt werden die schikanösen Reglementierungen und das hilflose Ausgeliefertsein der Mädchen an die willkürlich agierende Polizei. Im Mittelpunkt des Geschehens steht Milada, die als ungewünschtes Kind einer Prostituierten aufwächst und nichts anderes kennt als dieses Milieu. Ihr gelingt es aber, sich durch Bildung aus diesem Umfeld zu lösen. Als Erwachsene zieht sie in die Berge, gründet ein Kinderheim und wird zur Ersatzmutter für viele Kinder aus dem Milieu. Damit gleitet dieser Roman am Ende in eine Utopie hinein, die dem Wunschdenken der engagierten Frauenrechtlerin Else Jerusalem entspricht.

Die Figuren des Romans sind allesamt anschaulich beschrieben und als fiktionale Personen durchaus glaubwürdig. Erzählt wird das turbulente Geschehen in einer dem Milieu stimmig angepassten Diktion, die mit mundartlichen Begriffen angereichert ist, was manchen deutschen Leser doch etwas irritieren dürfte. Die erzählerischen Ausflüge in philosophische Themen sind wenig überzeugend, sie sind eher Geschwafel denn Lebensweisheit. Hauptmanko aber dürfte die schiere Länge dieses unterhaltsamen Romans sein, weniger wäre hier mehr gewesen!

Bewertung vom 03.06.2025
Salz und sein Preis
Highsmith, Patricia

Salz und sein Preis


sehr gut

Glanzstück der Suspense-Literatur

Mit «Salz und sein Preis» hat die US-amerikanische Schriftstellerin Patricia Highsmith unter Pseudonym 1952 einen lesbischen Liebesroman veröffentlicht, der durch eine persönliche Begegnung inspiriert worden ist, die sie als Verkäuferin in der Spielwarenabteilung eines New Yorker Kaufhauses hatte. Erst achtunddreißig Jahre später hat sie persönlich sich zu dem Roman bekannt und ihn in einer überarbeiteten Version und mit einem ausführlichen Nachwort versehen nun unter dem Titel «Carol» herausgebracht. Im prüden Amerika der McCarthy-Ära befürchtete sie mit Recht einen Entrüstungssturm in der Bevölkerung. Nach ihrem erfolgreichen, von Hitchcock verfilmten Romandebüt «Zwei Fremde im Zug» hatte ihre Kariere gerade erst begonnen, da hätte ein heftig umstrittener zweiter Roman ihr erheblich schaden können.

Erzählt wird die Geschichte der neunzehnjährigen Therese, einer angehenden Bühnenbildnerin, die in ihrem vorübergehenden Job als Aushilfs-Verkäuferin in der hektischen Vorweihnachtszeit eine attraktive Kundin im Nerzmantel bedient, deren Blick sie trifft wie ein Schlag. Sie kauft bei Therese einen Puppenkoffer, den sie sich an ihre Adresse schicken lässt. Spontan sendet Therese ihr einen Tag später an diese Adresse eine Firmen-Weihnachtskarte und gibt als Absender nur ihre Personalnummer an. Die Frau ruft sie zwei Tage später in der Abteilung an und schlägt ihr vor, sie in der Pause zum Lunch zu treffen. Sie kommen ins Gespräch und verstehen sich schon auf Anhieb. Da beide Weihnachten allein sein würden, lädt Carol Therese zu sich nach Hause ein. Es stellt sich heraus, dass Carol dreizehn Jahre älter ist als Therese, in Scheidung lebt und eine fünfjährige Tochter hat. Therese wohnt allein in einem kleinen Zimmer, ihr Vater ist tot, die Mutter, eine Konzertpianistin, hat wieder geheiratet, beide haben sich aber schon lange nicht mehr gesehen. Therese ist seit einiger Zeit mit dem gutmütigen Richard befreundet, der Maler werden will. Sie hatte mit ihm auch den ersten Sex, nachdem die zwei vorhergehenden Verehrer sie abrupt verlassen hatten, als sie nicht mit ihnen ins Bett wollte. Auch mit Richard ist sie nicht mehr intim, sie empfindet einfach nichts dabei, obwohl er sie unbedingt heiraten will und ihr versichert, das Problem zwischen ihnen würde sich mit der Zeit schon von allein erledigen. Carol und Therese verstehen sich bestens und werden gute Freundinnen.

Nach den Feiertagen beginnt Therese ihren ersten Job als Assistentin des Bühnenbildners an einem New Yorker Theater. Sie lernt auch Abby kennen, Carols beste Freundin, die mit ihr zusammen mal ein Möbelgeschäft betrieben hat. Die Beiden hatten damals auch ein kurzes Liebesverhältnis, und Abby ist nun scheinbar eifersüchtig, sie will alles von Therese wissen. Schließlich schlägt Carol Therese vor, mit ihr zusammen im Auto eine längere Reise in den Westen zu machen, sie will einfach mal Abstand von den Querelen um ihre Scheidung gewinnen. Nach zwei Wochen, in denen sie sich weiterhin sehr formell Siezen, gestehen sie sich endlich ihre Liebe und werden ein lesbisches Paar. Schließlich bemerken sie, dass sie verfolgt werden, und es stellt sich heraus, dass tatsächlich ein von Carols Mann beauftragter Privatdetektiv sie die ganze Zeit schon observiert. Es geht um das Sorgerecht für die kleine Tochter, das der Mann für sich allein beansprucht, indem er die unmoralische Lebensweise seiner Frau nachweist, die man dem Kind nicht zumute könne. Ohne Zögern fliegt Carol sofort nach New York zurück. Therese aber stellt entsetzt fest, dass Carol sich zwischen ihr und der Tochter wird entscheiden müssen und macht sich keine Illusionen, wie diese Entscheidung ausgehen wird.

Ein ungewöhnlicher Roman, der den Leser mit seiner psychologischen Tiefe in Bann zieht und durch seinen geschickt aufgebauten Spannungsbogen die einsame Klasse der Autorin als Suspense-Spezialistin unter Beweis stellt, immer nach dem Motto: Und erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

Bewertung vom 30.05.2025
Gilead
Robinson, Marilynne

Gilead


schlecht

Für Atheisten schwer erträglich

Als erster einer von Marilynne Robinson als Buchreihe geplanten Folge von Romanen erschien im Jahre 2004 «Gilead», ein auf das gleichnamige, biblische Land östlich des Jordans hinweisender Titel. Die deutsche Ausgabe in der aktuell vorliegenden, teilweise bemängelten Übersetzung wurde erst 2016 herausgegeben. Dieser in den USA ziemlich erfolgreiche Roman wurde mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und vom damaligen Präsidentschafts-Kandidaten Barak Obama überschwänglich gelobt. Allerdings schreibt die in Deutschland kaum bekannte US-amerikanische Schriftstellerin keine leichtverdaulichen Romane. In «Gilead» widmet sie sich vielmehr schwierigen Menschheits-Themen wie Geburt, Krankheit und Tod in einer von tiefer Religiosität geprägte Erzählung, die in weiten Teilen als Briefroman angelegt ist, aber auch als Tagebuch und Memoir.

Im Jahre 1956 schreibt der in Gilead, einer fiktiven, abgeschiedenen kleinen Stadt in Iowa, auf dem Sterbebett liegende, weiße Pastor John Ames einen langen Brief an seinen siebenjährigen Sohn, dem er darin alles erklären will, was das Leben betrifft. Eine fiktionale Autobiografie mithin, in der Hochwürden episodisch seine zu verschiedenen Anlässen entstandenen Aufzeichnungen aneinander reiht. Er will von seinen Einsichten und Lebenserfahrungen als 76Jähriger möglichst vieles an den Sohn weitergeben, bevor er wegen seiner Herzerkrankung dazu bald schon nicht mehr in der Lage sein wird. Seine Familie lebt bereits seit Generationen in Gilead, sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren schon kongregationalistische Pastoren dieser Gemeinde, eine seit jeher weitverbreitete Tradition im weiten Verbund ihrer Familie. Der Vater von John Ames war überzeugter Pazifist, der Großvater ein radikaler Gegner der Sklaverei in den USA, der gemeinsam mit Gleichgesinnten im amerikanischen Bürgerkrieg Guerilla-Aktionen durchgeführt hat und als Kaplan bei den Truppen der Union mitwirkte.

Beginnend mit der Suche nach dem Grab des Großvaters, der in den Kriegswirren den Tod gefunden hat, schildert der betagte Briefschreiber in einer weiteren Episode seine Kommunion, die er in einer vom Blitz getroffenen Kirche von seinem Vater empfing. Er schildert aber auch die Geschichte, wie er mit Lila, seiner wesentlich jüngeren, zweiten Frau, die aus einem bildungsfernen Milieu stammt, an einem Pfingstsonntag, in seiner Kirche zum ersten Mal zusammentraf. Die ungleichen Zwei fühlten sich magisch zueinander hingezogen, er tauft sie sogar, bis sie ihm schließlich, ganz unkonventionell, einem Heiratsantrag macht und dem 69Jährigen schon bald einen Sohn schenkt, - den kleinen John, den Ich-Erzähler dieses Romans. Auch der Apartheid ist eine Episode des Romans gewidmet, als sein Patensohn Jack, den er par partout nicht mag, schwer leidet unter der erzwungenen Trennung von seiner afroamerikanischen Frau. Er darf sie aufgrund der Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung nicht heiraten, und auch seine Familie lehnt sie ab. Dieser erlittene Verlust verbindet Jack ganz besonders mit Lila, der ein solcher Verlust mit dem drohenden Tod ihres Mannes ja bald schon bevorsteht.

Der Roman ist geprägt durch die vielen theologischen Sinnkrisen, die den Ich-Erzähler plagen. Zu denen gehören insbesondere die unbegreiflichen Taten seines Großvaters im Bürgerkrieg, die schwere Zeit nach dem Tod seiner ersten Frau, das Entsetzen über seinen definitiv vom Glauben abgefallenen Bruder und schließlich auch über den eigenen Vater, der scheinbar ebenfalls den Glauben verloren hat und seine Gemeinde verließ. All das wird von Zitaten aus der Bibel begleitet und theologisch kommentiert. Mit reichlich Pathos werden diese Begebenheiten von dem sympathisch anmutenden Protagonisten ziemlich gelassen vorgetragen, mit der offensichtlichen Botschaft zudem, darüber bloß nicht die kleinen Freuden des Lebens zu vergessen. Moralisch aufbauend zweifellos, ist «Gilead» als Lektüre allerdings weder bereichernd noch unterhaltend, - und für Atheisten einfach nur schwer erträglich!

Bewertung vom 28.05.2025
Rote Sonne
Holm, Johanne Lykke

Rote Sonne


sehr gut

In den Feuilletons völlig unbeachtet

Der neue Roman der schwedischen Schriftstellerin Johanne Lykke Holm mit dem Titel «Rote Sonne» ist eine Dystopie, die sich auf eine beklemmende Weise mit den Themen Kindsein, Erziehung und Verantwortung beschäftigt. Erzählt wird eine handlungsarme, mystische Geschichte, bei der drei elternlose, unbehauste Jungen im Blickpunk stehen, in deren Schicksal ein kinderloses Paar ungewollt hineingezogen wird. Zeit und Ort der Handlung bleiben im Dunkeln, werden bewusst verschleiert, und auch die Figuren des Romans bleiben rätselhaft, ihr Tun wird äußerlich in allen Details beschrieben, ihr Innerstes aber bleibt unerschlossen.

Kallas und India, ein junges unverheiratetes Paar, leben in einer kleinen Wohnung im siebten Stock eines Hochhauses in einer nicht benannten Stadt am Fluss. Sie sind ein überaus glückliches Paar, ihre Liebe ist grenzenlos. Desma, eine alte Freundin von Kallas, die er seit der Jugendzeit kennt, lädt ihn bei einem ihrer gelegentlichen Telefonate ein, sie und ihren Freund Lafayette für einige Zeit in ihrem großen Haus am Meer besuchen zu kommen. Spontan sagt er zu, er und India machen sich schon am folgenden Tag mit der Eisenbahn auf den Weg. Im Zug fallen ihnen drei kleine Jungens auf, die auf dem Gang herumtoben. Am Meer verbringen die beiden Paare dann einige schöne Tage miteinander und führen allabendlich lange Gespräche in weinseliger Runde. Dabei kommt heraus, dass Desma schon sehr früh schwanger geworden ist und man sie damals überrumpelt hat, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Lafayette gesteht, dass er als Jugendlicher einen anderen, der ihn öfter bedroht hatte, mit dem Messer erstochen hat, wofür er vier Jahre im Jugendgefängnis absitzen musste. Bei einem gemeinsamen Badeausflug fällt ein Mann in Strandnähe von seinem Boot und wäre beinahe ertrunken, wird aber durch den Bademeister gerettet. Vorsorglich fahren Kallas und Lafayette mit ihm ins Krankenhaus. Unter den neugierigen Zuschauern sind auch die drei Jungs vom Zug, die später plötzlich am Gartentor von Desma auftauchen und sich besorgt nach dem Mann erkundigen.

Es stellt sich heraus, dass die Drei im Alter von fünf, sieben und elf Jahren allein unterwegs sind, ohne Eltern. Desma lädt sie ins Haus ein, gibt ihnen zu essen und verfrachtet sie für die Nacht in ein Gästezimmer. Als nachts in der Nähe eine Fabrik in Brand gerät und das Feuer wegen der Trockenheit rasend schnell um sich greift, beschließen Kallas und India, vorsichtshalber die Kinder sofort mit dem Auto von Desma in ihre Wohnung in der Stadt zu bringen. Es vergehen einige Tage, bis das Paar dort endlich die Behörden über die Kinder informiert. Man sagt ihnen schließlich, sie sollten die Kinder vorerst bei sich behalten, bis nach Ende der Feuersbrunst eine Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen wird, - es vergeht fast ein Jahr darüber!

Über dem scheinbar normalen, nicht immer plausiblen Geschehen in diesem Roman liegt permanent ein mystischer Schleier der Ungewissheit. Die Autorin schildert Nebensächliches wie Spaziergänge oder Einkäufe mit auffallender Detail-Versessenheit. Sie erläutert immer wieder die besonderen Lichtverhältnisse, Wind und Wetter, Gerüche, Farben, Geräusche und Oberflächen von allen möglichen Dingen. Dabei überlässt sie das Wesentliche, die innere Verfasstheit ihrer Figuren, weitgehend der Phantasie des Lesers. Die zufälligen Pflegeeltern, erfährt man fast nebenbei erst ganz am Ende, waren sich beide schon immer einig, keine Kinder zu wollen. Sie lassen die unerwartete Situation mit der Verantwortung für die drei Jungs ungerührt über sich ergehen und leben wie in Trance weiter in dieser für sie völlig ungewohnten familiären Konstellation. Kinder zu lieben und zu versorgen ist plötzlich scheinbar das Normalste von der Welt für sie. Das planvolle Unterlaufen von Erwartungen des Lesers ist ein typisches stilistisches Merkmal dieses idealistischen Romans. Er ist in den Feuilletons erstaunlicher Weise völlig unbeachtet geblieben, wo sonst ja nahezu jeder Schundroman beflissentlich rezensiert wird.

Bewertung vom 24.05.2025
Don Quijote (Deutsche Ausgabe in 2 Bänden)
Cervantes Saavedra, Miguel de

Don Quijote (Deutsche Ausgabe in 2 Bänden)


ausgezeichnet

Das Buch für die Insel

«Don Quijote» von Miguel de Cervantes gilt als der erste moderne Roman, das 1605 und 1615 erschienene, zweiteilige Werk ist mit bisher über 500 Millionen Auflage aber auch der mit Abstand meistverkaufte Roman aller Zeiten. Er wurde zudem 2002 bei einer vom Nobelinstitut in Stockholm veranstalteten Umfrage unter hundert berühmten und anerkannten Schriftstellern aus der ganzen Welt als bester jemals geschriebener Roman gekürt. Mit seinem Kampf gegen die Windmühlen ist der Ritter von der traurigen Gestalt auch Urheber geworden für das vielzitierte Sprichwort über die vergeblichen Mühen des Bürgers im Umgang mit bräsigen Bürokraten.

Die «Vorrede» des Autors beginnt mit dem Satz: «Unbeschwerter Leser, auch ohne Eid darfst du mir glauben, wie sehr ich mir wünschte, dies Buch, dies Kind meines Geistes wäre das schönste, stolzeste und klügste, das man sich nur denken kann». Im Dialog mit einem Freund teilt der spanische Autor dort voller Spott dann auch jede Menge Seitenhiebe gegen das damals in höchster Blüte stehende Genre der kitschigen Ritterromane aus. Es wird deutlich, dass der «Don Quijote» als Parodie dieser seinerzeit so beliebten Literatur gedacht ist. Reine Satire also, und nicht nur vom Inhalt her, sondern auch stilistisch auf die Spitze getrieben durch persiflierenden Wortwitz und eine der Zeit geschuldete, gedrechselte, aber eben auch amüsante Diktion. Der Protagonist Don Quijote gesteht denn auch gleich zu Beginn, dass er selbst, dem Publikums-Geschmack folgend, jeden Ritterroman gelesen habe, den er in die Hände bekommen konnte, sein Haus sei voll davon. Er identifiziert sich vollständig mit den hehren Zielen der Ritterorden und beschließt, selbst ein Ritter zu werden. Und das geschieht nur deshalb, weil er in seiner Einfalt den Lug und Trug der Romane nicht von der Realität unterscheiden kann, weil er naiv Wort für Wort an das glaubt, was er gelesen hat. Für Cervantes ist sein Roman auch ein Beleg dafür, dass übermäßige Lektüre von Schundromanen letztendlich nur den Verstand raubt, worauf Denis Scheck übrigens aktuell auch in seiner Bestseller-Bibel hingewiesen hat, wo eine aktuelle Studie benannt ist, die das tatsächlich belegt.

Also zieht der Held auf Rocinante, seinem Klepper, in die Welt hinaus, um Gutes zu tun und Böses zu verhindern, begleitet von seinem Schildknappen Sancho Panza, der auf einem Esel reitet. Und er will natürlich auch Dulcinea finden, seine erträumte Herzensdame. Er erlebt zahlreiche haarsträubende Abenteuer und richtet überall da, wo er auftaucht, ein schlimmes Chaos an. Seinen rohen Gegnern unterliegt er immer und siegt nur dort, wo er gegen völlig Unschuldige und Ahnungslose zu Felde zieht. Im zweiten Teil des Romans ist Don Quijote der anerkannte Schriftsteller des ersten Teils geworden, der nun mit Sancho Pansa weitere Abenteuer besteht, seine Dulcinea aber leider auch nicht findet. Ganz am Ende verliert er einen Zweikampf und kehrt in sein Dorf zurück, wo er seine Lebenslüge erkennt und desillusioniert an Wundfieber stirbt.

Die Handlung des Romans wird ergänzt durch viele in sich abgeschlossene Episoden, deren aberwitziges Geschehen für sich allein steht. Besonders amüsant sind die Passagen, in denen Cervantes gegen die Schriftsteller zu Felde zieht, indem er zum Beispiel Zweifel an seinem Buch bekundet, «… wo ich doch sehe, dass andere Bücher, einerlei wie herbeiphantasiert und profan, nur so von Sprüchen des Aristoteles strotzen, von Platon und dem ganzen Philosophentross, und damit ihre Leser staunen machen, und die halten derlei Schreiber dann für belesene, beredte und gelehrte Männer». Wie wahr! Der «Don Quijote» ist übrigens einer der seltenen Romane, die man ohne Abstriche in kleinsten Portionen über längere Zeiträume hinweg goutieren kann, denn jeder Abschnitt des Buches ist für sich allein eine literarische Preziose. Es wäre in der Gesamtausgabe in einem Band mit fast 1500 Seiten insoweit auch das viel beschworene, nie langweilig werdende, ideale «Buch für die Insel».

Bewertung vom 22.05.2025
Tannöd
Schenkel, Andrea Maria

Tannöd


sehr gut

Chapeau!

Das Romandebüt von Andrea Schenkel mit dem Titel «Tannöd» startete 2006 mit einer Auflage von 3000 Exemplaren, verkauft wurden schließlich über eine Million Bücher, - so kann ein Verlag sich irren, oder anders gesagt, so launisch ist die Lesergunst! Dieser mehrfach prämierte Dorfkrimi hat es in kurzer Zeit sogar geschafft, Daniel Kehlmanns «Die Vermessung der Welt» vom Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste zu verdrängen. Inzwischen wurde der Stoff als Hörspiel und Theaterstück verarbeitet und auch erfolgreich verfilmt. Der Roman basiert auf einem wahren Mord in Hinterkaifeck bei Schrobenhausen, wo am 1. April 1922 auf einem Einödhof sechs Menschen erschlagen wurden. Sie sei durch einen Zeitungs-Artikel darauf gestoßen, erklärte die Autorin in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, welches im Anhang des Romans abgedruckt ist. «Ich habe die Handlung auf die Nachkriegszeit verlegt und ein paar Personen dazugeschrieben und die Opfer neu erfunden«, erklärte sie zur Entstehung des Buches. «Und am Schluss finde ich einen Täter – in Wirklichkeit wurde der Fall ja nie geklärt».

Der Roman erzählt von einem tyrannischen Bauern, der mit Frau und Tochter, zwei Enkelkindern und einer Magd auf einem Einödhof lebt. Danner ist ein brutaler Eigenbrötler, der seine Familie schikaniert und dem alle Dorfbewohner aus dem Weg gehen, die Familie lebt völlig isoliert am äußersten Rand des Dorfes. Als die Nachbarn mehrere Tage lang niemanden mehr sehen von der Familie, die Enkelin nicht in der Schule erscheint und auch der Postbote niemanden antrifft, beschließen drei Männer, nachzusehen, was denn da los ist. Das Haus ist verschlossen, im offenen Heustadel finden sie schließlich die mit Heu bedeckten Leichen des Bauern und seiner Frau, ihrer Tochter und der Enkelin. Und im Haus entdecken sie schließlich noch die Leichen des zweijährigen Enkelsohns und die der erst am Vortag eingestellten, neuen Magd. Alle Sechs wurden brutal mit einer Spitzhacke erschlagen.

Andrea Schenkel führt schon früh einen Täter ein in ihre Geschichte, sie erzählt von einem Tagedieb und Vagabunden, der sich jeweils für kurze Zeit als Taglöhner verdingt, dabei den Hof gründlich erkundet und seinen Arbeitgeber ausspioniert. Sein Wissen macht er sich dann nach einiger Zeit zu nutze, um in das jeweilige Haus einzubrechen, oder er gibt alle Informationen an seine Kumpels weiter, die dann den Raubzug ausführen und die Beute mit ihm teilen. In ihrem raffiniert angelegten Plot entwickelt die Autorin ihre multi-perspektivisch erzählte Geschichte in weiten Teilen in Form von kurzen, persönlichen Berichten aus dem familiären und dörflichen Beziehungsgeflecht. Aus diesem vielstimmigen Chor entsteht nach und nach ein mosaikartiges Bild des Geschehens und seiner Vorbedingungen. So wird dann auch deutlich, dass Danner seine Tochter Barbara seit ihrem zwölften Lebensjahr sexuell missbraucht hat. Aus diesem Inzest ist später seine Enkeltochter entstanden, und Danner hat es geschafft, Barbara mit einem Flüchtling zu verheiraten, der auf das Erbe spekuliert hat. Später hat er den Schwiegersohn dann davongejagt und ihm Geld gegeben, damit er auf Nimmerwiedersehen nach Amerika auswandern könne. Als Barbara einige Jahre später wieder schwanger wurde, hat sie ein Verhältnis mit dem verwitweten Nachbarn angefangen und ihn dazu gebracht, sich als Vater ins Geburtsregister eintragen zu lassen.

Dieser Roman ist eher ein Heimatroman als ein Krimi, der Mord selbst steht erzählerisch nicht im Mittelpunkt, er wird nur kurz gestreift. In Fokus ist vielmehr das familiäre und dörfliche Beziehungsgeflecht, das jeweils aus der Innenperspektive heraus, - auch jener der Opfer, psychologisch aufschlussreich und stimmig geschildert wird. Zahlreiche religiöse Einsprengsel stehen für eine Kritik an der bigotten Frömmigkeit der einfältigen Dörfler. Das häppchenweise Erzählen sorgt - ganz ohne die genre-üblichen Muster - für Spannung und führt zielstrebig, anders als in der realen historischen Mordsache, auf ein überraschendes Ende hin. Chapeau!