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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 762 Bewertungen
Bewertung vom 29.01.2021
Die Anthropologie der Umweltzerstörung
Verbeek, Bernhard

Die Anthropologie der Umweltzerstörung


ausgezeichnet

„Die vielfältigen Quellen, aus denen das destruktive Verhalten der Umwelt gegenüber gespeist wird, aufzudecken, ist vorrangiges Ziel dieses Buches.“ An diesem Zitat wird eines deutlich: Bernhard Verbeek macht da weiter, wo Hoimar von Ditfurth 1989 aufgehört hat. Ähnlich wie von Ditfurth geht Verbeek interdisziplinär an die Themen heran. Ein parzelliertes Wissenschaftssystem mag Konflikte minimieren, es wird dem Wesen der Natur aber nicht gerecht.

Autor Verbeek ist Naturwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Biologie und betrachtet das Thema Umweltzerstörung vor dem Hintergrund der Evolution. Er lehrte bis 2004 an der Universität Dortmund und ist ein Aufklärer wie von Ditfurth. Das Buch gliedert sich in die drei Teile „Eigenheiten der Evolution“, „Eigenheiten des Menschen“ und „Evolution auf der Metaebene“. Die Parabel am Schluss des Buches bringt die Situation des Menschen auf den Punkt.

Im ersten Teil erläutert Verbeek Grenzen der Erkenntnis und geht auf die Evolutionäre Erkenntnistheorie ein. Diese ist verknüpft mit Namen wie Lorenz, Vollmer und von Ditfurth. Verbeek führt hier auch Maturana und Varela auf, die meines Erachtens wegen ihres konstruktivistischen Ansatzes eine andere Richtung vertreten („Der Baum der Erkenntnis“). Der evolutionsbiologische Denkansatz bei der Analyse der Umweltzerstörung ist nicht nur hilfreich, sondern unverzichtbar. Ordnung, Gleichgewicht, Kreisprozesse, Wettkampf und Kooperation sind Themen, denen sich Verbeek widmet. Eine Loslösung der Noosphäre von der Materie, wie Teilhard de Chardin sie vorgeschlagen hat, dürfte eine Illusion bleiben.

Der Mensch ist „die Spezies mit dem verheerenden Überlebenserfolg“, so der Autor zu Beginn des zweiten Teils des Buches. Dagegen sind 99,9% aller Arten ausgestorben und die Aussterberate ist heute um ein Vielfaches höher, als zu archaischen Zeiten. Der Energiebedarf ist grenzenlos. Der Erfolg des Menschen hat auch etwas mit seinem asymmetrischen Realitätssinn zu tun. Realisten findet man einer Studie zufolge vorzugsweise bei den Depressiven, denn Wahrheit macht krank. Religion, Illusion und Aberglaube zählen zu den Strategien des Menschen. Dabei wird häufig Koinzidenz mit Kausalität verwechselt. Hinsichtlich der Wertesysteme gilt, dass ein archimedischer Punkt fehlt. Wozu der Mensch fähig ist, wenn ihm (scheinbar) Verantwortung abgenommen wird, machen die Experimente von Milgram deutlich. Illusion, Autorität und Macht können eine gefährliche Symbiose eingehen.

Evolution ist mehr als ein biologisches Phänomen. Verbeek zeichnet im dritten Teil des Buches ein Bild von den Genen bis zu den Ökosystemen. Auch die Kultur ist ein Produkt der Evolution. Der Autor erläutert das (sehr wohl umstrittene) Konzept der Meme. Ob Metavernunft oder eine neue Ethik hilft, ist alles schon diskutiert worden. Es mangelt an Rezepten, wie denn die evolutionsbiologischen Zwänge durchbrochen werden können. So gesehen besteht das Buch auch zu einem großen Teil aus Situationsbeschreibung und Analyse und nur zu einem kleinen Teil aus Vorschlägen, wie wir den Kurs denn verändern können.

Das Buch ist von 1990. Sind wir heute schlauer geworden? Wir sind Weltmeister im Analysieren aber nicht im Lösen von Problemen. Fracking in den USA und demnächst in Deutschland oder der extreme Smog in Peking beweisen das Gegenteil. Zwanzig Jahre später verfügen wir über genauere Daten und erweiterte Erklärungsmodelle, aber von einer Lösung der Auswirkungen der Umweltzerstörung sind wir meilenweit entfernt. Watzlawick sprach einst davon, dass man notfalls die Bewertung eines Problems verändern muss, wenn man ein Problem nicht lösen kann. Das mag für Einzeltherapien in einer psychotherapeutischen Praxis ein wertvoller Tipp sein, im Hinblick auf die globale Umweltzerstörung hilft das nicht.

Bewertung vom 29.01.2021
Genetik für Dummies
Robinson, Tara Rodden

Genetik für Dummies


sehr gut

Wie wird eine Kopie der DNA erstellt? Welche Probleme treten beim Klonen auf? Was ist von der Stammzellenforschung zu halten? Wie ist ein Genetiklabor aufgebaut? Diese und zahlreiche weitere Fragen zur Genetik werden in dem Buch für einen breiten Leserkreis behandelt. Im Kern geht es um Grundlagen und Anwendungsmöglichkeiten der Genetik. Die Autorin ist Dozentin für Genetik an einer amerikanischen Universität und wurde für ihre Vorlesungen mehrfach ausgezeichnet.

Das Buch umfasst knapp 400 Seiten. Die Ausführungen sind verständlich, soweit das bei dieser komplexen Materie möglich ist. Die chemischen bzw. biochemischen Grundlagen werden nicht erläutert. Im Fokus stehen die Vererbung und der Aufbau der DNA. Die Autorin verzichtet auf den üblichen wissenschaftlichen Fachjargon, verwendet aber dennoch zahlreiche Fachbegriffe aus der Genetik bzw. Molekularbiologie. Diese werden im Text und im sechsseitigen Glossar erläutert. Die Erläuterungen im Glossar sind recht kurz gefasst.

Das Buch ist so strukturiert, dass die Leser es nicht vom ersten bis zum letzten Kapitel lesen müssen, sondern der Einstieg ist in jedem Kapitel möglich. Durch Querverweise sind die Kapitel untereinander vernetzt. Daneben gibt es Symbole für wichtige Textpassagen und für Texteinschübe, die übersprungen werden können, wenn man sich lediglich einen Überblick über ein Thema verschaffen möchte. Auch Metainformationen über die Forscher selbst sind besonders gekennzeichnet.

In den ersten beiden Teilen erläutert die Autorin Grundlagen der Genetik (Mendels Regeln, Zellaufbau, DNA-Struktur, Replikation, DNA-Sequenzierung, Transkription, Translation u.v.a.m.) und in den weiteren Teilen Erbkrankheiten, Gentherapien, DNA-Fingerabdrücke und weitere Anwendungen der Genetik. Mit unerwünschten (genetisch bedingten) Nebenwirkungen von Medikamenten beschäftigt sich die Pharmakogenomik. Erforscht werden Testverfahren mit dem Ziel, unverträgliche Medikamente von vornherein zu vermeiden.

Die Autorin setzt sich auch mit ethischen Fragen auseinander, wenngleich das Thema mit zehn Seiten recht kurz geraten ist. So erfahren die Leser z.B., dass Designer-Babys ein Mythos sind und über Eigentumsrechte an Genen gestritten wird. Dass Bakterienstämme so verändert werden können, dass sie in einem Krieg als Waffen eingesetzt werden können, wird nicht angesprochen. Dennoch versteht es die Autorin, auf den Punkt zu kommen. Das Buch kann ich empfehlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.01.2021
Ich beginne zu glauben, dass es wieder Krieg geben wird
Mersch, Peter

Ich beginne zu glauben, dass es wieder Krieg geben wird


sehr gut

Peter Mersch beschreibt dringend zu lösende Probleme der Menschheit und liefert für deren Ursachen mit der systemischen Evolutionstheorie ein erklärungsmächtiges Modell an. Er fordert die bedingungslose Akzeptanz naturwissenschaftlicher Grundprinzipien. Sein Modell beschreibt selbstreproduktive (geordnete) Systeme und geht weit über die Biologie hinaus. Systeme in diesem Sinne sind Lebewesen und Superorganismen (z.B. Unternehmen). Die Systeme streben danach, Kompetenzverluste zu vermeiden und benötigen dafür Ressourcen in Form von Wissen und Energie. Sie verhalten sich nachhaltig gegenüber ihren eigenen Kompetenzen und ausbeutend gegenüber ihrer Umwelt.

Grundlagen für diesen systemischen Ansatz haben u.a. Physiker wie Schrödinger und Hawking geliefert. „Danach [gemeint ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik] nimmt in jedem geschlossenen System die Unordnung oder Entropie mit der Zeit zu …“ [1]. „Das Leben scheint ein geordnetes und gesetzmäßiges Verhalten der Materie zu sein, das nicht ausschließlich auf ihrer Tendenz, aus Ordnung in Unordnung überzugehen [Entropie], beruht, sondern zum Teil auf einer bestehenden Ordnung, die aufrechterhalten bleibt“ [2]. „Nur wenn sie in die gleiche Richtung zeigen [gemeint sind der psychologische, der thermodynamische und der kosmologische Zeitpfeil], sind die Bedingungen für die Entwicklung intelligenter Lebewesen geeignet ...“ [3].

Merschs Theorie ist umfassend; sie steht für ein konsequent evolutionär-systemisches Denken. Sie bietet eine Grundlage für die Kultur- und Sozialwissenschaften, auch wenn Vertreter aus diesen Fachbereichen gewöhnlich mit antibiologistischen Modellen arbeiten. Darwins Evolutionstheorie und Dawkins Theorie der egoistischen Gene lassen sich laut Mersch als Spezialfälle aus der systemischen Evolutionstheorie herleiten. Das Gender-Konzept [4] und die Tabula-rasa-Theorie werden ad absurdum geführt.

Aufschlussreich ist die Einbeziehung von Unternehmen in den Systembegriff. „Selbst gegenüber ihren eigenen Mitarbeitern bringen solche Systeme oftmals kaum mehr Mitgefühl auf, als ein vor einer Meute Raubtiere fliehender barfüßiger Steinzeitmensch gegenüber den Zellen seiner Fußsohlen.“ (41/42) Priorität hat das Überleben des Gesamtsystems. Mersch bringt zahlreiche Beispiele für die Vermeidung von Kompetenzverlusten.

Auf vierzig Seiten bietet Mersch Lösungen gegen die Krisen an, die er im Vorwort beschreibt. Er selbst zweifelt, in Kenntnis der Natur des Menschen, an deren Umsetzbarkeit. Diese Zweifel sind berechtigt. Wegen der Selbstbezüglichkeit müssen seine Vorschläge konform zu seiner eigenen Theorie sein; sie müssen sich an dieser Theorie messen lassen. Soweit die Umsetzung von Lösungen mit Kompetenzverlusten verbunden ist, wird es in einer Demokratie kein Einvernehmen für Änderungen geben.

Autor Mersch kreiert mit seiner systemischen Evolutionstheorie, die er an Beispielen erläutert, eine neue Sicht auf die Welt. Ist die Theorie auch falsifizierbar? Hierzu fehlen Aussagen. Gestört hat mich der düstere Titel des Buches. Dennoch handelt es sich um ein lesenswertes Buch, da neue Gedanken entwickelt werden und das ist heute selten.

[1] Stephen Hawking: „Eine kurze Geschichte der Zeit“, Seite 183
[2] Erwin Schrödinger: „Was ist Leben?“, Seite 122
[3] Stephen Hawking: „Eine kurze Geschichte der Zeit“, Seite 183/184
[4] Volker Zastrow: „Gender“

Bewertung vom 28.01.2021
Denkanstöße 2012

Denkanstöße 2012


gut

Das Buch besteht aus zwölf Essays zu den Themen Philosophie, Kultur und Wissenschaft. Zu den bekannteren Autoren gehören Nelson Mandela, der Theologe Hans Küng und der Publizist Gabor Steingart. Bei den Schriften von Mandela handelt es sich um Auszüge aus älteren Briefen und Gesprächen sowie aus unveröffentlichten autobiografischen Texten aus seiner Zeit im Gefängnis.

In „Eine handliche Geschichte des Universums“ beschreibt Christopher Potter Grundlagen der Kosmologie in einem historischen Abriss von Galileis Relativitätsprinzip bis zu Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie und den kosmologischen Folgerungen. Für Leser, die sich erstmals mit dieser Materie beschäftigen, kann dieser kleine Einstieg hilfreich sein. Anderen Lesern würde ich eher Bücher von John Gribbin, Thomas Bührke, Hoimar von Ditfurth, Brian Greene oder Nigel Calder empfehlen.

Frédéric Lenoirs Ausführungen zu Sokrates, Jesus und Buddha haben mir gefallen, weil der Autor in verständlicher Weise auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten dieser drei Lebenslehrer eingeht. „Und ich meine, alles in allem überwiegen doch Letztere“, so der Autor. Es geht um Glück. Kann der Mensch glücklich sein, wenn der Dreh- und Angelpunkt einer Zivilisation das „Haben“ ist? Muss der Mensch nicht, wenn seine Grundbedürfnisse befriedigt sind, auf eine andere Logik, nämlich die des „Seins“ umschwenken? Der Autor hat sich intensiv mit philosophischen Fragen beschäftigt.

Gabor Steingart thematisiert in seinem Beitrag das Ende der Normalität und meint damit die erkennbaren gesellschaftlichen Veränderungen. „Erstmals wächst eine Generation heran, die nicht wie ihre Vorfahren einem Netzwerk von Beherrschungsverträgen unterworfen ist“, so Steingart zu Beginn seines Essays. „Erst verlieren Familienverbände, Glaubensgemeinschaften und Firmenkulturen ihren Zwangscharakter, dann geraten auch die nächsthöheren Etagen der Gemeinschaft, der Staat und die ihn beherrschenden Parteien, später die Nationen und ihre Beziehungen zu anderen Nationen, in den Sog der Ereignisse.“ In dieses Thema passt das Buch „Der entgrenzte Mensch“ von Rainer Funk, wenn man sich für die psychologische Seite der gesellschaftlichen Veränderungen interessiert.

Hans Küng appelliert in „Anständiges Wirtschaften“ an ethische Traditionen in allen Kulturen. „Menschen, nicht Institutionen, sind moralische Akteure“, so der Autor. Es geht auch in diesem Beitrag um Veränderungen. Hier ist es eher die Rückbesinnung auf Werte, die im Fokus steht. Mit diesem Beitrag kritisiert Küng, und diese Kritik ist nicht neu, schädliche Auswüchse des Kapitalismus.

Fazit: Es wird in diesem Buch nicht primär etwas neues vermittelt, sondern die Leser werden neugierig gemacht, sich mit den angerissenen Themen intensiver zu beschäftigen.

Bewertung vom 28.01.2021
Zug um Zug
Schmidt, Helmut;Steinbrück, Peer

Zug um Zug


sehr gut

„Das De-facto-Handeln ist entscheidend.“

In „Globale Verschiebungen“ diskutieren Helmut Schmidt und Peer Steinbrück Fragen der Weltpolitik. Mit den Einschätzungen von Schmidt zu USA, China, dem Nahen Osten und Europa sollte sich jeder Nachwuchspolitiker beschäftigen. Sie bieten eine Orientierung. Schmidt ist bestens informiert und profitiert von seinen weltweiten Kontakten. Seine Meinung ist sachlich fundiert. Zum Verhalten gegenüber Polen und Russland fordert er: „Das bedarf eines unglaublichen Fingerspitzengefühls bei der politischen Klasse in Berlin.“

Weniger staatsmännisch geht es in den folgenden beiden Kapiteln zu. Steinbrück und Schmidt tauschen Erinnerungen aus der Zeit aus, als Schmidt noch Bundeskanzler war. Abfällige Bemerkungen über Personen unterbleiben. Der Fall der Mauer ist Thema und auch das Verhältnis zu den ehemaligen Ostparteien. „Ich habe zum Beispiel mit großer innerer Missbilligung gesehen … , dass sich alle auf die ehemaligen SED-Leute gestürzt haben; die Blockflöten blieben völlig unbehelligt und waren in manchen Fällen die schlimmeren Opportunisten“, so Schmidt.

Die Autoren greifen Versäumnisse der SPD auf. So wurden lt. Steinbrück z.B. die Integrationsprobleme viel zu lange tabuisiert. „... es hätte die SPD sein müssen, die diese von vielen Bürgern hautnah empfundenen Probleme rechtzeitig, lange vor dieser Buchveröffentlichung [gemeint ist „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin], hätte aufgreifen müssen.“ Reformvorhaben und die Reformfähigkeit der SPD werden diskutiert, das Verhältnis zu Gewerkschaften und Betriebsräten beleuchtet.

Es geht aber auch um ganz andere Themen. Schmidt und Steinbrück plaudern über Fußball, Kunst, Literatur und Philosophie. Steinbrück wünscht sich, dass sich Intellektuelle häufiger in öffentliche Debatten einmischen. Umgekehrt sollten Politiker sich mit der Kunst- und Kulturszene beschäftigen. Im weiteren Gespräch geht es um Macht. Man kann kaum glauben, dass Schmidt das Misstrauensvotum von Oktober 1982 als Befreiung und nicht als Niederlage empfunden hat.

Schmidt und Steinbrück diskutieren die Finanzkrise und die Unterschiede im Hypothekenrecht zwischen USA und Deutschland. Bereits 1998 gab es Überlegungen, den LTCM, einen Hedgefond, pleitegehen zu lassen. Aber Greenspan und McDonough entschieden: „Too big to fail“. In einer ähnlichen Situation befand sich Steinbrück 2007, als es darum ging, ob man eine Düsseldorfer Bank pleitegehen lassen könne.

Die Dialogform hat den Vorteil, dass Gesprächsentwicklungen und die Art des Umgangs deutlich werden. Gemeinsamkeiten und Gegensätze kommen besser zur Geltung. Zudem wirken die Inhalte weniger abstrakt. Die Leser erfahren einiges zum politischen Umfeld und die Gesprächspartner werden transparenter. Wenn das Ziel darin bestand, Politik transparenter zu machen und die Kluft zu den Politikern zu reduzieren, ist das gelungen.

Bewertung vom 28.01.2021
Fürchtet euch nicht
Häusler, Martin

Fürchtet euch nicht


gut

„… Love is the answer“ (John Lennon)

Aus dem Blickwinkel der Evolution hat Angst ihre Berechtigung. Wir wären längst ausgestorben, wenn wir sie nicht kennen würden. Gibt es hinsichtlich der Angst Unterschiede zwischen den Völkern? Sind die Deutschen ängstlicher als die Menschen anderer Nationen? Martin Häusler setzt sich mit diesen Fragen auseinander, indem er zwanzig mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten, darunter Künstler, Manager, Politiker, Wissenschaftler, Sportler, Psychotherapeuten, interviewt. Entstanden ist kein wissenschaftliches Werk, sondern eine Sammlung unterschiedlicher Meinungen zum Thema. Die Ausführungen wirken authentisch.

Die Ursachen von Ängsten sind vielfältig und werden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Neben den evolutionsbedingten Ursachen gibt es weitere. Die Vergangenheit kann einem im Nacken sitzen, Medien tragen mit ihrer (systembedingten) negativen Berichterstattung dazu bei und auch der Erfolgsdruck in Unternehmen und im Spitzensport kann so hoch steigen, dass er Ängste auslöst, um nur Beispiele zu benennen.

Als Lösungen werden u.a. Religionen angeboten. Der Autor lenkt seine Gesprächspartner/innen geradezu in Richtung Glaubensfragen. Dass institutionalisierte Religionen mit ihren Weltbildern gleichzeitig Verursacher von Ängsten sein können, wird nicht reflektiert. Auch bei anderen Themen wären kritische Nachfragen hilfreich gewesen. Entspricht es dem Mainstream der Wissenschaften, dass Biophotonen (entsprechendes gilt für morphogenetische Felder) eine physiologische Bedeutung zukommt?

In dem Buch geben Menschen einen tiefen Einblick in ihr Leben und ihr Denken. Das ist bei diesem Thema nicht selbstverständlich. Die Angst hat auch positive Seiten. Ohne sie wäre Deutschland nicht aus der Atomenergie ausgestiegen. Was hilft gegen Angst? John Lennon hat die Antwort in den 1970er Jahren gegeben ...

Bewertung vom 28.01.2021
Große Physiker
Weizsäcker, Carl Friedrich von

Große Physiker


gut

Carl Friedrich von Weizsäcker beschreibt in seinem Buch die Geschichte der Naturforschung von der antiken Naturphilosophie bis zur modernen Physik des 20. Jahrhunderts anhand der Lehren ihrer bekanntesten Vertreter. Seine Perspektive ist die des Wissenschaftsphilosophen. Er bezieht die griechischen Naturphilosophen in seine Betrachtungen ein, weil er sich davon erhofft, die Entwicklung der Begriffe und damit Zusammenhänge besser zu verstehen. Von Weizsäcker glaubt an eine Vereinheitlichung der Physik und begründet das ausführlich.

Mit Galilei begann die Abkehr vom aristotelischen Denken und damit das Zeitalter der Wissenschaft. Er führte das von einer Theorie geleitete wissenschaftliche Experiment ein und entwickelte Hypothesen, die mit der Alltagserfahrung nicht übereinstimmen. Newton hat in den Naturwissenschaften das erreicht, was den Griechen in der Mathematik gelungen war, nämlich einen strukturierten Aufbau, basierend auf wenigen Axiomen. Seine natürlichen Erklärungen waren so mächtig, dass manche Zeitgenossen (entgegen Newtons eigener Meinung) keinen Raum mehr für eine religiöse Welterklärung sahen. Von Weizsäcker beschäftigt sich mit Kants „Kritik der reinen Vernunft“, relativiert dessen Gedanken aber im Hinblick auf die heutige Physik. Von Weizsäcker bewundert Goethes universellen Geist, seine Art und Weise die Welt zu deuten, wenngleich ihm klar ist, dass heutige Physiker Schüler Newtons und nicht Goethes sind.

Ausführlich geht von Weizsäcker auf die Wegbereiter der neuen Physik, u.a. Albert Einstein, Niels Bohr, Paul Dirac und Werner Heisenberg, ein. Dabei kommen die Auseinandersetzungen zwischen Niels Bohr und Albert Einstein, aus denen Niels Bohr als Sieger hervorging, nicht zu kurz. Einstein konnte sich zeitlebens nicht mit der Aufgabe des klassischen Determinismus und der Reduktion physikalischer Prognosen auf Wahrscheinlichkeiten abfinden, obwohl er selbst an der Entwicklung der Quantentheorie beteiligt war. Der zweite Weltkrieg bewirkte, dass die Freundschaft zwischen Niels Bohr und Werner Heisenberg zerbrach.

„Große Physiker“ ist kein leicht verständliches Buch für den schnellen Überblick, sondern ein aus Vorlesungen, Erinnerungen und Gesprächen zusammengesetztes Werk der Wissenschaftsphilosophie.

Bewertung vom 28.01.2021
Zwischen Neun und Neun
Perutz, Leo

Zwischen Neun und Neun


ausgezeichnet

In diesem Roman geht es um Freiheit. Ob es dabei ausschließlich um die persönliche Freiheit des Protagonisten Stanislaus Demba geht oder symbolisch um die Freiheit der geschlagenen Menschheit, wie es Leo Perutz im Jahre 1921 in der Wiener Arbeiterzeitung angedeutet hat, bleibt der Interpretation der Leser überlassen.

Der Roman ist gleichzeitig schelmisch und tragisch, womit ein großer Leserkreis angesprochen wird. Worum geht es?

In Wien wird der Student Stanislaus Demba von der Polizei verhaftet, als er ein wertvolles Buch, das er gestohlen hat, einem Antiquitätenhändler zum Verkauf anbietet. Der Händler wird misstrauisch und benachrichtigt die Polizei. Demba wird verhaftet und ihm werden Handschellen angelegt. Nach einer kleinen Rangelei entkommt er der Polizei, flüchtet auf den Dachboden des Hauses des Händlers und springt vom Dach. Es ist neun Uhr morgens. Seine Odyssee durch Wien beginnt. Diese für das Verständnis von Dembas Verhalten notwendige Vorgeschichte wird erst in der Mitte des Buches beschrieben.

Demba lässt kein Fettnäpfchen aus, bei seinen Irrungen durch Wien, wo er seine Hände einen ganzen Tag lang versteckt halten muss, um wegen der Handschellen keinen Verdacht zu erregen. Er wird zum Meister der Improvisation und ist um Ausreden nie verlegen. In der ersten Hälfte des Romans dominiert der Schelm Demba.

In der zweiten Hälfte der Geschichte häufen sich die tragischen Situationen. Seine Verzweifelung wächst. Er reizt seine Möglichkeiten aus. Kann er sich aus der Schlinge befreien, die sich langsam um seinen Hals zieht? Die Geschichte beginnt um neun Uhr und sie endet um neun Uhr des gleichen Tages. Sie nimmt ein überraschendes Ende.

Mit diesem Roman hat Perutz einen Klassiker geschrieben, der in keiner Buchsammlung fehlen sollte.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.01.2021
Staat machen!
Tiefensee, Wolfgang / Lindenau, Rainer (Hgg.)

Staat machen!


sehr gut

Wie steht es um die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Dienstes? Einerseits gibt es Zweifel am Leistungsvermögen und an der Innovationskraft öffentlicher Einrichtungen, andererseits sind Reprivatisierungen von Dienstleistungen aus Kostengründen heute kein Tabu mehr. Wolfgang Tiefensee und Rainer Lindenau stellen in Ihrem Buch Vorzeigeprojekte öffentlicher Institutionen vor. Sie tragen mit ihren Ausführungen dazu bei Vorurteile abzubauen. In zahlreichen Projekten aus den Bereichen Bildung, Kunst, Sport, Touristik, Gesundheit, Polizei, Forschung und Justiz wird deutlich, dass die Verantwortlichen zu Spitzenleistungen fähig sind.

Zu Beginn geben die Autoren einen Kurzüberblick über die einzelnen Projekte und erläutern die Erfolgsfaktoren, die sich bei der Analyse der Vorhaben herauskristallisiert haben. Im Hauptteil werden die Projekte ausführlich präsentiert. Die Liste der Beispiele ist lang. Sie umfasst neben der Umstrukturierung der New Yorker Polizei bei der Bekämpfung der Kriminalität, die Kinderpolitik der kleinen Gemeinde Tiftlingerode, die Arbeit des deutschen Kanu-Verbandes, die Kunstausstellungen in Tübingen sowie zahlreiche sonstige kleine und große Projekte.

Bei den Beiträgen handelt es sich um eine Mischung aus Berichten und Interviews. Bei einigen Projekten hätte mich die Einschätzung der Projektgegner interessiert. Es reicht nicht aus zu sagen, dass zum Beispiel der Personalrat dagegen war, ohne das ausführlich zu begründen. Auch haben einige Projekte eine politische Dimension, die es dem Leser schwer macht, sie frei von Parteipolitik zu bewerten. Besonders gefallen haben mir die kleinen Projekte, in denen ein hohes Maß an persönlichem Engagement deutlich wurde.

Der öffentliche Dienst ist besser als sein Ruf. Im Hinblick auf sein Image handelt es sich um ein wichtiges Buch, welches dazu beitragen kann, eine differenzierte Sicht auf öffentliche Dienstleistungen zu entwickeln.