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eight_butterflies

Bewertungen

Insgesamt 22 Bewertungen
Bewertung vom 20.07.2025
Schattengrünes Tal
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


sehr gut

Ich weiß nicht, wann mich ein Buch zuletzt so langsam, aber eindringlich in seinen Bann gezogen hat wie „Schattengrünes Tal“ von Kristina Hauff. Es war kein lautes „Wow“ nach den ersten Seiten, sondern eher dieses Gefühl, dass sich etwas anbahnt. Etwas, das man nicht benennen kann, aber spürt. Und genau das liebe ich an Geschichten, wenn sie sich nicht aufdrängen, sondern still unter die Haut kriechen.
Lisa war für mich sofort greifbar. Eine Frau, die still mitarbeitet, Verantwortung übernimmt, sich für andere aufopfert, aber nie wirklich im Mittelpunkt steht. Ich habe mich an vielen Stellen in ihr wiedergefunden. Dieses Gefühl, alles am Laufen zu halten, aber trotzdem übersehen zu werden, das hat mich wirklich berührt. Vor allem in der Beziehung zu ihrem Vater, der ihr zwar vertraut, sie aber nie ganz ernst nimmt. Und dann ist da Simon, ihr Mann, der sich mehr und mehr entzieht, in Gedanken und später auch emotional. Auch das kennt man vielleicht, wenn sich der Mensch neben einem langsam entfernt, ohne dass man es gleich merkt.
Und dann kommt Daniela. Und alles kippt.
Anfangs fand ich sie sogar spannend, diese Frau, die plötzlich da ist, im Hotel bleibt, mit allen gut klarzukommen scheint. Ich dachte, vielleicht tut so jemand Lisa sogar gut. Aber das hat sich schnell geändert. Ich hatte ständig ein mulmiges Gefühl beim Lesen. Wie Daniela sich in Lisas Leben schiebt, bei ihrem Vater einschmeichelt, sogar Simons Nähe sucht. Das war so geschickt geschrieben, dass ich manchmal selbst nicht wusste, ob ich mir das nur einbilde. Diese Manipulation geschieht so leise, so unterschwellig, dass man als Leserin genauso in Zweifel gerät wie Lisa selbst. Und das ist das Großartige an diesem Buch. Es lässt einen nicht außen vor, es macht einen zum Teil des Ganzen.
Kristina Hauff hat es geschafft, mich mit einer sehr ruhigen, klaren Sprache komplett in diese Welt zu ziehen. Ich konnte das Hotel richtig vor mir sehen, ein bisschen heruntergekommen, voller Erinnerungen. Der Schwarzwald mit seiner Düsternis, den Nebeln, den stillen Wegen, perfekt für die Art Geschichte, die hier erzählt wird. Ich war beim Lesen tatsächlich oft selbst wie in einem dunklen Tal. Ich wollte raus, aber konnte nicht aufhören weiterzugehen.
Was mir besonders gefallen hat, war die Mehrstimmigkeit. Die Kapitel aus der Sicht von Lisa, Carl, Margret und Simon geben dem Ganzen eine Tiefe, die es noch eindringlicher macht. Ich habe niemanden hundertprozentig gemocht oder abgelehnt, selbst Daniela nicht. Und gerade das hat mich emotional so gepackt. Diese Grautöne, dieses Menschliche, das manchmal so unbequem ist.
Für mich ist „Schattengrünes Tal“ kein klassischer Spannungsroman. Es ist ein psychologisches Kammerspiel, das sich in einen hineinbohrt und lange bleibt. Eine klare Empfehlung für alle, die Geschichten mögen, die zwischen den Zeilen wirken. Und die sich nicht scheuen, auch mal unangenehm nah heranzukommen.

Bewertung vom 12.07.2025
Treppe aus Papier (eBook, ePUB)
Szántó, Henrik

Treppe aus Papier (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Es gibt Bücher, die einen still begleiten. Leise, unaufgeregt, aber tief. „Treppe aus Papier“ von Henrik Szántó gehört für mich genau in diese Kategorie. Der Roman hat mich auf eine ganz eigene Weise berührt, vielleicht gerade, weil er nicht laut ist, sondern nachhallt. Und weil er eine Frage stellt, die mich nicht mehr loslässt: Was würde ein Gebäude erzählen, wenn es könnte?
Die Entscheidung, das Haus selbst als Erzähler auftreten zu lassen, fand ich zunächst ungewohnt. Der Einstieg war für mich eher vorsichtig. Ich musste mich an diese raumbezogene, fast zeitlose Perspektive erst gewöhnen. Aber je weiter ich las, desto mehr ergab alles Sinn. Die Geschichte ist nicht linear. Vergangenheit und Gegenwart überlagern sich, verschränken sich an bestimmten Orten, wie in einem Echo, das durch die Wände klingt.
Besonders beeindruckt hat mich die Figur der Irma, als Kind im Nationalsozialismus groß geworden, mit all den Zwängen, den Schuldgefühlen, dem Schweigen. Und dann die Begegnung mit der 15-jährigen Nele, die heute mit ihren Eltern in der Wohnung lebt, die einst Ruth Sternheim gehörte, Irmas jüdischer Freundin. Diese generationsübergreifende Verbindung, dieses vorsichtige Annähern der beiden, das ist so feinfühlig erzählt, dass ich mehr als einmal schlucken musste.
Nele ist eine Figur, die ich sofort mochte. Klug, aufmerksam, unbequem, im besten Sinne. Ihre Fragen sind nicht naiv, sondern mutig. Und sie stellt sie dort, wo viele lieber schweigen würden, nämlich in der eigenen Familie. Die Ablehnung, die ihr da entgegenschlägt, hat mich wütend gemacht und gleichzeitig daran erinnert, wie schwer es manchmal noch heute ist, über die eigene Geschichte zu sprechen. Oder über das, was verschwiegen wurde.
Sprachlich ist das Buch etwas Besonderes. Kein übertriebener Pathos, kein pädagogischer Zeigefinger, stattdessen eine poetische, fast träumerische Sprache, die dennoch klar bleibt. Ich habe viele Stellen zweimal gelesen, weil sie in wenigen Sätzen so viel sagen. Es sind oft die kleinen Beobachtungen, die einen treffen. Eine Bewegung, ein Blick, ein Satz zwischen den Zeilen.
„Treppe aus Papier“ ist ein Buch über Erinnerung, über Verantwortung und über die Macht der Orte. Es zeigt, dass Geschichte nicht abgeschlossen ist, sondern weiterlebt, sich einschreibt in Wände, Böden, Menschen. Für mich war es nicht nur eine Lektüre, sondern eine Erfahrung. Und eine Einladung, eigene Fragen zu stellen an das, was war. Und an das, was daraus geworden ist.

Bewertung vom 10.06.2025
Der Schlaf der Anderen
Noort, Tamar

Der Schlaf der Anderen


ausgezeichnet

Schon nach den ersten Seiten war mir klar, dass mich dieses Buch auf ungewöhnliche Weise bindet. Die feinfühlige Annäherung an zwei Frauenleben, die unterschiedlicher kaum sein könnten und sich doch auf eine Weise begegnen, die zutiefst berührt, zog Parallelen zu meinem eigenen Lebensverlauf.
Sina, die im Alltag zwischen Mutterrolle und Lehrberuf fast zerbricht, landet in einem Schlaflabor, weil sie seit Jahren nicht mehr zur Ruhe kommt und nachts nicht in den Schlaf findet. Janis ist die Nachtwache in ebendieser Klinik, lebt in einem selbstgewählten Rhythmus fernab vom Gewohnten aber auch fernab von echter Nähe. Als sich die beiden in einer Nacht begegnen, beginnt eine leise, aber intensive Freundschaft, die beiden den Anstoß gibt, eingefahrene Wege zu hinterfragen.
Was mich besonders überzeugt hat, ist die große Authentizität der beiden Hauptfiguren. Man merkt sofort, dass die Autorin ihnen mit viel Empathie und einem genauen Blick begegnet. Die Themen, die sie aufgreift sind Schlaflosigkeit, Erschöpfung, gesellschaftliche Erwartungen an Frauen, aber auch die heilende Kraft echter Verbundenheit. Und dies nah an der Lebensrealität vieler Lesender. Dabei gelingt es der Autorin, all das weder dramatisch aufzubauschen noch zu verharmlosen. Stattdessen bleibt sie ganz nah bei ihren Figuren und gibt ihnen Raum, sich zu entwickeln.
Sprachlich ist der Roman ruhig und unaufgeregt, klar und sehr stimmig und in einer besonderen Weise fesselnd. Sehr überzeugend fand ich die Verbindung von inneren Zuständen und dem Motiv des Schlafs, der Schlaf als Sehnsuchtsort, als Spiegel der Seele, als Symbol für Loslassen oder Festhalten.
Ein stilles, eindringliches Buch über Erschöpfung, Aufbruch und die Kraft unerwarteter Begegnungen. Für alle, die sich manchmal selbst verlieren und wiederfinden wollen. Eine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 10.06.2025
Sputnik
Berkel, Christian

Sputnik


ausgezeichnet

In „Sputnik“ erzählt Christian Berkel die Lebensgeschichte eines Mannes, der auf der Suche nach seiner Identität ist, erzählt durch die Stimme seines fiktiven Alter Egos Sputnik. Geboren im Jahr 1957, zur Zeit des Starts des sowjetischen Satelliten, wird Sputniks Leben von familiären Spannungen, historischen Ereignissen und der eigenen künstlerischen Entwicklung geprägt. Der Roman gliedert sich in drei Abschnitte.
In der Kindheit lebt Sputnik mit seiner Mutter Sala, einer Halbjüdin mit von den Nazis geprägter Vergangenheit, und seinem Vater Otto, einem ehrgeizigen, aber strengen Arzt. Die Nachwirkungen von Krieg und Exil lasten schwer auf der Familie und prägen Sputniks frühes Leben. Früh fasziniert vom Theater, erwacht in ihm der Wunsch, Schauspieler zu werden.
Als junger Erwachsener zieht es ihn nach Frankreich, ein Sehnsuchtsort, an dem er Freiheit und Zugehörigkeit sucht. Doch auch dort bleibt er ein Fremder. Diese Erfahrung bringt ihn zurück nach Berlin.
Im dritten Teil schildert Sputnik seinen Weg als Schauspieler in Deutschland. Zwischen Proben, Regiekonzepten und privaten Beziehungen verschwimmen die Grenzen zwischen Bühne und Realität. Immer wieder taucht die Vergangenheit auf, in der Familie, im Erbe der Eltern, in alten Freundschaften. Die Grenze zwischen Fiktion und Biographie verschwimmt. Was war wirklich? Was ist Erinnerung? Was Fiktion?
Die Schilderungen der Kindheit sind atmosphärisch und berührend. In der Mitte verliert das Buch für mich etwas seinen Fokus. Die Ausflüge in Drogen- und Sexualerfahrungen wirken stellenweise unnötig ausgedehnt und hätten nicht in dieser Detailliertheit erzählt werden müssen. Das wirkt eher distanzierend, vielleicht weil genau hier deutlich wird, wie sehr Berkel sich über sein Alter Ego Sputnik auch schützt.
Der Roman ist weniger eine klassische Erzählung mit stringenter Handlung als vielmehr ein Versatzstück aus Erinnerungen und Reflexionen. Besonders eindrucksvoll gelingt es Berkel, seine Sprache klar und zugleich poetisch zu halten. Man spürt seine Erfahrung als Schauspieler in den Bildern, in der Beobachtungsgabe, in der Fähigkeit, auch Unsagbares anzudeuten bzw. auch mal präzise auszusprechen.
Die Begegnungen mit alten Bekannten aus den ersten beiden Teilen der Trilogie „Der Apfelbaum“ und „Ada“ schlagen nachvollziehbare Brücken. Besonders gelungen finde ich die Szene rund um das gemeinsame Schauen der Serie „Holocaust“, in der sich verschiedene Generationen und ihre Sichtweisen auf Vergangenes reiben. Hier blitzt das eigentliche Potenzial des Buches auf, zu zeigen, wie Erinnerung funktioniert, wie sie verhandelt, verteidigt, verschwiegen wird.
Was bleibt, ist ein zwiespältiger Eindruck. Das Buch ist sprachlich sehr stark, inhaltlich stellenweise aber etwas ausufernd. Bei aller mutigen Offenheit und den teilweise auch mitreißenden Passagen kann mich das Buch im Gegensatz zu den Vorgängerromanen nicht ganz abholen.

Bewertung vom 26.05.2025
Perlen
Hughes, Siân

Perlen


ausgezeichnet

„Perlen“ ist eine fragmentarische Erzählung über das belastete Leben von Marianne, das durch das Verschwinden der Mutter früh erschüttert wird. Wie Perlen reiht die Autorin Bruchstücke zusammen, welche die Auswirkungen der Ereignisse aus Mariannes Leben zusammensetzen und die Marianne als Erinnerungen durchs Leben treiben. In Rückblicken, aufgereiht wie Perlen, und poetisch verdichteten Erinnerungen folgt der Roman Mariannes Entwicklung von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Sie versucht, mit dem unerklärlichen Verschwinden der Mutter umzugehen, gleichzeitig die Verantwortung für ihren jüngeren Bruder zu tragen und sich in einer Welt zurechtzufinden, die sie zunehmend als fremd empfindet. Besonderes Gewicht erhält das mittelalterliche Gedicht „Pearl“, das Mariannes Mutter liebte und das Marianne später als eine Art seelische Verbindung zu ihr begreift. Die Suche nach Bedeutung, nach Antworten und innerem Halt zieht sich wie ein stiller Strom durch die gesamte Erzählung. Als Marianne selbst Mutter wird, beginnen sich die Bruchstücke ihrer Erinnerung und die offenen Fragen zu fügen.
Was bleibt von diesem Leben nach dem großen Verlust, prägt dieses melancholische Buch, das durch die beschriebenen Erinnerungen in sich wirkt, fast leisetretend, mit Zwischentönen. Die Autorin kommt ohne Drama aus, schreibt zurückhaltend und dezent. Die feine Sprache, die Stimmungen fast ziseliert, lassen mich beim Lesen schwimmen und mich treiben in der Geschichte. Die Charaktere sind ausnahmslos glaubwürdig herausgeschält, mit großer Sensibilität und psychologischer Tiefe.
Rundum lesenswert!

Bewertung vom 30.04.2025
Wut und Liebe
Suter, Martin

Wut und Liebe


ausgezeichnet

Martin Suter ist einer der größten Erzählkünstler und er beweist dies mit seinem neuen Roman erneut. Wieder legt er ein Werk vor, das eigenständig für sich steht und welches ähnlich wie zuletzt „Melody“ wendungsreich und unaufgeregt erzählt. Das Buch bewegt, macht nachdenklich und bleibt auf angenehm unspektakuläre Weise spannend.

Als seine große Liebe Camilla ihn verlässt, weil sie ihn und seine brotlose Kunst nicht weiterhin zu finanzieren gedenkt, stürzt Noah in eine tiefe Krise. Camilla sucht ihr Glück in einem Leben, das Wohlstand und Sicherheit verspricht. Noah, verlassen und verzweifelt, trifft auf Betty, eine wohlhabende, ältere Witwe, die sich nicht nur nach Trost, sondern auch nach Rache sehnt. Aus dieser Begegnung entwickelt sich ein riskantes Arrangement, das Noahs ohnehin schon wackeliges Leben endgültig ins Wanken bringt.

Suters Stil ist gewohnt präzise und gelassen. Er erzählt die Geschichte mit ruhiger Hand, aber großer innerer Spannung. Die Zerrissenheit des Protagonisten Noah und seiner Bekanntschaft Betty pflegt der Autor sprachlich sehr gut aus, so dass sie in ihren Schwächen glaubhaft dargestellt sind. Die beiden starken, widersprüchlichen Gefühle Wut und Liebe bleiben immer zwei Seiten der Medaille und werden von Suter zugleich so aufbereitet, dass sie in ihrem Vermögen stark zu binden bedeutsam werden.

“Wut und Liebe“ ist vielleicht nicht Suters raffiniertester Roman, aber sicher einer seiner unterhaltsamsten. Zwischen leiser Melancholie und scharfsinnigem Witz changierend, zeichnet er ein Bild von Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben und davon, wie leicht man sich auf diesem Weg selbst verliert.

Bewertung vom 19.04.2025
Verheiratete Frauen
Campos, Cristina

Verheiratete Frauen


ausgezeichnet

„Verheiratete Frauen“ ist ein bemerkenswert kraftvolles Porträt dreier Frauen, die sich inmitten der Konventionen ihres bürgerlichen Lebens wiederfinden. Jede ebnet ihren eigenen Schlängelpfad der Emanzipation. Gabriela, Silvia und Cosima kämpfen jeweils auf eigene Weise und gemeinsam als Freundinnen gegen das Gefüge aus Rollenbildern, gesellschaftlichen Erwartungen und innerer Leere an. Die Autorin macht den Roman zu einer authentischen, erschreckend ehrlichen und aufrichtigen Weiblichkeitsoffenbarung und zu einer Hommage an die Freundschaft zwischen Frauen.

Gabriela, eine verheiratete Journalistin und das Zentrum der Geschichte, begibt sich nach Jahren der familiären Routine in eine Affäre mit einem Mann, dessen Präsenz sie über Jahre hinweg nie ganz losließ. In ihren Begegnungen entfaltet sich nicht nur die pure erotische Spannung zwischen zwei Menschen, sondern auch ein Ringen um Selbstbestimmung. Ihre Geschichte steht sinnbildlich für eine innere Zerrissenheit zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Bindung und Selbstverwirklichung sowie zwischen der Errungenschaft der Liebe und der Wahrhaftigkeit des Begehrens.
Silvia, ebenfalls verheiratet und Mutter zweier Kinder, steht vor einer nicht weniger tiefgreifenden Erkenntnis, dass ihre Liebe nicht dem Mann an ihrer Seite, sondern Frauen gilt. Eine Wahrheit, die sie sich erst schmerzhaft erkämpfen muss.
Cósima wiederum ist in einer Welt des Wohlstands und der gesellschaftlichen Etikette gefangen, eine Welt, die kaum Raum für Emotionalität oder Verletzlichkeit lässt.

Thematisch entfaltet der Roman eine beeindruckende Bandbreite. Fragen nach Muttersein, Partnerschaft, körperlicher Selbstbestimmung, gesellschaftlicher Zugehörigkeit und seelischer Integrität werden ebenso berührt wie die großen Themen von Liebe, Freundschaft und Verrat. In der Tiefe spüre ich Cristina Campos’ Engagement für weibliche Stimmen, für deren Sichtbarkeit und Verletzlichkeit, was sie auf bewegende Weise zum Ausdruck bringt.

Cristina Campos’ Stil ist atmosphärisch dicht und in meinen Augen Zeugnis einer Intimität im Umgang mit ihren Figuren. Ihre Sprache ist klar, bleibt stets durchzogen von einem feinen Gespür und setzt bewusst pointierte Akzente. Die Autorin formuliert zuweilen die körperlichen Situationen explizit aus, fast schmerzhaft deutlich, entlang der Schamgrenze und laut vordringlich. Die Erzählweise erinnert mitunter an ein filmisches Erzählen mit Szenen beinahe cineastischer Qualität. Besonders hervorzuheben ist, dass Campos es versteht, explizite sexuelle Szenen nicht zum Selbstzweck zu stilisieren. Vielmehr dienen sie als Spiegel innerer Prozesse, als Ausdruck unterdrückter Sehnsucht, als Akt der Rebellion oder auch als stille Bitte um Anerkennung. So wird Sexualität nicht als Klischee, sondern als Teil weiblicher Identität behandelt. Schonungslos ehrlich und authentisch.

Ein Roman, der die Varianz weiblichen Erlebens auf meisterhafte Weise einfängt.

Bewertung vom 17.04.2025
Wo wir uns treffen
Hope, Anna

Wo wir uns treffen


ausgezeichnet

Anna Hope legt einen Roman vor, der mich nicht kalt gelassen hat und sich nicht nebenbei lesen lässt, der mich auch gefordert hat. Die Autorin thematisiert eine gespaltene Familie, die Frage nach Schuld, Vergebung und historischer Verantwortung. Schauplatz ist ein weitläufiges Anwesen in der ländlichen Idylle von Sussex. Hier spielen sich die alte Konflikte ab, Verletzungen und ungelöste Fragen drängen an die Oberfläche. Es kommt zur Zerreißprobe innerhalb der Familie.
Aus Anlass des Todes des Familienpatriarchen Philip Brooke finden sich seine drei erwachsenen Kinder Franny, Milo und Isa ein, ebenso die Mutter Grace. Die äußere Handlung kreist um die Organisation der Beerdigung und die Regelung des Erbes. Im Inneren entfaltet sich ein Geflecht aus familiären Spannungen, verdrängten Erinnerungen und ungeklärten Lebensentscheidungen.
Franny will das Land weiter renaturieren, ein Projekt, das sie zuletzt mit ihrem Vater verband. Milo hat ganz andere Pläne, denn er möchte mithilfe eines Geschäftspartners ein exklusives Therapiezentrum errichten, das auf die Behandlung mit Psilocybin, dem Wirkstoff aus psychedelischen Pilzen, setzt. Isa wiederum hadert mit ihrem privaten Leben und ihrer Rolle in der Familie. Besonders pikant ist die überraschende Ankunft von Clara, der Tochter von Philips langjähriger Geliebter in den USA. Ihre Nachforschungen zur Herkunft des Familienvermögens werfen unangenehme Fragen auf und konfrontieren die Brookes mit dem kolonialen Erbe ihres Urahnen Oliver Brooke.
Die Geschichte zeigt in atmosphärischen Bildern die äußere Schönheit der Landschaft und kontrastiert sie mit der inneren Zerrissenheit ihrer Figuren. Die Erzählweise ist dabei ausgesprochen detailreich, entschleunigt, manchmal fast meditativ. Ich musste mich darauf einlassen, was mir nicht immer leichtgefallen ist. Manchmal hätte ich mir mehr Dynamik gewünscht. Wer schnelle Handlungsbögen erwartet, wird hier in diesem Buch nicht fündig. Gerade diese Langsamkeit verlangte mir beim Lesen einiges an Geduld und Konzentration ab. Der Roman lebt eher von der Tiefe seiner Figuren und der latent anhaltenden knisternden Spannung zwischen ihnen.
Insgesamt ist das Buch eine feinfühlige Erzählung über menschliches Scheitern, über Generationenkonflikte und über den schwierigen Umgang mit Verantwortung. Mitunter moralisiert die Autorin für mich zu überdeutlich und überzeichnet die Figuren. Trotz dieser kleinen Schwächen ist „Wo wir uns treffen“ ein lesenswerter Roman. Er verlangt Zeit und Aufmerksamkeit, ist dafür aber reich an Nuancen.

Bewertung vom 30.03.2025
Leben und Sterben
Buyx, Alena

Leben und Sterben


ausgezeichnet

In ihrem Buch „Leben und Sterben“ widmet sich Alena Buyx den zentralen Fragen der Medizinethik und beleuchtet die moralischen Herausforderungen, mit denen wir im Laufe unseres Lebens unweigerlich konfrontiert werden. Als renommierte Medizinethikerin und ehemalige Vorsitzende des Deutschen Ethikrats bringt sie nicht nur profundes Fachwissen, sondern auch eine bemerkenswerte Fähigkeit zur verständlichen Vermittlung komplexer Themen mit.
Das Buch ist klar strukturiert und gliedert sich in große Themenbereiche, die von der Entstehung neuen Lebens über medizinische Entscheidungen in Krankheit und Alter bis hin zur Auseinandersetzung mit dem Tod reichen. Besonders eindrucksvoll sind die Fallbeispiele aus der Praxis, die nicht nur theoretische Überlegungen illustrieren, sondern die Leser*innen in konkrete ethische Dilemmata eintauchen lassen. Buyx gelingt es, diese Fälle sensibel und respektvoll darzustellen, sodass keine vorschnellen Urteile gefällt werden, sondern eine differenzierte Reflexion angeregt wird.
Ein herausragendes Merkmal des Buches ist die ausgewogene Darstellung unterschiedlicher Perspektiven. Buyx bietet keine einfachen Antworten, sondern lädt dazu ein, eigene Positionen zu entwickeln. Dabei bleibt sie stets zugänglich und verständlich, ohne an wissenschaftlicher Präzision einzubüßen. Besonders spannend ist ihre Auseinandersetzung mit aktuellen Entwicklungen wie dem Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Medizin oder den ethischen Implikationen neuer Technologien.
Der Schreibstil der Autorin ist angenehm klar und empathisch, wodurch auch Laien problemlos Zugang zu den komplexen Fragestellungen finden. Trotz der Tiefe der behandelten Themen wirkt das Buch nie überfordernd oder trocken, sondern bleibt durchgehend fesselnd und regt zum Nachdenken an. Die kurzen Unterkapitel ermöglichen es zudem, das Gelesene zu reflektieren und zu verarbeiten.
„Leben und Sterben“ ist ein äußerst gelungenes Werk, das sowohl informativ als auch tief berührend ist. Es leistet einen wertvollen Beitrag zur ethischen Debatte und hilft den Leser*innen, sich mit den fundamentalen Fragen des Menschseins auseinanderzusetzen. Wer sich für die Schnittstelle zwischen Medizin, Ethik und Gesellschaft interessiert, findet in diesem Buch eine kluge, inspirierende und bereichernde Lektüre. Eine klare Empfehlung.

Bewertung vom 09.02.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


ausgezeichnet

Mit „Bis die Sonne scheint“ entfaltet sich ein ebenso feinfühliges wie eindringliches Porträt einer Familie, die auf großem Fuße und einst in gesicherten Verhältnissen lebte, doch nach dem Scheitern der unternehmerischen Bestrebungen des Vaters in eine finanzielle Abwärtsspirale gerät. Im Mittelpunkt steht der junge Daniel, dessen Lebensrealität von zunehmenden Entbehrungen geprägt ist, während die Familie verzweifelt versucht, nach außen hin den Schein eines intakten Daseins zu wahren.
Der Roman überzeugt nicht allein durch die detailreiche Schilderung des gegenwärtigen Schicksals der Familie, sondern auch durch die kunstvolle Verflechtung mit der Vergangenheit der Eltern und Großeltern, die von den Entbehrungen und Traumata des Zweiten Weltkriegs gezeichnet ist. Auf diese Weise gelingt es dem Autor meisterhaft, die subtilen Mechanismen familiärer Prägung sichtbar zu machen und aufzuzeigen, wie Vergangenes nachwirkt und künftige Generationen formt.
Mit großer psychologischer Tiefe und nuancierter Beobachtungsgabe fängt der Autor die inneren Kämpfe und unerfüllten Sehnsüchte der einzelnen Familienmitglieder ein. Er zeigt auf, wie Vernunftbegabung abhanden kommt, wenn der Pleitegeier über dem eigenen Dach fliegt und wie das Ignorieren der realen finanziellen Schieflage hilft, den historisch geprägten, über Eigentum und Wohlstand definierten Selbstwert zu erhalten. Daher ist der Titel entscheidend gut gewählt, wenn die Familie der Zwangsversteigerung entfliehend in den Süden fährt, „bis die Sonne scheint“. Die stetig wachsenden finanziellen Nöte werden von einer unerschütterlichen Fassade begleitet, hinter der sich nicht nur eine Täuschung des sozialen Umfelds verbirgt, sondern auch eine Selbstillusionierung der Familie, sogar gegenüber den beiden Großmüttern. Insbesondere die Perspektive des Protagonisten Daniel, dessen Blick zwischen kindlicher Hoffnung und der ernüchternden Realität changiert, verleiht dem Roman eine besondere Intensität.
Der Roman kommt ohne spektakuläre Wendungen aus, entfaltet seine Wirkung jedoch durch die feinsinnige Charakterzeichnung und die überzeugende Zeitkolorit der 1980er Jahre. Diese atmosphärische Darstellung der geschilderten Epoche geht unter die Haut ob ihrer Authentizität und lässt beim Lesen mental und emotional durch und in die Zeit reisen. Besonders berührend ist das Nachwort des Autors, in dem er offenbart, dass große Teile der Handlung autobiografische Züge tragen – eine Erkenntnis, die dem Werk im Nachhinein eine noch tiefere Authentizität verleiht.
„Bis die Sonne scheint“ ist eine eindrucksvolle Reflexion über familiären Zusammenhalt, soziale Konventionen und den Versuch, unter widrigen Umständen die eigene Würde zu bewahren. Eine unbedingte Leseempfehlung für all jene, die literarische Familiengeschichten mit psychologischer Raffinesse und historischem Tiefgang zu schätzen wissen.