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Snowbird

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Insgesamt 27 Bewertungen
Bewertung vom 05.07.2025
Anna oder: Was von einem Leben bleibt
Sußebach, Henning

Anna oder: Was von einem Leben bleibt


ausgezeichnet

Was bleibt von einem Leben? Ein paar Fotos. Wahrscheinlich. Ein Familienstammbuch. Vielleicht. Ein paar Briefe oder Dokumente. Kann sein. Ein paar Erbstücke. Wenn man Glück hat. Henning Sussebach sagt, jeder Mensch stirbt zweimal. Das erste Mal physisch. Das zweite Sterben vollzieht sich langsamer, es ist dann vollendet, wenn sich niemand mehr an diesen Menschen erinnert. Also wahrscheinlich, wenn niemand mehr am Leben ist, der ihn noch persönlich gekannt hat. Henning Sussebachs Buch „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ ist der Versuch, seine Urgroßmutter Anna vor diesem Vergessen-Werden zu bewahren. Um ihre Geschichte niederzuschreiben hat er zusammengetragen, was zu finden ihm möglich war. Ein paar Fotos, ein paar Dokumente. Anhand der bekannten Daten und Stationen ihres Lebens hat er nachgeforscht und mit mühevoller Recherche viele Details herausgefunden. Eine zeitraubende Tätigkeit, bei der er viel Hilfe benötigt und erhalten hat. Trotzdem sind Lücken geblieben. Was und wie hat Anna gedacht? Wie war sie eingestellt? Als Lehrerin soll sie eine große Handschrift gehabt haben, eine Formulierung, die ein Synonym ist: zu ihrer Zeit war die Prügelstrafe an der Tagesordnung, und laut Überlieferung hat sie davon gerne und oft Gebrauch gemacht. War sie also eine harte Frau? Oder hat sie sich lediglich zeitgemäß verhalten? Annas Leben war nicht unbedingt typisch für ihre Zeit. 1866 ist sie geboren. Schon sehr früh, als 12-jährige, hat sie das elterliche Haus verlassen, um eine Schullaufbahn einzuschlagen, die es ihr ermöglichte, Lehrerin zu werden. Das muss nicht unbedingt ihr Wunsch gewesen sein. Doch ihr Vater war gestorben, und ihre Mutter wollte für alle Kinder das Bestmögliche arrangieren. Zum Heiraten war Anna zu jung, also musste sie für sich selbst sorgen können. Viele Möglichkeiten hatten Frauen dazu damals nicht. Ob Anna wohl Heimweh hatte? Solche Fragen sind es, die die beste Recherche nicht beantworten kann. Aus der Gesamtheit der Daten und Belege setzt der Autor ein Bild zusammen. So könnte es gewesen sein, Annas Leben. Vielleicht.

Wer sich einmal mit Ahnenforschung befasst hat, kann sich einigermaßen vorstellen, wie tief Henning Sussebach eingetaucht sein muss in Annas fernes Leben. Wie sie für ihn Gestalt angenommen hat. Annas Geschichte ist zugleich eine Gesellschaftsgeschichte, weil sie sich ohne diesen Hintergrund nicht erklärt. Kann sein, dass Anna eine ganz gewöhnliche Frau ihrer Zeit war, die sich nach jedem Schicksalsschlag wieder berappelt und aus ihrem Leben das Bestmögliche gemacht hat. Vieles war ungewöhnlich in ihrem Leben, und mir scheint, sie war eine besondere Frau. Henning Sussebach hat sie wieder an die Oberfläche geholt und sie mit seinem Buch unsterblich gemacht. Ihr ein Denkmal gesetzt. In gewisser Weise ist dies ein Denkmal für unser aller Urgroßmütter, denn jede von ihnen könnte eine Anna gewesen sein. Den Gedanken finde ich tröstlich, denn in den meisten Fällen wissen wir es heute nicht mehr. Leider.

Ein wunderschönes Buch für jede und jeden, die/der sich für Geschichte interessiert und Ahnen- oder Familienforschung betreibt. Und wer das noch nicht tut, wird nach der Lektüre das Bedürfnis haben, damit anzufangen.

Henning Sussebach ist Jahrgang 1972 und Redakteur bei der Wochenzeitung DIE ZEIT.

Bewertung vom 10.06.2025
Die Verlockung des Autoritären
Applebaum, Anne

Die Verlockung des Autoritären


ausgezeichnet

„Kein politischer Sieg ist für die Ewigkeit, keine Definition der Nation ist von Dauer, und keine Elite, sei es eine aus Populisten, aus Liberalen oder aus Aristokraten, herrscht für immer.“ (Seite 187)

So beängstigend sich diese Variante von Heraklits „Alle Dinge sind immer im Fluss“ hinsichtlich des Zustands demokratischer Staaten auf der einen Seite anhören mag, so beruhigend empfinde ich sie auf der anderen, denn sie besagt, auch undemokratische Regime sind endlich. Was aber nicht darüber hinwegtäuscht, das aktuell undemokratische Regierungen populär sind. Die Entwicklung dorthin skizziert Anne Applebaum in diesem Buch anhand der Beispiele von Amerika, Polen und Ungarn, Länder, die sie aus eigener Anschauung kennt. Außerdem zeichnet sie nach, wie es zum britischen Brexit kommen konnte. Laut Applebaum begann diese Entwicklung etwa zu Beginn der 10er Jahre.

Ein bestimmter Anteil der Bevölkerung eines Landes (gemäß der Verhaltensökonomin Karen Stenner ist es ein Drittel) hat eine autoritäre Veranlagung, das bedeutet, diese Gruppe sehnt sich nach Ordnung und Homogenität und tut sich schwer damit, Komplexität auszuhalten, Diskussionen sind nicht so ihr Ding. Überzeugen müssen die Autokraten einen Teil der anderen zwei Drittel. Dazu brauchen sie „Leute, die Unruhen anzetteln und die Machtübernahme vorbereiten“ : Intellektuelle, Blogger, Meinungsmacher, Fernsehproduzenten, Journalisten - Leute, die sich ausdrücken können und in der Öffentlichkeit für sie stark machen. Ein wichtiger Aspekt sind Verschwörungstheorien, damit lassen sich selbst rein imaginäre Probleme hochstilisieren und ausschlachten. Man schafft sich also künstlich ein Problem. Außerdem hilft Nostalgie, die ebenso weit verbreitet ist. Applebaum unterscheidet zwei Arten von Nostalgikern: die reflexiven Nostalgiker, die von der Vergangenheit träumen und sich diese zurückwünschen, und die restaurativen Nostalgiker, die aus der Vergangenheit Mythen schöpfen, Denkmäler errichten und nationalistische Bewegungen erschaffen. Man könnte also sagen, dass die Autoritäts-Herbeisehner nicht damit klar kommen, dass die Welt sich weiter entwickelt. Heraklits Panta Rhei ist für sie keine Option.

Sehr spannend ist auch der Gedanke, dass Revolutionen auf Kommunikationsebene stets für radikale politische Veränderungen sorgten. Die Erfindung der Druckerpresse im 15. Jahrhundert beendete das Informationsmonopol der katholischen Kirche und führte zur Reformation. Die Erfindung des Radios beendete das Monopol des gedruckten Wortes, jetzt konnte man das gesamte Land in seinen eigenen vier Wänden erreichen. Beides hat allerdings entsprechend lange gedauert. Die Erfindung und Zugänglichkeit des Internets jedoch hat eine rasante Entwicklung verursacht und die Verbreitung mannigfaltiger Meinungen, Informationen und Falschinformationen in enormen Mengen und kürzester Zeit erst möglich gemacht.

Ich finde das alles sehr spannend zu lesen und auch einleuchtend. Das Buch ist nicht so trocken-theoretisch, wie ich angenommen hatte. Ich bin noch nicht einmal ganz sicher, ob man es wissenschaftlich nennen sollte, weil die Autorin sich ganz überwiegend mit den Ländern auseinandersetzt, in denen sie gelebt hat oder lebt, und die Geschichten von Menschen erzählt, die sie persönlich kennt oder kannte, sei es als (teilweise frühere) Freunde oder als Interview-Partner. Insofern dürfte es eine Mischung aus hergeleiteten Theorien und persönlichen Erfahrungswerten sein. Das schmälert allerdings für mich persönlich nicht den Erkenntnisgewinn, ich mag es sogar sehr gern, wenn komplizierte Sachverhalte heruntergebrochen werden, so dass sie für den Laien verständlich und nachvollziehbar sind. Deshalb wird dieses Buch sicherlich nicht meine einzige Lektüre von Anne Applebaum bleiben. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Leser, die selbst „vom Fach“ sind, ein einschlägiges Studium haben, sich beruflich mit der Materie auseinandersetzen oder bereits einiges dazu gelesen haben, hier nichts Neues erfahren werden.

Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum ist 1964 in Washington D.C. geboren. Seit 1992 ist sie mit einem polnischen Politiker verheiratet und lebt in Polen; sie hat seit 2013 doppelte Staatsangehörigkeit. Für ihr Buch „Der Gulag“ erhielt sie den Pulitzer-Preis. 2024 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Bewertung vom 29.05.2025
Coast Road
Murrin, Alan

Coast Road


gut

In Irland gab es bis 1996 keine Ehescheidung. Erst dann wurde sie durch ein Referendum mit einer äußerst knappen Mehrheit von noch nicht einmal einem Prozent (!), so die Anmerkung des Autors, eingeführt.

Murrin schreibt über Ehemänner, die ihre Frauen als Eigentum betrachten, selbstherrlich Entscheidungen über deren Köpfe hinweg treffen und sie wie Gegenstände herum schubsen. Ein Ehemann, von seiner Frau verlassen, verbietet selbiger das Umgangsrecht mit den Kindern, vordergründig, um die Kinder nicht zu verwirren, doch tatsächlich, um an seiner Frau Rache zu nehmen für seine gekränkte Eitelkeit. Dabei hat er längst eine neue Herzensdame und an der Wiederaufnahme der Ehe mit seiner noch angetrauten Gattin keinerlei Interesse. Das Wohl der Kinder ist nur vorgeschoben. Er will vielmehr seine Macht ausspielen, eine Macht, die die irische Rechtsprechung aus dem Jahr 1994/95 ihm zugesteht. Dieser Mann tritt im Roman nur in einer einzigen Szene persönlich in Erscheinung, und in dieser Szene klagt er einen andern Mann an, seine Frau nicht „im Griff“ zu haben. Die aus der Ehe ausgebrochene Frau, Stein des Anstoßes und Gegenstand der sozialen Kontrolle, wird sehr klischeehaft geschildert, eine mannstolle Dichterin mit exaltierter Kleidung und wirren Haaren, die ihren Kummer wehleidig im Alkohol ertränkt und keine bessere Idee hat, als mit dem nächstbesten gut gebauten attraktiven Mann in die Kiste zu hüpfen. Dass dieser Mann nicht besonders schlau und außerdem ein mieser Charakter ist, ist ihr bewusst. Aber egal, sie hat ja noch nicht genug Probleme. Dass dieser Mann über keinerlei Problemlösungsstrategien verfügt und maximal von jetzt bis übermorgen denkt, empfinde ich als weiteres Klischee. Der einzig integere Mann in diesem Roman ist ausgerechnet ein Pastor, der eine freundschaftliche Nähe zu einer der Protagonistinnen pflegt, die den beiden genommen wird, weil Klatsch, Tratsch, vielleicht auch Neid, soziale Kontrolle, auf jeden Fall aber Bigotterie diese Freundschaft nicht dulden.

Der Roman lässt sich schnell lesen, denn er ist flüssig geschrieben mit einem sehr hohen Anteil an Dialogen, wenn auch für meinen Geschmack insgesamt etwas zu langatmig erzählt. Allerdings hätte ich mir ein wenig mehr „Show, don’t tell“ gewünscht. Die Handlung konzentriert sich neben den eingangs erwähnten Ehemännern auch auf deren Frauen. Aber leider sind deren Charaktere leicht unterkomplex und eindimensional, so dass ich am Anfang wirklich Schwierigkeiten hatte, sie in der multiperspektivisch erzählten Handlung nicht zu verwechseln. Außerdem fühlte ich mich die ganze Zeit etwas unangenehm berührt, weil mir der Blick auf dieses ganze Unglück so voyeuristisch erschien. Deshalb stellt sich mir die Frage, wie es sein kann, dass ein Gesetz, dass es diesen unglücklichen Menschen ermöglicht, ihr Leben zu verändern, so wenig Zustimmung erhalten konnte.

Was ich aber überhaupt nicht verstehe, ist die seltsam anmutende Moral, mit der Murrin seinen Roman beendet: Sei zufrieden mit dem, was du hast, beschwere dich nicht, gehe nicht in den Diskurs mit deinem Mann, lächle. Diese Gedanken legt er einer seiner Protagonistinnen in den Mund, die in ihrer Ehe seit Jahren unglücklich und unzufrieden ist, gerne gehen möchte, jedoch nicht die Kraft aufbringt, ihren Mann, den sie noch nicht einmal besonders mag, zu verlassen, auch dann nicht, nachdem ihr der Ausgang des Referendums legal die Möglichkeit dazu einräumt. Am Ende ist ihr das gesicherte Leben in Wohlstand doch ein bisschen wichtiger als ihre persönliche Freiheit für den Preis einer unvorhersehbaren Zukunft. Das soll die Quintessenz dieser Geschichte sein?

Ich habe so viele durchweg positive Rezensionen über dieses Buch gelesen, dass ich einen etwas anderen Roman erwartet hatte und bin deshalb ein bisschen enttäuscht, denn ich hatte mir die Aufbereitung der Story tiefgründiger vorgestellt. Alan Murrin hat einen Roman geschrieben, an dem man sich abarbeiten kann, und der bestens geeignet ist für Lesekreise, weil er viel Diskussionsstoff liefert. Dass er meinen persönlichen Geschmack nicht ganz trifft, tut dabei überhaupt nichts zur Sache.

Das Cover ist ein wunderbarer Eye-Catcher und schwer zu überbieten. Ein Highlight im Regal.

„Coast Road“ ist Murrins Debütroman, der von Anna-Nina Kroll ins Deutsche übersetzt wurde.

Bewertung vom 29.05.2025
Leuchtende Jahre
Ahrem, Regine

Leuchtende Jahre


ausgezeichnet

„Leuchtende Jahre“ hat mich sehr begeistert. Collage-artig montiert, aber in chronologischer Reihenfolge erzählt es im Plauderton von sieben bedeutenden Frauen der Künstlerszene der Weimarer Republik. Die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatten für kurze Zeit das Potenzial, Frauen ein Stück voran zu bringen. Allerdings liefert das Buch keine soziologische Analyse, denn alle sieben Frauen, die hier herausstellt werden, waren genau das: auf unterschiedliche Weise privilegiert, dem Durchschnitt der Mehrheit entsprachen sie definitiv nicht.

Regine Ahrem geht es primär um das Leben der Frauen, weniger um ihre Werke. Diese finden zwar Erwähnung, vor allem das ein oder andere entstehungsgeschichtliche Detail, aber sie liefert keine Deutungen oder Interpretationen. Sie erzählt rein chronologisch anhand biografischer Daten in kurzen, wechselnden Kapiteln, die für mich manchmal ein bisschen zu kurz sind, weil sie den Text unruhig machen.

1933 sind „die paar leuchtenden Jahre vor der großen Verdunklung“ (Kaléko) abrupt vorbei, als Hitler Reichskanzler wird. Keuns Romane fallen der Bücherverbrennung zum Opfer; alle anderen verschwinden in den Folgejahren aus den Regalen. Fünf der sieben Frauen verlassen Deutschland für viele Jahre.

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen. Dabei habe ich nicht nur viele Details aus den Leben dieser bemerkenswerten Frauen erfahren, sondern auch viel über das Filmgeschäft, das Zeitungswesen und den Buchmarkt in den Zwanziger Jahren. Bereits damals sprach man von einer Buchkrise, zumindest in Berlin, denn das kulturelle Angebot war dort so groß, dass die Berliner gar keine Lust hatten, zu Hause zu bleiben.

Viele Entwicklungen in diesen Jahren waren der heutigen Zeit nicht unähnlich, und das finde ich erschreckend und nachdenkenswert. Regine Ahrems Buch weckt Interesse, mehr und vertiefend über diese Frauen und über die Kulturszene während der Weimarer Republik zu lesen.

Die damals bekannteste von ihnen war Vicki Baum, die, aus arrivierten Verhältnissen stammend, bereits eine erfolgreiche Autorin war und als DAS Gesicht des Ullstein-Verlags zur erfolgreichsten Autorin ihrer Epoche wurde. 1932 emigrierte sie in die USA, was nicht mit politischer Hellsichtigkeit, sondern mit ihrem grandiosen Erfolg dort zu tun hatte.

Marieluise Fleißer bildete den Gegenpol zu Vicki Baum, sie entstammte einem Kleinstadtmilieu, verdankte ihren Aufstieg der Entdeckung durch Bertolt Brecht, der sie zur gefeierten Theater-Autorin machte, jedoch keine Skrupel hatte, sie für den Preis des kurzzeitigen Erfolgs in ihrer Heimatstadt unmöglich zu machen, so dass sie sich dort auf Jahre hinaus nicht mehr blicken lassen konnte. Fleißer hatte kein Glück mit der Wahl ihrer Männer und war jahrelang in einer toxischen Beziehung gefangen, die auch Einfluss auf ihren literarischen Weg nahm.

Mascha Kaléko kam ebenfalls aus bescheidenen Verhältnissen. Die junge Frau aus dem Scheunenviertel machte mit ihren Zeitungsgedichten, die auf Anhieb verständlich sind und keiner großen Interpretation bedürfen, auf sich aufmerksam und eroberte sehr schnell ein großes Publikum und wurde fortan im gleichen Atemzug mit ihren Kollegen Tucholsky, Kästner und Ringelnatz genannt.

Gabriele Tergit war eine der wenigen Journalistinnen jener Zeit. Als Frontfrau beim Berliner Tageblatt etablierte sie das Genre der Gerichtsreportagen. Parallel arbeitete sie an ihrem ersten Roman.

Irmgard Keun, Erika Mann und Ruth Landshoff waren Schauspielerinnen, bevor sie das Schreiben für sich entdeckten. Alle drei kamen aus begüterten Verhältnissen. Keun war Stenotypistin in der Firma ihres Vaters, bevor sie die Schauspielschule besuchte, ein Umstand, der später in ihren Romanen zum Tragen kam, weil ihr diese Welt vertraut war. Ihr Erfolg aus Schauspielerin war eher mäßig, da traf es sich gut, dass sie ihr literarisches Talent entdeckte und mit „Gilgi“ und „Das kunstseidene Mädchen“ zwei der größten literarischen Erfolge der Neuen Sachlichkeit verfasste. Erika Manns Erfolg als Schauspielerin war präsenter und taugte zusammen mit den Namen ihres Bruders Klaus und ihres späteren Ehemanns Gustav Gründgens für das Feuilleton. Glamour, Klatsch und Tratsch hatten auch vor einhundert Jahren schon Wirkung. Erikas Talente waren vielschichtig, sie gründete das Kabarett „Die Pfeffermühle“ und schrieb zahlreiche journalistische Reiseberichte. Ruth Landshoff war DAS Glamour-Girl jener Jahre. Genderfluid wie Erika, war sie bis zu ihrer Hochzeit mit Graf Yorck mit einem sehr reichen, älteren Mann liiert, der ihr sämtliche Türen öffnete.

Keun, Kaléko, Fleißer, Landshoff und Tergit können nach dem Krieg nicht mehr an ihre Erfolge aus der Weimarer Zeit anknüpfen. Tergits epischer Roman „Effingers“ erscheint zwar in den Fünfzigern, stößt aber zu diesem Zeitpunkt nicht auf Leserinteresse. Erika Mann hat nach dem Krieg nichts Neues mehr geschrieben, sondern agierte als Assistentin ihres Vaters sowie später als dessen Nachlassverwalterin.

Bewertung vom 30.04.2025
Das Geheimnis von Pinewood Crest   Ein dramatischer Familienroman in zwei Zeitebenen
Tyler, Tess

Das Geheimnis von Pinewood Crest Ein dramatischer Familienroman in zwei Zeitebenen


ausgezeichnet

Mason Hicks ist überfordert von seinem Leben und verlässt seine Frau ohne Erklärung. Während einer mehrtägigen Fahrt in den Norden von Michigan reflektiert er sein Dasein. Wie schon sein Vater vor ihm leidet er an Depressionen und mangelndem Selbstwertgefühl. Das komplizierte Verhältnis zu seinen Eltern macht es nicht einfacher für ihn. Wie gut, dass seine Frau ihn nicht so schnell aufgibt ...

Über drei Generationen, jedoch nicht linear, erzählt Tess Tyler das Schicksal einer Familie, das sich auf tragische Weise zu wiederholen scheint. Da ist einerseits so etwas wie ein ererbtes Trauma, ausgelöst durch eine jahrzehntelang gelebte Lüge, und anderseits die Anziehungskraft des gleichen Typs Frau, die zwei von den drei Männern zum Verhängnis wird und sie in toxischen Beziehungen gefangen hält.

Ich war schnell eingenommen von der Story, habe diesen Roman in zwei Tagen durchgesuchtet und bin absolut beeindruckt von der mitreißenden und tiefgründigen Geschichte, die sich offenbart. Sehr geschickt finde ich, dass die Autorin die Rollen verkehrt hat - meistens sind es ja die Männer, denen Untreue zugeschrieben wird, doch hier ist es gerade umgekehrt. Das finde ich total erfrischend in der derzeitigen Anhäufung von Männer hassender Literatur. Außerdem wird anhand der Charaktere sehr gut gezeigt, dass wir eben nur zur Hälfte das Produkt unserer Gene sind und der Einfluss von Erziehung und Umgebung genauso großen Einfluss auf unser Leben und unser Werden sowie unsere Persönlichkeitsbildung hat wie unsere Erbanlagen.

Dies ist bislang Tess Tylers persönlichster Roman, denn sie hat hier mit einem großen Anteil dichterischer Freiheit das Schicksal ihres Onkels verarbeitet, der sich in jungen Jahren das Leben genommen hat. Unter anderem deshalb ist dem Roman eine Triggerwarnung vorangestellt.

Ehrlich gesagt - ich würde diesem sehr gut konzipierten und tiefgängigen Roman einen anderen Titel geben, denn dieser ist völlig aus der Luft gegriffen und wird dem Inhalt nicht gerecht, weil er, zumindest bei mir, im Zusammenspiel mit dem zwar sehr schönen Cover die Vorstellung eines seichten Unterhaltungsromans erzeugt, was er definitiv nicht ist. Dadurch wird Potential verschenkt, weil viele Leserinnen, vor allem aber Leser, nicht erreicht werden, die aber zur Zielgruppe gehören. Und das finde ich sehr schade.

Tess Tyler ist das Pseudonym der Autorin Ute Kunz. Sie ist 1975 in Stuttgart geboren und hat einige Zeit in Michigan, USA, gelebt. Die Grundlage dieses Romans geht auf wahre Begebenheiten in ihrer Familie zurück, jedoch hat sie die Charaktere verfremdet und den Ort der Handlung in den Nordosten der USA verlegt.

Bewertung vom 03.04.2025
Russische Spezialitäten
Kapitelman, Dmitrij

Russische Spezialitäten


ausgezeichnet

1994 kam Dmitrij Kapitelman als 8-jähriger als jüdischer Kontingent-Flüchtling aus der Ukraine nach Deutschland. Die Familie ließ sich in Leipzig nieder, wo sie einen russischen Spezialitätenladen eröffnete, ein „Magasin“, und knappe 30 Jahre führte. Der Autor hat ein inniges Verhältnis zu seinen Eltern. Doch mit dem russischen Überfall auf die Ukraine wird die Beziehung zu seiner Mutter einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt, denn diese steht stramm an der Seite Putins. Sie sieht sich den ganzen Tag Propagandasendungen im russischen Fernsehen an, deren Statements sie gebetsmühlenartig wiederholt und sich auf keine Argumentation einlässt. Sie überwirft sich mit sämtlichen ukrainischen Freunden, und auch zwischen Mutter und Sohn führt diese Haltung zu starken Spannungen, einem „lebenstiefen Riss“ (S. 106). Sein Vater geht da nicht mit. „Ein KGBschnik hat nur eine bestimmte Art, die Welt zu sehen. Nur eine Art, zu denken. Der ist immer noch im Kalten Krieg und kann richtig gefährlich werden, wenn man ihn lässt.“ (S. 21) Seine Worte über Putin, als dieser Präsident wurde. Als letzten Argumentationsversuch besteigt Dmitrij den Flixbus Berlin-Kyjiw und tritt eine Reise in die Ukraine an, weil er hofft, seine Mutter mit einem Augenzeugenbericht erreichen zu können.

Vor dem Hintergrund eines Auszugs aus dem Familienleben ordnet DK mit ganz wenigen Worten - sein autofiktionaler Roman hat nur 182 Seiten - ein, wie dieser Krieg funktioniert. Und zugleich bestätigen ihm die vielen Gespräche mit Freunden in Kyjiw, dass er nicht schwarz-weiß zu betrachten ist. Sie reden über die Angst, eingezogen zu werden, die Überlegenheit Russlands, Korruption in der Ukraine und besuchen Orte wie Butscha, die einen Alptraum erlebten, schwer attackiert und wieder befreit wurden. Dem Autor ist die russische Sprache wichtig, seine Muttersprache, die es vor diesem Krieg gab und danach geben wird. Die er sich nicht nehmen lassen, nicht schlechtmachen lassen will, denn es ist auch seine Sprache. Diese Sprache, die nicht Schuld ist, aber von den Ukrainern zunehmend geächtet wird als Sprache des Aggressors. Ukrainisch spricht er nicht, wie viele Ukrainer auch nicht.

DK hat ein sehr sensibles Buch geschrieben, das mit wenigen Worten in seiner gewohnt feinen künstlerischen Sprache mit originellen Wortschöpfungen und Metaphern ins Schwarze trifft und sehr zum Nachdenken anregt. Der Autor macht uns einen komplexen Sachverhalt leicht zugänglich, denn stellenweise liest sich der Roman sehr amüsant. DK selbst nennt es sein bisher schwierigstes Buch. Mir gefällt es sehr, ebenso wie seine beiden anderen Bücher, die ebenfalls autofiktionale Romane sind. Alle drei empfehle ich sehr.

Bewertung vom 02.03.2025
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


ausgezeichnet

Sophie Luise, 14, möchte eine Freundin mit in den Toskana-Urlaub nehmen. Aber Aayana ist nicht irgendeine Freundin, sie ist ein Flüchtling aus Somalia. Und Sophie Luise ist auch nicht irgendein Teenager, sondern die Tochter von Elisa Strobel-Martinek, einer hochrangigen Politikerin Österreichs. Doch Aayanas Eltern erlauben die Reise nicht. Das kann die Politikerin nicht auf sich sitzen lassen. Sie bemüht verschiedene Stellen, und nach deren sanftem Druck darf Aayana mitfahren.

Am Urlaubsort passiert die größtmögliche Katastrophe: Aayana, die die Flucht über den halben afrikanischen Kontinent und über das Mittelmeer überlebt hat, ertrinkt im Pool, denn sie kann nicht schwimmen. Niemand möchte dafür die Verantwortung übernehmen. Alle möchten schnell in ihr altes Leben zurück und das Unglück ganz schnell vergessen, denn das war es doch, ein tragisches Unglück, oder? Oder? Schon nach wenigen Seiten dieses Romans blickt man fassungslos auf den Umgang der Beteiligten mit diesem Unglück. Jede/r versucht auf seine Weise, es aus der Welt zu schaffen (als ob das möglich wäre!) und weiterzumachen, als wäre gar nichts passiert. Verantwortung übernehmen? Fehlanzeige. Man ist doch daran nicht schuld! Aber so ganz gut funktioniert das mit dem Wegschweigen nicht. Sophie-Luise, von lange von den Eltern vernachlässigt, denn sie ist ja so vernünftig, um sie braucht man sich nicht groß zu kümmern, wird alleine gelassen, denn die Eltern sind vollauf damit beschäftigt, den Schaden für sich selbst zu begrenzen, denn sie sehen sich als die Opfer dieses tragischen Unglücks. Auch das hat schlimme Folgen. Aber was ist eigentlich mit Aayanas Familie? Wer kennt ihre Geschichte, und wichtiger noch, wen interessiert sie? Die Oberflächlichkeit der meisten Beteiligten, ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Hinterbliebenen machen sprachlos.

Glattauer hat einen distanzierten, manchmal zugespitzt überzeichneten Blick für seinen Roman gewählt. Der Einstieg erfolgt über einen Bericht, ganz sachlich, ganz nüchtern, und trotzdem oder gerade deshalb ist man entsetzt.

Es folgen Zeitungsmeldungen und die entsprechenden Kommentare im Chat, Sophie Luises Wahrnehmung, die sich im Laufe des Romans verändert, warum, verrate ich hier nicht, und die Innenperspektive ihrer Mutter, alles immer im Wechsel mit E-Mail-Austausch und Chat-Verläufen.

Ich bin erst spät zu diesem Buch gekommen, und abgesehen von der Ausgangssituation wusste ich nicht viel darüber. Nach der Lektüre fragt man sich, in was für einer Welt wir leben. Und mehr noch, ob das die Welt ist, in der wir leben wollen. „Die spürst du nicht“ ist eine Geschichte, die einen nicht so schnell wieder loslässt, eine Geschichte, über die man lange nachdenken kann. Ich musste sie erst ein paar Tage sacken lassen, bevor ich mich dazu äußern konnte. Und ich habe nicht das Gefühl, dem Roman hier mit meinen Worten gerecht zu werden. Aber wenn ich mehr kommentiere, einordne, beurteile müsste ich spoilern. Ich denke aber, dass es ist wichtig ist, so unvoreingenommen an den Roman heranzugehen, wie es bei mir der Fall war.

Der Titel „Die spürst du nicht“ steht laut Glattauer für die vielen Schicksale von Geflüchteten, die in den meisten Fällen niemand kennt. Die Menschen sind hier, sie leben unter uns, wir nehmen sie wahr, aber wir wissen fast nichts über sie. Auch Sophie Luise und ihre Eltern haben sich nicht die Mühe gemacht, vor der Urlaubsreise etwas über Aayanas Vorgeschichte und die Hintergründe und den Ablauf ihrer Flucht zu erfahren. Wenn es sie interessiert hätte, wäre es mit größter Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Unglück gekommen.

Ein Roman, den ich uneingeschränkt empfehle.

Daniel Glattauer, 1960 geboren, stammt aus Wien. Bekannt wurde er 2006 mit seinem sehr unterhaltsamen Roman „Gut gegen Nordwind“, einem modernen Briefroman in Form einer E-Mail-Korrespondenz zwischen einem alleinstehenden Mann und einer verheirateten Frau. Er brachte ihm die Nominierung für den Deutschen Buchpreis ein.

Bewertung vom 12.01.2025
Ich tat die Augen auf und sah das Helle
Kaléko, Mascha

Ich tat die Augen auf und sah das Helle


ausgezeichnet

Wunderbare, mich nachdenklich stimmende Lesestunden haben mir Mascha Kalékos Gedichte und Prosatexte beschert, die in diesem Band so wohldurchdacht von Daniel Kehlmann zusammengestellt wurden. Herausgekommen ist ein wahrer Goldschatz unter den Büchern, Gedichte von wunderbar eingängiger Satzmelodie, deren Worte wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht sind. Gedichte, die wehmütige Geschichten erzählen, Bilder erzeugen und mit so wenigen Worten ganze Romane entblättern. Gefühle und Gedanken werden glasklar auf den Punkt gebracht und geben viel von Mascha Kalékos Leben preis. Mich haben sie zu der Frage gebracht, an was man sich später wohl von mir erinnern wird.

Kehlmann, der den Band mit einer kurzen Einleitung beginnt - auch er hat das wunderbare Talent, mit knappen Worten sehr viel zu sagen - hat die Gedichte und Texte thematisch gegliedert. Da gibt es Gedichte über die Nacht, in der man nicht schlafen kann oder nicht nach Hause gehen möchte, natürlich Gedichte über die Liebe, Teil I und Teil II, die zugleich auch das Leben und Überleben im Exil bebildern, das neue Zuhause, den Blick nach vorn, den Neuanfang. „Nun weiß ichs, Liebster. Dieses ist das Glück. (…) Ein Dach, ein Brot, ein Kind, ein gutes Kissen.“ Dies sind der erste und der letzte Vers von „Fast ein Gebet“, und zwischen diesen Zeilen tut sich ein ganzes Leben auf. Im Gedicht „Geburtstag“ denkt man mit Wehmut und Sehnsucht an die Unbeschwertheit junger Jahre, und „Das Poesie-Album“ zeigt auf, dass einem beim Lesen im selbigem vor knappen 100 Jahren die gleichen Überlegungen und Rückblicke wie heute durch den Kopf gegangen sein müssen. Und auch das Beenden einer Liebesbeziehung war gar nicht so viel anders. Heute wird per Whatsapp Schluss gemacht, 1930 „Läßt man’s einander durch die Reichspost wissen“ , wenn die „Großstadtliebe“ vorbei war.

Auch die versammelten Prosa-Texte, ich würde die heute Essays nennen, haben mich sehr erfreut. Sie schreibt darin vom Palästina-Amt im Berlin der 20er und frühen 30er Jahre, ein Amt, das mir bislang gar kein Begriff war und über das zu lesen mir sehr viel Wissenszuwachs beschert hat. Sie lässt uns eintauchen in ihr Leben in NYC, im Village und später in Israel und nimmt uns mit auf ihre Reisen nach Deutschland. Besonders ihr Wiedersehen mit Berlin hat mich sehr berührt, ihre Gedanken an davor und danach und an die vielen Freunde, die nun nicht mehr sind .... Es sind großartige Texte, die ich hier mit meinen Worten gar nicht genug würdigen kann.

Ich möchte dieses wunderschöne Buch - in grünes Leinen gebunden, versehen mit rotem Lesebändchen, mit Vorsatz- und Nachsatzfoto der Autorin, jeder und jedem ans Herz legen, die/der noch keine Bekanntschaft mit Mascha Kaléko gemacht hat. Aber auch wer sie schon kennt, wird große Freude an diesem wunderbaren Werk haben. Versprochen!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.12.2024
Müllschlucker
Pesuaschwili, Iwa

Müllschlucker


sehr gut

In diesem kurzen Roman geht es um das armenischstämmige Ehepaar Gena und Mila Simonyan und ihre beiden erwachsenen Kinder, eine Familie, in der jeder seiner Wege geht. Die vier leben im 16. Stock eines Wohnhauses sowjetischer Ära. Sie sind allerdings mittlerweile mehr eine Wohngemeinschaft als eine Familie. Zema ist Polizistin und trägt viel Wut in sich. Lazare liefert mit einem Mofa Pizza aus, träumt aber davon, Rapper zu werden. Gena war hochdekorierter Polizist und ist völlig desillusioniert, was sich in absoluter Untätigkeit spiegelt. Mila, die als Frisörin für das Einkommen der Familie sorgt, hat sich anderweitig verliebt und ist auf dem Weg, ihn zu verlassen. Die Handlung ist, inklusive Rückschauen, eingebettet in den 9. April 2017 und wird multiperspektivisch erzählt.

Es ist Milas 46. Geburtstag. Der 9. April ist ein stark belasteter Tag, denn er ist geschichtsträchtig für Georgien. Am 9. April 1989 gab es eine große Demonstration für Freiheit auf dem Rustaweliplatz in Tiflis, bei der viele Menschen durch russische Polizeigewalt starben. Zwei Jahre später wurde am gleichen Tag die Unabhängigkeit Georgiens erklärt.

Zusammengeschrumpft auf diesen einen Tag erzählt Pesuaschwili in seinem Roman von den enttäuschten Hoffnungen der Georgier, die nach der Unabhängigkeit von Demokratie und Freiheit träumten. Doch weil alle früheren Wahrheiten nichts mehr gelten und dem Land Struktur zu fehlen scheint, ist die Ausgestaltung der Demokratie fragwürdig und die Gesellschaft verliert sich in Chaos und Korruption.

Dieser atmosphärisch dichte Roman, obwohl von überschaubarer Länge, ist fordernd, wenn man nicht auf ein paar Vorkenntnisse über postsowjetische Geschichte und die heutigen Verhältnisse in den ehemaligen SSR-Staaten zurückgreifen kann, denn der Autor holt nicht groß aus, sondern bringt den Zustand des Landes und die Befindlichkeiten seiner Bewohner direkt auf den Punkt. Dabei ist das Herunterbrechen der Handlung auf diesen einen Tag ein genialer stilistischer Schachzug.

Der Lesefluss wird allerdings durch die vielen russischen Einschübe in den Dialogen, die den Roman zwar authentisch machen, etwas erschwert. Die Übersetzung gibt es in den Fußnoten.

Das Motiv des Gestanks spielt im Buch eine zentrale Rolle. Ich verstehe es als Symbol für Misstrauen und allgemeine Desillusionierung. Es spiegelt den Zustand einer Gesellschaft, die sich in einer Dauerkrise befindet und in der es weder Vertrauen in Institutionen noch in zwischenmenschliche Beziehungen gibt.

Keine Wohlfühllektüre, und auch nicht ganz leicht zugänglich, aber sehr empfehlenswert für einen ersten Eindruck von den Lebensverhältnissen im heutigen Georgien.

Iwa Pesuaschwili ist 1990 geboren. Er hat in Tiflis, wo er auch lebt, Theater- und Filmwissenschaften studiert. „Müllschlucker“ ist sein dritter Roman, für den er 2022 den Literaturpreis der Europäischen Union erhalten hat.

Aus dem Georgischen übersetzt von Nadia Mekeladse-Bachsoliani.

Bewertung vom 21.12.2024
Die Möglichkeit von Glück
Rabe, Anne

Die Möglichkeit von Glück


ausgezeichnet

Die allermeisten Rezensionen, die ich über dieses Buch gelesen habe, berichten von einem Nach-Wende-Roman, von einer Geschichte, in der es um die Befindlichkeiten der Menschen in den neuen Bundesländern in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung geht, um die Schwierigkeiten, sich mit den geänderten Lebensbedingungen zu arrangieren. Ja, darum geht es auch. Ich habe dieses Buch allerdings in erster Linie als die Geschichte einer dysfunktionalen Familie gelesen, als eine Geschichte von massivem psychischen und physischen Kindesmissbrauch.

Die Protagonistin Stine ist 1986 in Wismar geboren, war also bei der Wiedervereinigung drei Jahre alt. Ihre Eltern und Großeltern sind systemtreue Genossen, die mit den neuen Verhältnissen hadern. Doch dieser Umstand kann nicht Schuld daran sein, dass die Mutter ihre Kinder misshandelt, denn sie beginnt damit bereits, als Stine und ihr Bruder noch Babys sind, lässt sie bis zur Bewusstlosigkeit schreien, füttert sie nach der Uhr, kleidet sie nach dem Kalender und nicht nach dem Wetter, verbrüht sie in der viel zu heißen Badewanne. Abhärten will sie sie. Wogegen? Das bleibt ihr Geheimnis. Dass Stine davon tief gezeichnet ist, zeigt sich in der erwachsenen Frau und Mutter, die noch immer aufgeschreckt ist von den Manipulationsversuchen ihrer Mutter, die sich jetzt auch an die Enkelkinder richten. Diese Misshandlungen haben Spuren hinterlassen in Stines Selbstbewusstsein. Weil sie die Person, die sie dadurch wurde, für ihre Kinder nicht sein will, recherchiert sie die Leben ihrer Eltern und Großeltern, denn viel geredet wurde in der Familie nicht, nicht über Vergangenes und auch nicht über Verstorbene. Vorbei ist vorbei, tot ist tot, Deckel drauf, das war die Devise. Wer waren die Eltern früher? Was hat sie zu denen gemacht, die sie als Erwachsene sind?

Stine betreibt ihre Recherche sehr professionell. Sie wendet sich an das Wehrmachtsarchiv, um die Wege ihrer Großväter zu rekonstruieren, wird bei Einwohnermeldeämtern vorstellig und kontaktiert frühere Arbeitgeber der Großeltern und Eltern, um ein möglichst lückenloses Bild zu bekommen. Man könnte diese akribische Nachforschung als Stines Selbstheilungsprozess betrachten.

Neben der vordergründigen Geschichte um Stine wird auch allzu deutlich, dass es viele Dinge in der DDR gab, die es offiziell nicht geben durfte. Kriminalität, Kindesmisshandlung, rechtes Gedankengut - das soll es im besseren Deutschland nicht gegeben haben. Und dann gab es Dinge, von denen man heute lieber nicht mehr wissen möchte, dass es sie gab, wie die Jugendhöfe, Erziehungsanstalten für Kinder und Jugendliche, die nicht in die gängige Schublade passten. Eine umfassende Aufarbeitung fand bislang nicht statt.

Anne Rabe hat ein sehr spannendes, fesselndes Buch über eine völlig verkorkste Familie geschrieben. Dass diese Familie in der Post-DDR-Zeit lebt, erachte ich hinsichtlich der Missbrauchshandlung als zweitrangig. Natürlich hat diese Tatsache grundsätzlich Biografien beeinflusst. Allerdings hat es nicht das Verhalten der Mutter verursacht. Sie ist einfach ein Mensch mit einem maximal schlechten Charakter. Das kommt in allen Gesellschaften vor. Es ist aber ein komplexes, vielschichtiges Buch, das nicht auf den Mutter-Tochter-Konflikt reduziert werden sollte. Zu einem späteren Zeitpunkt werde ich den Roman noch einmal lesen, vielleicht hat dann ein anderer Aspekt für mich mehr Priorität. Mich hat der Roman nachdrücklich beeindruckt. Aber man braucht starke Nerven dafür, es ist definitiv kein Wohlfühlbuch.