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nessabo

Bewertungen

Insgesamt 166 Bewertungen
Bewertung vom 30.06.2025
Die Rettung
McConaghy, Charlotte

Die Rettung


ausgezeichnet

Ein mystisch-dystopisches Kammerspiel mit Tränengarantie

Wer McConaghys früheren Werke schon mochte, kann unbesorgt zu „Die Rettung“ greifen. Für mich sind die Geschichten der Autorin ein Garant für starke Emotionen und atmosphärische Settings. All das erfüllt auch ihr neuester Roman, obwohl ich ein paar Kritikpunkte habe.

Erstmal: das Cover?! Hier hat sich der Verlag besonders viel Mühe gegeben, denn auch der Einband ist stimmungsvoll bedruckt. Und vor allem spiegelt es schon sehr akkurat das Setting wider, welches so richtig endzeitlich-bedrohlich ist.

McConaghy wirft ihre Lesenden absolut drastisch und ohne jede Vorwarnung in die Handlung hinein. Dieses Mal hat sie sich für ziemlich viele und teils rasante Perspektivwechsel entschieden. Grundsätzlich bin ich Fan dieses Stils, muss aber auch sagen, dass es mir hier einen Ticken zu viel war. Ich habe entsprechend eine Weile gebraucht, um die Figuren greifen zu können. Wir begleiten maßgeblich den Inselverwalter Dominic sowie die auf ebenjene Insel gespülte Rowan. Ergänzt wird die Geschichte ab und zu um kurze Kapitel von Dominics Kindern.

Zu Beginn fand ich das noch gewöhnungsbedürftig, kann die Wahl aber im Nachhinein gut nachvollziehen. So lässt die Autorin die Betroffenen selbst sprechen und vergrößert damit die Authentizität der Geschichte. Besonders Orly, das jüngste Kind, hat mich sofort für sich gewonnen. Er ist ein absolutes Brain, was Flora und Fauna angeht, und teilt in seinen Kapiteln vor allem Wissen rund um (bedrohte) Pflanzenarten. Ihm wird später eine unfassbar schwere Aufgabe zuteil, bei der ich richtig dolle innehalten musste, um nicht sofort zu weinen.

Wie gewohnt legt McConaghy viel Wert auf eine Bewusstseinsbildung für die Klimakatastrophe, das Artensterben und unsere Rolle in alldem. Besonders dringlich wird dies durch das Setting, welches sich am besten als endzeitliches Kammerspiel beschreiben lässt: die Protas sitzen auf einer Insel fest, die in Rekordzeit zu versinken droht. Gewürzt mit einer Prise sexueller Anziehung und einer Tonne geheimnisvoller Andeutungen wird die Geschichte zu einer, die so beklemmend wie fesselnd ist.

Das ziemlich repetitive und etwas effekthascherische Andeuten von Geheimnissen hat mich ehrlicherweise aber schon etwas genervt. Ich finde vor allem, dass weder die Handlung noch die Autorin das nötig gehabt hätten. Sie hat schon in der Vergangenheit gezeigt, dass sie meisterinnenhaft Bilder und Atmosphäre bei ihren Leser*innen erzeugen kann. Die Thriller-Elemente waren spannend, hätten reduzierter aber wohl den gleichen Effekt erzielt. Außerdem werden Wildtiere in ihrem Wert geschätzt, während dann abends das TK-Hühnchen auf dem Teller liegt. Ein wenig mehr Konsequenz hätte an der Stelle nicht geschadet.

Nichtsdestotrotz: das Buch hat meine Erwartungen absolut erfüllt, auch wenn ich ihre Vorgänger auch aufgrund ihrer geradlinigeren Erzählstruktur einen Ticken mehr mochte. Die Autorin hat es trotzdem geschafft, mich bis zum Schluss noch völlig zu überrumpeln, am Ende hab ich einfach nur noch versucht, durch meine Tränen hindurch zu lesen. 💔

Auch „Die Rettung“ wirft uns auf unsere bloße Existenz zurück, schult das Bewusstsein für unsere Verantwortung und alles, was wirklich wichtig ist. Und so schmerzvoll die Realität auch ist, menschliche bzw. speziesübergreifende Verbundenheit machen sie ein wenig aushaltbarer.

4,5 ⭐️
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TW: Su!zid, T0d, Schilderungen von Gewalt gegen Tiere

Bewertung vom 27.06.2025
Atmosphere
Reid, Taylor Jenkins

Atmosphere


ausgezeichnet

Ein packend geschriebener Weltraumroman mit zusätzlicher Ebene

Der neue Roman von Taylor Jenkins Reid war tatsächlich mein erster von ihr, obwohl mensch an ihrem Namen in der Buch-Bubble natürlich nicht vorbeikommt. Und ich kann es nun sehr gut verstehen: Diese Autorin kann absolut packend schreiben und porträtiert inspirierende Frauen ohne ins Pathetische abzudriften.

Jane Goodwin schafft es als eine der ersten Frauen, ins SpaceShuttle-Programm der NASA aufgenommen zu werden. Entsprechend vorprogrammiert sind natürlich auch patriarchale Strukturen und sexistische Abwertung am Arbeitsplatz. Diese werden thematisiert, nehmen aber keinen allzu großen Raum ein, was ich im Rahmen der Gesamthandlung auch okay fand. Obwohl Reid sich, dem Nachwort entsprechend, einige künstlerische Freiheiten herausgenommen hat, ist der Roman voller technischer und organisatorischer Details. Das mochte ich einerseits total gern, fand es streckenweise aber auch etwas zäh.

Doch „Atmosphere“ ist weit mehr als ein Weltraumroman! Es ist auch eine Geschichte über Queer Awakening, queeres Leben in einer überaus queerfeindlichen Umgebung und über Selbstfindung. Gerade letzteres driftet ja gerne auch mal ins Pathetische ab, was hier überhaupt nicht der Fall ist. Ich mochte nämlich ganz besonders an diesem Roman, dass seine Figuren erwachsen gezeichnet sind und sich auch entsprechend verhalten. Das Drama kommt eher aus dem Rahmen und nicht aus der zentralen Beziehung selbst. Je älter ich werde, desto genervter bin ich von ewig andauernden Kommunikationsproblemen! 🙈

Die Liebesgeschichte ist ehrlich, authentisch und einfach nett zu verfolgen. Mit geschickten Vor- bzw. Rückblenden hält Reid die Lesenden bei der Stange. Sie schafft es dadurch, eine primär von Alltag geprägte Haupthandlung absolut packend einzurahmen. Denn was sich auf dem zentralen Weltraumflug ereignet, hat mich am Ende mit Tränen in den Augen zurückgelassen…

Besonders erwähnen möchte ich auch noch die Beziehung von Jane und deren Nichte Frances. Absolut ergreifend wird hier noch einmal auf andere Weise das Konzept „Familie“ diskutiert. Janes Schwester Barbara war mir persönlich am Ende zu überzeichnet, was meine Lesefreude minimal getrübt hat.

Ein großartiger Roman, der mich enorm unterhalten hat und dessen Hauptfiguren ich wirklich sehr mochte. Ich wünsche ihm sehr viele Leser*innen und bin mir sicher, dass er viele auf eine angenehme Art inspirieren kann.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 25.06.2025
Der alte Apfelgarten
Gosling, Sharon

Der alte Apfelgarten


sehr gut

Ein weiteres kurzweiliges Werk einer talentierten Autorin

Mein erster Kontakt mit Sharon Gosling war vor einem Jahr „Forgotten Garden“, was ich sehr mochte. Ich finde, dass Gosling ein Händchen für ganz besondere Landschaften hat, aber auch für zarte zwischenmenschliche Bande. An das konnte „Der alte Apfelgarten“ in vielerlei Hinsicht anknüpfen, wenngleich es für mich auch ein paar Dämpfer gab.

Aber erstmal zu all dem Guten. Das Setting ist einfach bemerkenswert schön, Gosling zeichnet mit ihren Worten kinderleicht Bilder in die Köpfe ihrer Leser*innen. Ich bin zwar gar nicht so ein Küstenkind, aber wie die Autorin schottische Natur beschreibt, macht mich doch sehnsüchtig.

Außerdem mochte ich die Wahl der Protagonistinnen sehr gern! Dass hier für eine Romance eine Schwesternschaft als zentrale Beziehung gewählt wurde, finde ich nämlich richtig toll. Bette und Nina sind spannende Figuren, alleinstehend und in Interaktion miteinander. Gosling zeigt damit, dass nicht immer die romantische Liebe im Zentrum stehen muss.

Wie schon bei ihrem vorherigen Werk hat mir generell gefallen, dass die meisten Figuren einfach warmherzig und undramatisch sind. Das bedeutet nicht, dass es kein Drama in der Handlung gibt (im Gegenteil!) , aber sie kommt eben weniger aus den Figuren selbst. Barnaby a.k.a. Superheld Seepocke und wie respektvoll die Erwachsenen mit ihm sowie seinen Bedürfnissen umgehen? Ich liebe alles daran! Auch Cam, Allie und Ryan sind liebenswerte Nebenfiguren, die ich immer wieder gern gelesen habe.

Der Roman ist eine gut lesbare Sommerlektüre und ich würde sie dafür auch jederzeit empfehlen. Dennoch hat mir der Vorgänger noch einen Ticken besser gefallen, weil da der Gemeinschaftsaspekt mehr zum Tragen kam. Außerdem muss ich die starke Überzeichnung des Antagonisten kritisieren. Die Figur fand ich völlig flach, eindimensional und vorhersehbar. Auch Bettes und Ryans Aufeinandertreffen und wie es dann endete, fand ich nicht gut geschrieben. Es war mir am Ende alles einfach ein wenig zu überspitzt dramatisch, ein bisschen weniger hätte es für mich auch getan.

Nichtsdestotrotz eine klare Leseempfehlung für diesen stimmungsgeladenen Roman in großartigem Setting und mit vielen netten Figuren. Das Apfelthema und die Geschichte rund um den Apfelgarten haben mich nebenher auch ziemlich fasziniert. Ich hatte eine angenehme, kurzweilige Lektüre und habe mich trotz meiner Kritikpunkte sehr gut unterhalten gefühlt.

Bewertung vom 22.06.2025
Ein unendlich kurzer Sommer
Pfister, Kristina

Ein unendlich kurzer Sommer


gut

Nette Sommerlektüre mit problematischen Mustern und wenig emotionaler Nähe

Geschichten rund um schicksalhafte Gemeinschaften lese ich ziemlich gern. Eine solche haben wir hier auf jeden Fall auch, aber so richtig emotional erreichen konnte mich der Roman trotzdem nicht.

Wir begleiten fünf Menschen, die den Sommer auf einem kleinen Campingplatz verbringen. Das Setting fand ich gut gewählt und der zu Beginn entstandene Hype inkl. des plötzlich florierenden Tourismus war schon recht amüsant. Ich hatte figurentechnisch aber meine Probleme. Mehrere Perspektiven finde ich toll - hier waren sie aber nicht klar voneinander abgegrenzt und wechselten teils innerhalb eines Kapitels nur durch einen Absatz getrennt. Außerdem finden nur drei Perspektiven direkt Raum, über die verbleibenden beiden Hauptfiguren wird nur durch die anderen drei gesprochen. Dieser Fakt hat mich immer mal wieder verwirrt/unzufrieden zurückgelassen

Was ich ganz besonders kritisiere, sind einige Muster in der Handlung. Einem noch Minderjährigen wird einfach wiederholt von Erwachsenen harter Alkohol und Cannabis verabreicht, sodass dieser in einem völlig betrunkenen/zugedröhnten Zustand zurückbleibt. Kaninchen werden ständig hochgehoben und auf den Schoß verschiedener Personen gesetzt - ein Fluchttier, das nur im äußersten Notfall hochgehoben werden sollte und nein, die finden Kuscheleinheiten in der Regel nicht toll! Das rassistische I-Wort, welches gleich zweimal reproduziert wird. Und ein irgendwie ziemlich überzeichneter, flacher, überflüssiger Ehemann, der am Ende noch einmal einen kurzen Auftritt bekommt.

Besonders die Kritikpunkte, aber auch die für mich allgemein fehlende emotionale Nähe zu den Figuren führen zu meinem Punktabzug in der Bewertung. Der Roman lässt sich trotz allem gut lesen und ist eine nette Sommerlektüre. Ich finde einfach, dass bspw. eine Jasmin Schreiber sehr ähnliche Geschichten deutlich ergreifender und reflektierter geschrieben hat.

3,5 ⭐️

Bewertung vom 22.06.2025
Zucker
Knoll, Ursula

Zucker


sehr gut

Spannendes Generationenportrait, auch wenn der Zucker weniger verbindend war als erwartet

Ich mag komplexe Familiendramen, die sich über mehrere Generationen erstrecken und verschiedenen Perspektiven Raum geben. Auch „Zucker“ hat mir dahingehend gut gefallen, obwohl es figurentechnisch recht überladen war.

Das verbindende Element der Geschichte soll der titelgebende Zucker sein. Dabei geht es nicht nur um Rohrzucker, sondern auch um seinen Konkurrenten: den Rübenzucker. Und Zucker spielt auch ganz klar immer wieder eine Rolle, irgendwie habe ich es aber noch konkreter erwartet. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass die Verbindung zum Lebensmittel ein wenig konstruiert war.

Abgesehen davon muss ich aber klar sagen, dass die Autorin hier eine bemerkenswerte Recherchearbeit geleistet haben muss. Die Handlung findet zu grundverschiedenen Zeiten statt und immer bekommen wir eine enorme Masse an geschichtlichen Hintergrundinformationen mitgeliefert. Das hat mich phasenweise ebenso überfordert wie die vielen Figuren, aber mit der richtigen Erwartung ist es ein tolles historisches Werk.

Die Figuren selbst konnte ich nicht ganz so gut greifen, das mag aber auch an der hauptsächlich thematisierten Zeit liegen. Besonders Ejo konnte ich eine Weile gar nicht zuordnen und fand die Wahl ihrer Perspektive auch ein wenig eigenartig. Andere Figuren sind klarer und ich mochte auch die nach und nach verwobenen Zusammenhänge. Nicht so gut gelungen fand ich die zusätzlichen Perspektiven von Nebenfiguren, die sich irgendwann noch eingeschlichen haben. Da es schon mehr als genug Hauptfiguren gibt, hätte ich darauf lieber verzichtet.

Trotz aller Kritik ist das Buch authentisch und gut geschrieben, ich habe es gern gelesen. Vor allem Fans historischer Romane mit hoher Detaildichte werden hier ihre Freude haben. Die emotionale Tiefe der Figuren gerät da für mein Empfinden eher ein wenig in den Hintergrund, was den Roman aber auch nur überfrachtet hätte. In jedem Fall habe ich durch die Lektüre Einiges gelernt!

Bewertung vom 13.06.2025
Mut
Reitinger, Maureen

Mut


sehr gut

Kurzer, aber schöner Essay mit wohltuenden Impulsen

Ich mag die übermorgen-Reihe sowieso sehr gerne und schätze sie für ihre prägnante Kürze ebenso wie für die oft bereichernden Impulse. Auch „Mut“ hat mir gut gefallen, obwohl ich den Text schon wirklich sehr kurz fand. Die Kapitel umfassen teilweise nur 3 Seiten, was zwar einen sehr guten Lesefluss erzeugt, aber manchmal auch ein wenig Tiefe vermissen lässt.

Andererseits fand ich wirklich einige Gedanken Reitingers sehr spannend. Wie sie Mut als Konzept neu definiert ist so simpel wie hilfreich. Sie hebt das sagenumwobene Wort vom Individuellen ins Gesellschaftliche und fragt, wie ein tägliches Existieren in einem von Ismen durchzogenen System nicht mutig sein kann und Mut stattdessen nur mit Extremsportarten oder einschneidenden Lebensveränderungen in Verbindung gebracht wird.

Diese Vergesellschaftlichung finde ich ganz toll, wird doch alles gerade immer weiter individualisiert und damit auch isoliert. Die Symbiose des Grauens - bestehend aus Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus - zwingt uns in einen stetigen Wettbewerb zueinander, wo gelebte Solidarität doch so viel angebrachter wäre.

Im Anschluss daran wird die Autorin aber auch sehr persönlich und erzählt von ihren eigenen Mutschritten als mehrgewichtige Person in einer Welt, die durch und durch fettfeindlich ist. Diese Erzählungen halte ich für nicht weniger als mutig und wünschte gleichzeitig, sie müssten es nicht sein. Ich bin (noch) nicht selbst von Fettfeindlichkeit betroffen und trotzdem haben mich die Geschichten emotional bewegt.

Deshalb denke ich, dass dieser gut lesbare, zugängliche Text eine absolute Wohltat für alle Menschen sein kann, deren Körper innerhalb unserer Gesellschaft diskriminiert werden. Er verändert unser eigenes Denken über Mut hin zu einem viel alltäglicheren, in welchem tagtägliches Existieren und Sichtbarsein der widerständige Akt an sich ist. Es hätte für mich durchaus auch noch detaillierter sein können, aber ich würde die Lektüre auf jeden Fall empfehlen - vor allem Menschen, die sich gern neue Impulse holen und keine komplett vorgefertigte Lösung suchen.

Bewertung vom 13.06.2025
Perlen
Hughes, Siân

Perlen


sehr gut

Sanft und verletzlich reihen sich die Gedankenperlen aneinander…

Ich bin ganz ehrlich: Mit poetischen Werken habe ich es nicht so und wenn ich das irgendwo als Beschreibung lese, mache ich normalerweise einen Bogen um das dazugehörige Buch. Doch „Perlen“ setzt Poesie nur so wohldosiert und passend als Stilmittel ein, dass es mich nicht nur erreicht, sondern emotional tief bewegt hat. Und als Person, die mit Lyrik wirklich gar nichts anfangen kann, muss ich sagen, dass mir die einleitenden Gedichte richtig gut gefallen haben.

Die Mutter der 8-jährigen Marianne geht eines Tages aus der Tür und kehrt nicht zurück. Vielleicht schon zu Beginn, mindestens aber im weiteren Verlauf wird subtil recht klar, was passiert ist. Doch es geht nicht um die Tat selbst, nicht um die Gründe. Es geht um vererbte Trauer, neu hinzugekommene Trauer sowie die Suche nach einem Umgang mit dem, was unbegreiflich und damit unüberwindbar scheint.

Der Titel und auch die Covergestaltung sind einfach ausgezeichnet gewählt. Denn Siân Hughes reiht Erinnerungen aneinander wie Perlen auf eine Kette. Manche Erinnerungen sind echt, manche nicht, und so richtig wissen wir es beim Lesen auch nicht, denn Erinnerung und Fiktion verschmelzen immer wieder miteinander. Die Kapitel sind kurz und das fand ich ebenso eine außerordentlich gute Wahl. Denn obwohl die Handlung insgesamt zusammenhängt, lassen sich die kompakten „Perlen“ leicht mit Pausen lesen.

Und Pausen sind manchmal auch wirklich angebracht - zum Verarbeiten und Durchatmen, zum Fühlen und Reflektieren. Das Werk ist nicht immer ganz zugänglich, die Sprache mit Bildern und Assoziationen versetzt, aber ich habe es überraschend gern gelesen und konnte die von Trauer und auch Ärger begleitete Liebe zwischen den Zeilen regelrecht greifen.

Ein echtes, raues Werk mit einigen schmerzhaften Themen, dem es dank leichter Schnörkel gelingt, sie erträglich zu machen. Besagte Schnörkel und Assoziationen machen den Text aber nicht unnatürlich und überladen poetisch, sondern einfach schön. Ich empfehle dieses ruhige und tiefgängige Stück Literatur von Herzen gern - eine begabte Autorin, die in ihrem Debütroman Lyrik mit zart-ernster Prosa vereint, und ein poetisches Werk für alle, die keine poetischen Werke mögen.
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TW: Selbstverletzung, Suizid, Depression, Essstörung

Bewertung vom 13.06.2025
Hello Baby
Eui-kyung, Kim

Hello Baby


sehr gut

Super spannender Einblick mit recht distanzierten Protagonistinnen

Großer Kritikpunkt vorab, der meine Bewertung um 0,5 Sterne schmälert: Ein mithilfe von KI erstelltes Cover halte ich für einen immensen Fehler. Kunst ist kein Feld, in dem diese Unterstützung irgendwie gerechtfertigt wäre und ich finde es ganz besonders für ein feministisches Buch völlig fehlplatziert.

Inhaltlich hat mir „Hello Baby“, was gleichzeitig der Chatgruppen-Name der Protagonistinnen ist, durchaus gut gefallen. Ich mochte die vielschichtige Betrachtung von Kinderwunschbehandlungen, der Roman ist ein richtiger Deep Dive in die Fachtermini und Etappen ebendieser. Lobenswert fand ich auch die Diversität der behandelten Frauen. Alle sind Ü35, aber ihre Lebensstile recht verschieden. Manche Frau möchte als Single ein Kind bekommen, andere innerhalb einer festen Beziehung und andere irgendwie auch aus einer gesellschaftlichen Verpflichtung heraus.

Trotz der unterschiedlichen Lebensrealitäten treffen sich alle Patientinnen bei ähnlichen Herausforderungen. Nicht nur durch die Behandlung und deren ausbleibenden Erfolgs selbst, sondern auch aufgrund externer Faktoren. In den Fokus gerät immer wieder die kompetitive Berufswelt, in der Schwangere und Mütter oder eben einfach Frauen, die sich beides wünschen, keinen Platz bekommen und sich zu eisernem Weiterarbeiten gezwungen sehen. Als Außenstehende würde ich die Situation in Deutschland zwar als ein klein wenig entspannter einschätzen, aber die grundlegende Erwartungshaltung an sowie das mangelnde Verständnis für Menschen mit Uterus sind natürlich gleich. Daher halte ich die Geschichte auch für ein wichtiges Werk.

Emotional habe ich aber nicht so recht einen Zugang gefunden. Die Protagonistinnen erschienen mir alle eher distanziert und nüchtern, obwohl sie untereinander durchaus über ihre Herausforderungen sprechen. Doch selbst in den inneren Monologen blieben die Sorgen oft organisatorischer Natur, die mich nicht so erreichen konnte. Auch war der Zusammenhalt zwischen den Frauen zwar da, aber nicht in einer Form, die mich jetzt emotional sehr aufgefangen hätte. Die gegenseitige Fürsorge blieb meiner Meinung nach eher oberflächlich.
Da ich sehr wenig Kontakt mit koreanischen Namen habe, fand ich das Auseinanderhalten der Figuren auch herausfordernd, aber das kreide ich natürlich nicht dem Buch an, zeigt es doch einfach nur meine sehr westlich geprägte Lesegewohnheit.

Das Ende ist schon früh recht vorhersehbar, aber das fand ich persönlich nicht schlimm. Es geht ja viel mehr um die grundlegende Thematik und der räumt dieser gut lesbare Roman in jedem Fall viel Raum ein. Eine Leseempfehlung für Interessierte des Themas, die keinen starken Figurenfokus suchen und von Themen rund um (unerfüllten) Kinderwunsch sowie Fehlgeburten nicht getriggert werden, denn die werden natürlich wiederholt angesprochen.

3,5 ⭐️

Bewertung vom 31.05.2025
Sunburn
Howarth, Chloe Michelle

Sunburn


gut

Ein rauschhafter und phasenweise anstrengender Deep Dive in die Gefühlswelt eines Teenagers

Wobei ich mir sicher bin: Das Cover ist in seiner 90er-Optik gnadenlos gut gewählt!
Wobei ich mir unsicher bin: Welche Bewertung für dieses Buch die passende ist. Das erste Drittel des Romans fand ich wirklich extrem anstrengend. Das liegt zum einen an der mir nicht sonderlich sympathischen oder nahbaren Protagonistin und zum anderen an der Erzählweise. Wir sitzen nämlich ausschließlich und enorm intensiv in Lucys Kopf und Teenie-Köpfe sind nicht unbedingt mein Lieblingsort. 🙈

In der Handlung passiert relativ wenig Interaktion mit anderen, vielmehr begleiten wir Lucy bei der Entwicklung ihres Verlangens sowie der inneren Auseinandersetzung mit Konventionen in ihrem katholisch geprägten irischen Heimatdorf. Die Erwartungen einer sehr konservativen Familie an das Mädchen sind nicht weniger als erdrückend und ich war mehr als einmal wütend.
Und irgendwas ist etwa auf der Hälfte passiert, dass ich das Buch, obwohl ich die Erzählweise noch immer ziemlich langatmig fand und mich immer wieder dabei erwischt habe, wie ich einige Sätze übersprang, irgendwie auch doch nicht mehr so richtig aus der Hand legen wollte.

Die Situation in den 90er-Jahren in Irland scheint wirklich noch etwas rückschrittlicher zu sein im Vergleich zu dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin. Die 90er waren natürlich noch nicht die progressivste aller Zeiten, aber ich habe schon gemerkt, dass ich diese Zeit hier als nicht so extrem kleinfamiliär und begrenzt erinnere. Ich finde es aber grundsätzlich gut wie die Autorin auch subtil Kritiken an der üblichen Vorstellung von Familie übt, natürlich an Queerfeindlichkeit und auch an der Tatsache, dass Mädchen oder Frauen, die Zärtlichkeiten austauschen, oft nicht einmal als potenzielles Liebespaar gelesen werden. Darin kann ein Vorteil liegen, aber natürlich ist es auch queerfeindlich begründet.

Auch was die Authentizität der Sprache angeht, bin ich hin- und hergerissen. Auf der einen Seite finde ich sie wirklich sehr authentisch. Das Übertriebene, die Obsession mit der ersten Liebe, das schonungslose Beschreiben von fettigen Haare, Schweißgeruch und Speichelfäden bei der Angebeteten – alles schon irgendwie sehr, sehr Teenie. 😅 Und nebenbei eine erfrischende Abkehr vom Male Gaze, dank welchem Frauenfiguren eigentlich immer nach Pfirsich duften. 🫠

Nichtsdestotrotz hab ich wiederholt gedacht, dass ich die Poesie und die Verwendung mancher Worte irgendwie nicht so richtig in die 1990er-Jahre packen würde, sondern eher in eine Zeit 1-2 Jahrhunderte früher. Nachdem ich mich daran gewöhnt hatte, fand ich es insgesamt aber okay und glaube, dass genau dieses schonungslose Eintauchen in Lucy Gedanken den Reiz des Buchs ausmacht. Wahrscheinlich cringen wir an einigen Stellen oder finden die Schilderungen eklig, aber auf jeden Fall werden eigene Emotionen bei den Lesenden ausgelöst.

Nichtsdestotrotz würde ich sehr klar sagen, dass mensch für das Buch bereit sein muss. Es sollte euch vorher klar sein, dass wir hier ganz, ganz tief in die Gedanken einer jungen Person eintauchen und es relativ wenig Beziehungsarbeit oder Dialoge mit anderen gibt. Ich konnte Lucy darüber hinaus auch wirklich sehr oft nicht besonders gut nachvollziehen, manchmal fand ich sie richtig unsympathisch, weil sie andere Menschen für ihr Wohlergehen benutzt. Auch habe ich die Chemie zwischen Lucy und Susannah ehrlicherweise nicht so wirklich gefühlt, aber das ist natürlich immer etwas sehr Subjektives.

Das Buch ist irgendwie ein Rausch, der hätte deutlich kürzer sein können. Trotz meiner klaren Kritikpunkte habe ich aus irgendeinem Grund die zweite Hälfte überraschend flüssig lesen können. Trotzdem wurden meine Erwartungen an eine Geschichte rund um Queer Awakening mit all seinen Herausforderungen sowie queere Beziehungen generell schon enttäuscht. Natürlich ist es das Kernelement des Romans, aber die ausschweifenden Gedanken Lucys haben mich selbst auch immer wieder abschweifen lassen. Es ist für mich entsprechend kein Lieblingsbuch, aber durchaus ein solides Debüt und ich denke mit den richtigen Erwartungen kann es für viele eine gute Lektüre sein.

3,5 ⭐️

Bewertung vom 28.05.2025
Hunchback
Ichikawa, Saou

Hunchback


sehr gut

Eine schonungslose und unbequeme Erfahrung, die es sich lohnt zu machen

„Hunchback“ ist ein wilder Roman mit einer vulgären, extrem direkten Sprache. Das Buch ist mit seinen 90 Seiten eine einzige Erfahrung und ich halte es für ein forderndes, aber auch sehr wichtiges Stück internationaler Literatur.

Die Geschichte hat klare autobiografische Züge, die Autorin hat wie die Erzählerin selbst eine angeborene Behinderung. Das Besondere für mich ist die Selbstbeobachtung beim Lesen: Warum irritiert es mich, wenn eine behinderte Person so roh und vulgär über ihr Leben und eben auch über Sexualität schreibt? Die Autorin schafft es also exzellent, ihren Finger in die ableistische Wunde zu legen - nicht zuletzt, weil ihre Figur Shaka eben eine Behinderung und auch körperliche Leiden hat ohne dem abwertenden Bild einer „gequälten, lebensmüden Behinderten“ zu entsprechen.

Stattdessen schreibt die Protagonistin selbst Sätze wie „Wie eine normale Menschenfrau ein Kind empfangen und abtreiben – das ist mein Traum“ ins Internet und wirft hier anhand eines polarisierenden Themas Fragen rund um Normalität auf. Das Selbstbestimmungsrecht sollte schließlich für alle gelten, gleichzeitig finden sich behinderte Menschen oft irgendwo zwischen Fetischisierung und Entsexualisierung wieder. Beim Schreiben wandert die Autorin auf einem Pfad voll triefendem Sarkasmus, zynischer Direktheit und offener Vulgarität - ich mochte das sehr gern, eben genau weil es so aufwühlt. Aber das vor dem Lesen für sich selbst einzuordnen ist sicher nicht verkehrt.

Ich mochte auch die ehrliche und unaufgeregte Darstellung des Lebens einer behinderten Person. Über die tägliche Schleimabsaugung inklusive technischer Details wird ebenso geschrieben wie über Pflegeheim-Routinen, Arbeit und Sexualität. Immer wieder lernen wir, wie ableistisch unsere Welt gestaltet ist - klugerweise wird z. B. auch auf die Barrieren der Buchwelt hingewiesen.

Die Protagonistin lebt trotzdem verhältnismäßig privilegiert, weil sie sehr wohlhabend ist. Das kann kritisiert werden, aber ich wüsste nicht, warum solche Figuren nicht auch in der Literatur stattfinden sollten. Außerdem ist Ableismus eine so tiefgreifende und noch wenig beachtete Diskriminierungsform, dass ich diese Kritik irgendwie ein wenig fehlgeleitet finde. Nichtsdestotrotz konnte ich auch nicht alle Handlungen Shakas nachvollziehen und erwartungsgemäß passiert auf den wenigen Seiten vieles recht schnell.

Mit dem Ende war ich völlig überfordert, keine Ahnung, was genau uns Saou Ichikawa da sagen wollte. 🙈 Deshalb ziehe ich auch ein bisschen was von der Bewertung ab. Und doch empfehle ich diese sehr kurze, aufwühlende, grenzenauslotende Geschichte, weil sie eine Perspektive abbildet, die viel zu selten Raum bekommt. Lasst euch von diesem Stück japanischer Literatur herausfordern und bildet euch ein eigenes Urteil.