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sleepwalker

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Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 08.11.2021
Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1 (eBook, ePUB)
Mohlin, Peter; Nyström, Peter

Der andere Sohn / Karlstad-Krimi Bd.1 (eBook, ePUB)


gut

„Der andere Sohn” ist der Auftakt zu einer Krimi-Serie des schwedischen Autoren-Duos Peter Mohlin und Peter Nyström. Der Klappentext war vielversprechend, aber leider hielt das Buch nicht ganz das das, was es versprochen hat.
Aber von vorn. 2019 muss der amerikanische FBI-Agent John Adderley nach einem missglückten Undercover-Einsatz mit einer neuen Identität ins Zeugenschutzprogramm. Dass er in sein Geburtsland Schweden zieht, ist nicht ganz regelkonform. Aber sein jüngerer Halbbruder Billy ist in Schwierigkeiten, denn er war 2009 der Hauptverdächtige in einem immer noch ungelösten Kriminalfall. Und jetzt wird der Cold Case um das Verschwinden der Millionärstochter Emelie Bjurwall wieder aufgerollt, von ihr fehlt seit zehn Jahren jede Spur, auch eine Leiche wurde nie gefunden. John heuert bei der schwedischen Polizei an und wird Teil des Ermittlerteams. Hin und hergerissen zwischen der Loyalität zu seinem Bruder, der Abneigung gegenüber seiner Mutter und den Zweifeln an Billys Schuld, stellt er eigene Nachforschungen an und nimmt die Leserschaft mit auf eine spannende Ermittlungsreise mit einem (zumindest für mich) überraschenden Schluss.
Die eigentlichen Protagonisten des Buchs sind der Ermittler John und Heimer, der Vater des verschwundenen Mädchens. Sie sind meiner Meinung nach auch die beiden am besten ausgearbeiteten Charaktere, die anderen sind eher eindimensional und fast lieblos beschrieben. Außerdem fand ich alle Personen sehr plakativ geschildert und keine konnte irgendwelche Sympathiepunkte bei mir gewinnen. Vor allem in Bezug auf John kann ich mit Fug und Recht sagen, dass ich noch selten ein Buch gelesen habe, in dem mir der Ermittler so unsympathisch war, wie er. Er ist zwar sehr intelligent und sicher ein kluger Ermittler, aber er ist auch arrogant und oberflächlich und manchmal konnte ich seine Handlungen absolut nicht nachvollziehen. Oft scheint er nach dem Motto zu handeln „alle blöd außer ich“. Außerdem erfüllt er auch jedes Klischee eines Amerikaners. So kauft er sich als erstes einen amerikanischen Straßenkreuzer, weil ihm der Kleinwagen als Dienstauto zu schlicht ist. Seine Heimatstadt Karlstad ist zwar eine Kleinstadt und sicherlich provinziell, aber er benimmt sich manchmal, als hätte es ihn in ein Entwicklungsland verschlagen.
Alles in allem fand ich den Krimi zwar gut konzipiert, aber thematisch vielleicht ein bisschen zu überladen. Es kommt sehr viel Privates des Ermittlers zur Sprache und auch der missglückte Undercover-Einsatz nimmt im ersten der vier Teile sehr viel Raum ein. Sprachlich ist das Buch gut zu lesen. Die Dialoge fand ich manchmal allerdings ein bisschen hölzern, aber insgesamt ist auch die Übersetzung gelungen.
Der Fall ist am Ende zwar gelöst, aber ein Cliffhanger hält die Spannung hoch und macht Lust auf den Folgeband „Die andere Schwester“. Trotz des unsympathischen Protagonisten und der Tatsache, dass das Buch sehr lang ist und die Spannung lange braucht, um Fahrt aufzunehmen, fand ich es durchaus gelungen und durch die vielen Wendungen etwa ab der Hälfte sehr spannend und der Schluss war für mich eine ziemliche Überraschung. Allerdings reicht das Buch im Genre Scandinavian Noir nicht an die Werke von Henning Mankell, Stieg Larsson oder Jussi Adler-Olsen heran, dafür fehlt die Finesse. Die Idee hinter der Geschichte ist wirklich gut, aber leider hapert es mit der Umsetzung der Serienauftakt ist für mich nicht wirklich gelungen. Vieles ist mir zu platt, klischeehaft und plakativ. Von mir daher drei Sterne.

Bewertung vom 08.11.2021
Die letzte Wahl
Sander, Eric

Die letzte Wahl


sehr gut

„Die letzte Wahl“ ist der Name des Buchs von Eric Sander, der kurz vor der Bundestagswahl erschienen ist. Der düstere Thriller zeigt deutlich die Gefahr eines Rechtstrucks in der Gesellschaft und warnt deutlich davor. Herausgekommen ist ein spannendes Buch, das aufrütteln will, aber auch ein paar Schwächen hat.
Aber von vorn. Durch Zufall wird der Journalist Nicholas Moor im Allgäu-Urlaub mit seiner Tochter Zeuge eines Treffens der Führungsriege der sogenannten „Volkspartei“, die mir ihrem Spitzenkandidaten Markus Hartwig einen „Volkskanzler“ stellen möchte. Der Journalist filmt dieses Treffen zufällig mit einer Drohne und findet sich plötzlich in einer wilden Jagd auf die Speicherkarte und sich selbst wieder und niemand glaubt ihm, wenn er vor den Gefahren warnt und nicht nur er gerät immer tiefer in einen Strudel aus Gewalt und politischem Kalkül. Denn Fakt ist, dass die Partei die Geschichte wiederholen möchte, denn sie plant den Umsturz (wie bereits 1933 geschehen) mithilfe von Fake News. Damals brannte der Reichstag und Notstandsgesetze ermöglichten den Siegeszug der
Nationalsozialisten. Im Buch soll ein angeblicher islamistischer Anschlag auf den Bundestag einen Notstand und damit Notstandsgesetze herbeiführen. Und schnell wird dem Journalisten klar, dass selbst sein Arbeitgeber, das „Abendblatt“, und auch die Polizei schon von der Partei unterwandert werden. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Angesichts der Ergebnisse der Bundestagswahl ist das Buch ist ein Thriller mit erschreckend realistischem Thema. Klar ist natürlich auch, dass die AfD das Vorbild für die „Volkspartei“ ist, denn ihr Vorsitzender Markus Hartwig klingt über weite Strecken exakt wie Björn Höcke. Die Charaktere sind zwar manchmal ein bisschen zu klischeehaft und plakativ, aber alles in allem gut ausgearbeitet und bildhaft beschrieben. Sprachlich fand ich das Buch sehr gut und flüssig zu lesen. Der Autor schafft es, die Spannung kontinuierlich aufzubauen und erzählt seine Geschichte rasant und packend. Manchmal fand ich die Geschwindigkeit fast ein bisschen zu hoch, da überschlagen sich die Ereignisse zu sehr und das geht für mich zu Lasten des ansonsten sehr klug ausgefeilten Konzepts. So kam für mich auch der Schluss etwas zu plötzlich und konnte mich auch nicht wirklich überzeugen. An manchen Stellen fehlte für mich auch die Logik hinter manchen Handlungen und ich konnte sie nicht wirklich nachvollziehen.
Aber alles in allem fand ich das Buch enorm spannend und packend und leider politisch hochaktuell. Von mir daher dreieinhalb Sterne, aufgerundet auf vier.

Bewertung vom 22.10.2021
Tiefrot tanzen die Schatten / Ben Kitto Bd.4
Penrose, Kate

Tiefrot tanzen die Schatten / Ben Kitto Bd.4


ausgezeichnet

„Tiefrot tanzen die Schatten“ ist bereits der vierte Teil der auf den Scilly-Inseln spielenden Krimi-Serie von Kate Penrose. Und auch in diesem Buch, das auf der Hauptinsel St. Mary’s spielt, schafft die Autorin es, einen bodenständigen und enorm spannenden Krimi abzuliefern, den ich kaum aus der Hand legen konnte.
Ben Kitto und sein Team ermitteln im Mordfall der jungen Studentin Sabine, die aus Lettland für einen Job im Hotel auf die Insel gekommen ist. Sie war bei den Gästen beliebt und zudem Mitglied in Bens Freiwasser-Schwimmgruppe. Zwar sieht es zunächst wie ein Selbstmord aus, aber die am Pulpit Rock hängende Tote trägt ein Brautkleid und Blumenschmuck im Haar. Außerdem trägt sie Schmuck, der schon vor einem Jahr aus dem örtlichen Heimatmuseum gestohlen wurde. Die Insel wird abgeriegelt, Häuser und Wohnungen werden durchsucht, und trotzdem stirbt eine weitere junge Frau. Und die Leserschaft befindet sich mit den Ermittlern in einem Wettlauf gegen die Zeit bei einer wilden Jagd auf den Täter, denn jederzeit könnte die nächste Frau verschwinden.
Ben Kitto kannte ich schon aus dem Vorgängerband „Kalt flüstern die Wellen“. Daher habe ich mich auf den neuen Teil der Serie sehr gefreut, man kann das Buch aber auch problemlos ohne Vorkenntnisse lesen. Auch der bodenständige Schreibstil und die tollen Beschreibungen der Autorin hatten es mir schon damals angetan und auch dieses Mal hat sie mich nicht enttäuscht. Die eigentliche Idylle der Insel im Kontrast zu den grausamen Morden schafft eine ganz spezielle Atmosphäre. Auch die Tatsache, dass bei Verbrechen die Insel komplett abgeriegelt wird und keiner sie verlassen kann, schafft fast einen Hauch von Klaustrophobie. Die Charaktere sind genauso gut und bildhaft beschrieben, wie die Landschaft. Die ruhige, zurückhaltende und sachliche Art von Ben Kitto finde ich sehr angenehm, vor allem habe ich mich aber über ein „Wiedersehen“ mit der Chefkriminaltechnikerin Liz Gannick gefreut, die mich im vorherigen Teil schon begeistert hat.
Im Zentrum steht Ben, aus dessen Sicht auch der größte Teil der Geschichte erzählt wird. Von ihm erfährt die Leserschaft auch ein bisschen aus seinem Privatleben. Lily Jago kommt ebenfalls zu Wort. Sie ist nicht nur eine Freundin und Kollegin des ersten Opfers, ihr Bruder Harry ist als Affäre des ersten Opfers auch der erste wirklich Verdächtige in dem Fall. Die Teile, in denen sie im Mittelpunkt steht, sind zur Unterscheidung kursiv gesetzt.
Die Geschichte beginnt mit einem Auftakt rund um das erste Opfer. Wobei der Auftakt für eine Weile der einzige wirkliche Paukenschlag bleibt, denn die folgenden Ermittlungen bringen die Geschichte eher langsam in Fahrt und der Spannungsbogen bleibt eher kontinuierlich flach. Aber mit zunehmender Zahl an Verdächtigen, dem Fortschreiten der Ermittlungen und natürlich mit dem zweiten Opfer steigt die Kurve stark an und die Spannung steigt ins Fingernägel-abknabber-Unermessliche. Der Schluss hat mich vollkommen überrascht, auf diese Auflösung wäre ich nie im Leben gekommen. Alles in allem vergebe ich für diesen wirklich guten Krimi fünf Sterne.

Bewertung vom 21.10.2021
Nach dem Fest ist vor dem Fest
Bergmann, Renate

Nach dem Fest ist vor dem Fest


ausgezeichnet

„Während man noch das Schleifenband aus den Bergen von Kartons und Geschenkpapier sammelt (Das ist doch noch gut! Das kann man prima aufbügeln!), macht man sich schon Gedanken um das nächste Fest.“ – konstatiert Renate Bergmann. Und damit man sich die Gedanken nicht selbst machen muss, hat sie sie sich in ihrem Buch „Nach dem Fest ist vor dem Fest“ für ihre Leserschaft gemacht und dabei 99 Tipps für ein entspanntes Weihnachten zusammengestellt.
Von aufgebügeltem Geschenkpapier und dem richtigen Termin für die Entsorgung des Tannenbaums (bevor die alte Krücke nadelt), hangelt sich die Internet-Omi durch das Planungs-Jahr. Von Anfang Januar bis kurz vors Fest gibt sie mehr oder weniger gute, und vor allem mehr oder weniger neue, Tipps für ein entspanntes Weihnachtsfest. In ihrer gewohnten Art rät sie so, sich frühzeitig Gedanken zu machen, wen man zusammen einladen kann und wen nicht, geschmacklose Geschenke fürs Schrottwichteln aufzuheben und rechtzeitig ein Hotelzimmer für die Gäste von auswärts zu besorgen.
Ob man nun aus der obersten Astgabel des alten Weihnachtsbaums einen Quirl für die Mehlschwitze schnitzen muss, kann ich nicht sagen. Und auch die Aussage, dass der Kräuterschnaps beim Verdauen hilft, könnte von meiner Oma kommen, die so mit meinem Onkel immerhin einen Alkoholiker großgezogen hat. Ebenso eher kritisch sehe ich den Tipp, den Arzttermin wegen des Zuckertests noch vor die Feiertage zu legen, denn „der nächste Termin ist dann erst im Frühjahr, wenn die Plätzchen aus dem Kreislauf sind.“ Und der Tipp, vorher zu kontrollieren, ob die richtige Schallplatte in der richtigen Hülle steckt, ist ebenso nicht mehr ganz zeitgemäß wie die abfällige Bemerkung über Prostituierte („man will ja nicht flimmern wie eine Dirne vom Gewerbe, nich wahr?“) oder, dass sich jeder über gehäkelte Topflappen oder selbstgestrickte Socken freut. Aber ich denke, die Leserschaft weiß, wie sie die Online-Oma und ihre Tipps zu nehmen hat.
Andere Kniffe finde ich hingegen sehr gut und sinnvoll. Die mehrfache Verwendung von Geschenkpapier oder, dass man das Eiweiß vom selbstgemachten Eierlikör für die Kokosmakronen verbrauchen kann und damit keinen Abfall hat. Und dank Frau Bergmann weiß ich jetzt auch, wann man am besten die Gans bestellt (und ein paar Keulen dazu), den Frisörtermin für die festliche Haarpracht macht und dass man älteren Leuten auf keinen Fall etwas aus der Apotheke schenken soll. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass Frau Bergmann mit einem absolut recht hat: „Wenn der Besuch da ist, gibt es eine eiserne Regel: Es wird nicht über Politik gesprochen! Das gehört sich nicht und gibt meist nur Ärger an der Kaffeetafel.“
Für mich war das neue Buch (eigentlich ist es ja nicht viel mehr als ein Büchlein) von Frau Bergmann (also von Torsten Rohde) wieder mal etwas zum Schmunzeln und verstehend Nicken und den einen oder anderen Tipp kann vielleicht sogar ein Weihnachtsmuffel wie ich gebrauchen. Daher bin ich mal auf der Suche nach Zigarrenasche zum Polieren des Silberbestecks und vergebe vier Sterne.

Bewertung vom 19.10.2021
Caravaggios Schatten / Kunstdetektei von Schleewitz Bd.2
Jaumann, Bernhard

Caravaggios Schatten / Kunstdetektei von Schleewitz Bd.2


sehr gut

Nachdem ich Bernhard Jaumanns „Der Turm der blauen Pferde“ gelesen hatte, habe ich mich auf die Fortsetzung dieser sehr speziellen Krimireihe gefreut. Mit „Caravaggios Schatten“ hat der Verfasser einen meiner Meinung nach zwar nicht ganz so guten und packenden Kunst-Krimi wie den Vorgänger abgeliefert, aber dennoch ein lesbares und unterhaltsames Buch.
Alban Posselt teilte sich vor 25 Jahren mit dem Kunstdetektiv Rupert von Schleewitz im Internat ein Zimmer. Plötzlich taucht er durch ein Ehemaligentreffen wieder in Ruperts Leben auf und lädt ihn zu einem Besuch der Gemäldegallerie von Schloss Sanssouci ein. Unvermittelt zieht Alban ein Messer und sticht auf Caravaggios Gemälde „Der ungläubige Thomas“ ein. Er wird verhaftet, das Bild soll restauriert werden. Aber noch auf dem Weg zum Restaurator wird es ge-„artnappt“, also gegen Lösegeld entführt. Bei den Ermittlungen, die Rupert in seine Jugend- und Internatszeit zurückführen, stehen ihm wie schon im ersten Band Klara und Max zur Seite. Und mit ihnen befindet sich die Leserschaft unversehens in einem Strudel aus Ereignissen rund um Kunst und Verbrechen. Was hat die Zeit im Internat mit der Tat zu tun? Und welche Rolle spielt eigentlich Klaras an Parkinson erkrankter Vater wieder?
Die Geschichte an sich fand ich etwas sehr konstruiert und die Handlung wechselte zwischen belanglos und hochspannend hin und her und auch sonst zeigt der Krimi ein paar Schwächen. Dennoch schaffte der Autor es, mich über lange Strecken zu fesseln und ich war wirklich gespannt auf die Auflösung. Die zahlreichen Ermittlungsansätze brachten mich auf jeden Fall zum Mitraten und Mitfiebern, vor allem durch das Katz-und-Maus-Spiel mit den Bilderdieben und der ständig aufflammenden Frage, was denn Albans und damit auch Ruperts Vergangenheit im Internat mit der Messer-Attacke auf das Bild zu tun hat.
Sprachlich ist das Buch bodenständig und eher schlicht, die Charaktere sind auch eher flach und oberflächlich beschrieben. Höchstens bei der Darstellung von Klaras Vater Ivanovic und des Detektei-Mitarbeiters Max konnte der Autor bei mir punkten, eigentlich schaffen es auch nur die beiden wenigstens ein bisschen dreidimensional zu wirken. Der Verfasser scheint den Fall und seine Lösung eher in den Mittelpunkt zu stellen als die Ermittler, was ich ziemlich schade finde, weil da meiner Meinung nach nicht das gesamte Potential ausgeschöpft wurde. Und irgendwie gerät Rupert von Schleewitz trotz seines direkten Bezugs zum Fall sehr an den Rand der Ermittlungen. Die Hauptrollen spielen in diesem Buch ganz eindeutige andere, nicht zuletzt das Gemälde von Caravaggio, über das der Leser sehr viel erfährt.
Ich habe das Buch auf jeden Fall gerne gelesen und war sehr gespannt auf die Auflösung, vor allem, weil ich über weite Strecken absolut keine Ahnung hatte, wohin die Geschichte führen würde. Von mir daher wegen der ab und zu langatmigen Beschreibungen und der im Großen und Ganzen eher unsympathischen Charaktere vier Sterne.

Bewertung vom 11.10.2021
Vati
Helfer, Monika

Vati


ausgezeichnet

„Vati“ heißt der neue Roman von Monika Helfer, mit dem sie ihre Familiengeschichte aus „Die Bagage“ fortsetzt. Zugegeben, ich kannte die Autorin vorher nicht, aber das muss sich ändern. Denn mit „Vati“ hat sie für mich ein wirklich lesenswertes, wenn auch nicht ganz einfaches Werk abgeliefert. In „Die Bagage“ schreibt sie über die Familie mütterlicherseits, in „Vati“ konzentriert sie sich, wer hätte es gedacht, auf ihren Vater. Aber so plump, wie sich dieser Satz von mir liest, ist das Buch natürlich nicht. Ist die Geschichte wahr oder erfunden? „Beides, aber mehr wahr als erfunden.“ – das Erfundene ist vermutlich wichtig für die Annäherung an den Vater, denn in Wirklichkeit weiß sie gar nichts über ihn. Und so versucht sie, sich autofiktional an den besessenen Büchersammler anzunähern und die Lebensgeschichte des Mannes zu rekonstruieren, der sie geprägt hat und der in den 1980ern mehr oder weniger durch seine Bücherleidenschaft mit 67 Jahren zu Tode kam.
Ihr Vater wollte von den Kindern „Vati“ genannt werden, weil er es moderner findet. Und nach dem Krieg waren neue Zeiten angebrochen, auch er will fortschrittlich sein, „einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste“. Dieses „Hineinpassen“ zog sich wohl durch sein ganzes Leben. Als uneheliches Kind einer Magd geboren, war er schon früh ein Außenseiter. Zwar durfte er auf Initiative eines Bauunternehmers und des örtlichen Pfarrers aufs Gymnasium, wurde aber kurz vor dem Abitur zum Kriegsdienst eingezogen. In Russland verlor er durch Erfrierungen ein Bein und verliebte sich im Lazarett in die Krankenschwester Grete, die (als uneheliches Kind) ebenfalls eine Außenseiterin war. Die beiden „Versehrten“ gründeten eine Familie, geprägt von Depressionen und den Traumata der Kriegsgeneration, die auch an den vier Kindern nicht spurlos vorbeigingen.
Neben dem Kriegsopfererholungsheim auf der Tschengla, das er leitete, waren Bücher die wahre Leidenschaft von Monika Helfers Vater. Mit einer Menge Bücher, die er vom dankbaren Vater eines Gastes erbte, richtete er eine Bibliothek ein. Als das Heim von den Besitzern in ein Hotel umgebaut wurde, verlor er, der nach dem Krieg so gerne die Matura gemacht und Chemie studiert hätte, mehr oder weniger alles: seine Existenzgrundlage, seine Bibliothek und beinahe sein Leben durch einen Suizidversuch. Als seine Frau verstarb, verteilte er die Kinder auf die Verwandtschaft. Auch nach seiner Neuvermählung fand die Familie nicht mehr zusammen.
Die Autorin hält ihre Leserschaft stets auf Distanz. Sie liebte es als Kind, wenn ihr Vater mit einem geliehenen Filmprojektor im Speisesaal des Erholungsheims „Kino spielte“ – ähnlich kam ich mir beim Lesen des Buchs vor: wie jemand, der das Leben von anderen auf einer Leinwand sieht. Die Charaktere sind allesamt nur in den Einzelheiten beschrieben, die für die Geschichte wichtig sind. Exakt und auf den Punkt, kein Wort zu viel. So schreibt sie weitgehend emotionslos und nie wertend, manchmal sogar in aller Tragik lustig und voller absurd anmutender Anekdoten. Kompliziert fand ich, da ich „Die Bagage“ nicht gelesen habe, die Zeitsprünge und die vielen Tanten und Onkel in der Geschichte, vor allem, weil jeder zweite Josef zu heißen scheint.
Das Buch ist ein Denkmal für ihren Vater, einen Typ Mann, den es nach dem Krieg zu Tausenden gab. Einen traumatisierten, versehrten Kriegsheimkehrer, der in seinem Trauma und in sich selbst durch Schweigen gefangen zu sein scheint, manchmal aber eine Leidenschaft findet, die ihn glücklich macht und ihm eine Basis für das Miteinander mit anderen bieten kann („Wir hatten ein spezielles Buch-Verhältnis miteinander“). Mich hat das Buch tief berührt und angesprochen. Die viele Distanz im Buch machte mich allerdings traurig, sowohl die Distanz der Charaktere zueinander und die Mauer, die die Autorin zwischen der Leserschaft und den Charakteren zieht, fand ich fast greifbar. Von mir 5 Sterne und eine klare Lese-Empfehlung.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.10.2021
Greenlights
McConaughey, Matthew

Greenlights


weniger gut

„Greenlights oder die Kunst bergab zu rennen“ soll keine Autobiografie des Schauspielers und Oscar-Preisträgers Matthew McConaughey sein, eher ein Liebesbrief an das Leben, zusammengestellt aus seinen Tagebüchern der vergangenen 35 Jahre. So blickt er auf die bislang 50 Jahre seines Lebens zurück, mit allen Höhen und Tiefen. Herausgekommen ist ein Buch, das man durchaus lesen kann, aber meiner Meinung nach nicht unbedingt gelesen haben muss. Ohne den Schriftsteller Matthew McConaughey kann ich ganz gut leben und, wie ich bei der Durchsicht seiner Filmografie bemerkt habe, ohne den Schauspieler auch. Dennoch hat mich das Buch sehr interessiert, schlicht, weil ich gerne Lebenserinnerungen von anderen lese.
Wirklich beeindruckt hat mich die Geschichte des Schauspielers allerdings nicht. Vor allem die Beschreibung seiner Kindheit voller häuslicher Gewalt und größeren und kleineren Gaunereien hat mich eher abgestoßen. Wie kann er locker aus der Hüfte darüber schreiben, dass sein Vater seiner Mutter viermal den Mittelfinger gebrochen hat (seine Eltern hatten einander dreimal geheiratet und sich zweimal voneinander scheiden lassen)? Schläge in der Familie waren nicht selten, die Mutter brach dem Vater mit dem Telefonhörer die Nase und der Vater verprügelte ihn einmal, bis sein Hintern blutete. Schön, dass er selbst das als Mittel dazu sah, ein echter Mann zu werden und Resilienz zu lernen „und wie man Konsequenzen und Verantwortung trägt, ich lernte, hart zu arbeiten.“, aber ich hoffe inständig, dass er es bei seinen drei Kindern anders macht.
In seinem „Drachentöter-Training“ plante er, jede Nacht um Mitternacht schlafende Kühe umzuschubsen. Als jemand, der direkt neben wild lebenden Rindern wohnt, kann ich da nur den Kopf schütteln, und ich habe mich insgeheim gefreut, dass ihm einer der Bullen einen Kopfstoß und eine Gehirnerschütterung verpasst hat. Er schreibt außerdem mit zu viel über Alkohol, Drogen, feuchte Träume und Onanie und darüber, wie es ist, in einer Familie aufzuwachsen, in der man „keinen Ärger bekam, weil man ein Verbrechen begangen hatte, sondern weil man sich hatte erwischen lassen.“ Im Endeffekt landet er in jedem der acht großen Kapitel bei Binsenweisheiten, Kalendersprüchen, Autoaufklebern und manchmal (aber für mich zu selten) bei echten Lebensweisheiten. Geistige Ergüsse gepaart mit eher körperlichen Ergüssen. Beispiele gefällig? „Die beste Art zu lehren ist die Art, die am ehesten verstanden wird“ – das kann ich so unterschreiben. Ebenso „Ich bin gut in dem was ich liebe – ich liebe nicht alles, worin ich gut bin“. „Weißt du erstmal, dass es schwarz ist, ist es nur noch halb so dunkel“ – das verwirrt mich eher.
Sprachlich fand ich das Buch ganz nett, irgendwo zwischen leicht und seicht, mit ein paar wenigen inhaltlichen und sprachlichen Lichtblicken. Die Gedichte, die eingeflochten sind, fand ich eher uninspirierend und banal. Matthew McConaughey ist sicher ein begabter Schauspieler und ein intelligenter, reflektierter und nachdenklicher Mensch, der es im Leben trotz einiger Schwierigkeiten durch sehr viel Glück und harte Arbeit zu etwas gebracht hat. Sein „Liebesbrief an das Leben“ konnte mich aber nur mäßig erreichen und da seine Gedankengänge in der Hauptsache nicht wirklich neu sind, wird mir das Buch wohl nicht im Gedächtnis bleiben. Oder, um es mit seinen Worten zu sagen: „Es gibt einen Unterschied zwischen Kunst und Selbstausdruck
Alle Kunst IST Selbstausdruck.
Nicht aller Selbstausdruck ist Kunst.“ – und nicht jedes Buch ist Literatur und ganz sicher muss nicht jedes gelesen werden.
Von mir zwei Sterne.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 28.09.2021
Der versperrte Weg
Goldschmidt, Georges-Arthur

Der versperrte Weg


sehr gut

„Der versperrte Weg“ von Georges-Arthur Goldschmidt lässt mich zwiegespalten zurück. Einerseits finde ich die autobiografische Geschichte von Erich und Jürgen-Arthur gut und berührend, andererseits fühle ich mich vom Autor stets auf Distanz gehalten und durch die sehr nüchterne, fast tabellarische Erzählung außen vor. Der Autor berichtet eher, als dass er erzählt, er schafft keine Bilder oder Emotionen, was mir das Lesen schwierig machte.
Als Jürgen-Arthur (später Georges-Arthur) 1928 geboren wird, ist die älteste Schwester schon 18. Das Leben seines Bruders Erich Leben verändert sich drastisch durch seine Ankunft („Mein Bruder war vier, als ich zur Welt kam und durch meine Erscheinung auf dieser Welt habe ich sein Leben zerstört“.). Er plante wohl sogar, dem Nachzügler die Augen auszustechen. Aber in ihrer Welt gibt es Schlimmeres als Eifersüchteleien zwischen Brüdern. Als 1933 die Nazi-Herrschaft beginnt, wird die protestantische Familie als jüdisch erklärt. Erich darf das Gymnasium nicht mehr besuchen und wird antisemitisch beschimpft und zur Hitlerjugend darf er, für den deutscher Nationalismus so wichtig ist, auch nicht.
Um sie zu schützen, schicken die Eltern die völlig unterschiedlichen Brüder 1938 ins Exil, erst nach Florenz, später nach Frankreich. Erich wird vom deutsch-Nationalisten („Alles Deutsche war Lebensinhalt für ihn.“) zum Widerstandskämpfer, schließt sich der Resistance an, später geht er zur Fremdenlegion. Die Brüder bleiben sich fremd, auch wenn sie im Exil als Schicksalsgemeinschaft lebten („Auf einmal war er dennoch gegenüber dem Bruder voller Zärtlichkeit gewesen, denn er war doch der Einzige, mit dem er ein Schicksal teilen würde. Weihnachten kam immer näher, ein Weihnachten ohne Schnee und Tannenbaum. Auf einmal fühlte er sich innigst mit dem kleinen Bruder verbunden, er war das, was noch von zu Hause geblieben war“). Die Eltern sehen die beiden nie wieder und einander nach dem Krieg nur wenige Male.
Kenner von Goldschmidt kennen dessen Geschichte vermutlich aus seinen anderen Werken, mir war der Autor vorher unbekannt. In diesem Buch schreibt er eine bekannte Geschichte aus einem anderen Blickwinkel erneut, um seinem Bruder ein Denkmal zu setzen. Das gelingt ihm durchaus, denn in diesem Buch scheint auch er eine andere Sicht auf den Bruder zu bekommen. Geschwister sind nun einmal spezielle Schicksalsgemeinschaften. Man ist miteinander verwandt, ob man will oder nicht. Und ab einem gewissen Alter kann man getrennter Wege gehen, wie die beiden es ab 1943 taten. Rund 80 Jahre später holt er mit dem Buch nach, was er zu Lebzeiten des Bruders versäumt zu haben glaubt. Denn „Es ist ein sonderbares Gefühl, so nahe aneinander gelebt zu haben und so wenig vom älteren Bruder zu wissen.“
Und so strickt der Autor eine Hommage an den Bruder aus Fakten und Gedanken. Grundlage sind wohl Erzählungen des Bruders bei einem Treffen in den 1970er Jahren. Und immer wieder taucht die Frage nach dem „was wäre gewesen, wenn…“ auf: „„Was wäre aus ihm geworden, wenn er ,Arier‘ gewesen wäre? Seiner Emigration verdankte er, nicht den falschen Weg eingeschlagen zu haben.“ – die Frage, ob der Dienst bei der Fremdenlegion denn der richtige Weg war, bleibt allerdings unausgesprochen. Auch andere Fragen bleiben unbeantwortet. Wie sehr prägt die Vergangenheit Gegenwart und Lebensweg? Wie ist es, wenn man sich selbst im Weg steht, keine Heimat findet, weil man sich entwurzelt und getrieben fühlt („Gerade in dem Augenblick, als für ihn einmal nichts mehr im Wege stehen sollte, war er selber zum Hindernis auf dem eigenen Weg geworden. Er war das einzige Instrument seines Unglücks.“)? Es ist ein Buch über ungleiche Menschen, die nur DNA und Schicksal vereinen, eine Geschichte über Schuldgefühle und Verlust. Vor dem ehemaligen Haus der Familie in Reinbek sind Stolpersteine für Georges-Arthurs Eltern. Das Buch ist eine Art Stolperstein für seinen Bruder. Ich fand es wichtig und gut, aber holprig und unbequem zu lesen. Von mir vier S

Bewertung vom 23.09.2021
Why We Matter
Roig, Emilia

Why We Matter


ausgezeichnet

Gleichberechtigung für alle, von diesem Ziel sind wir noch weit entfernt, vielleicht weiter denn je. Emilia Roigs Buch „Why we matter. Das Ende der Unterdrückung“ ist ein viele Facetten von Unterdrückung umfassendes Werk. Die Aktivistin und promovierte Politologin beleuchtet aus eigener Erfahrung Themen wie Intoleranz, Vorurteile, Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und das Patriarchat. Das Buch ist kein reines Fachbuch, dazu ist es zu subjektiv. Aber es ist auch kein Roman, dazu ist es zu objektiv. Es ist meiner Meinung nach vielmehr eine gelungene, wenn auch anstrengende Mischung aus Biografie und Sachbuch.
Der Schwerpunkt des Buchs liegt ganz klar auf dem Thema Rassismus gegenüber PoC, aber auch andere Formen von Unterdrückung und Diskriminierung haben ihren Platz, denn sie finden immer und überall statt. Auf der Straße, in Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Gerichtssälen, in so gut wie allen Bereichen des täglichen Lebens. Und sie betreffen nicht nur PoC, sondern praktisch alle, die von anderen als „nicht normal“ angesehen werden. Menschen werden aufgrund von Hautfarbe, Gewichts, Geschlecht, sexueller Orientierung oder wegen unzähliger anderer Dinge diskriminiert oder gar getötet. Die Autorin, die ihre Leserschaft oft direkt anspricht, klärt minutiös auf und rüttelt auf. „Unterdrückung sichtbar machen“ ist eine ihrer Maximen, den Unterdrückten Stimme und Gesicht zu geben.
Sie räumt auf mit tatsächlichen und konstruierten Unterschieden, die nur existieren, um „Ungleichheiten in unseren Gesellschaften rechtfertigen“, oft flicht sie dabei historische Grundlagen ein. Sie benennt Privilegien und deren Fehlen, spricht von Glückhaben und dem „Wert“ des Menschen, der „von vielen willkürlichen Faktoren bestimmt wird: Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Aussehen, Vermögen, Bildungsstand.“ Und nicht zuletzt geht sie darauf ein, dass alle Formen von Diskriminierung sich gegenseitig verstärken und erklärt damit den (mir bis dahin unbekannten) Ansatz der Intersektionalität. „Er bedeutet im Grunde: Diskriminierung innerhalb von Diskriminierung bekämpfen, Ungleichheiten innerhalb von Ungleichheiten sichtbar machen, und Minderheiten innerhalb von Minderheiten empowern. In anderen Worten: Leave no one behind.“
Dabei bleibt die Autorin in ihrer Kritik und trotz der vielen Erfahrungen, die sie beschreibt, im Tenor positiv. Sie hofft auf einen Wandel. „Die Welt sah 1950 anders aus als heute, und heute sieht sie anders aus, als sie 2080 aussehen wird. Die Grenzen der Normalität werden kontinuierlich neu verhandelt und neu definiert.“ In ihrem Buch regt sie mit jedem einzelnen ihrer wohlformulierten Sätze die Leserschaft zum Nachdenken und Hinterfragen an. „Lassen Sie uns mutig sein, und die bequeme Höhle verlassen.“ – Veränderung ist harte Arbeit, Ausdauer und Beharrlichkeit und setzt voraus, dass wir unsere Komfortzone aufgeben. Aber dann IST Wandel möglich. Und die Tatsache, dass „das schon immer so war und sich schon viel verbessert hat“, dass „nicht alle Männer/Weißen/usw.“ so sind oder gar „anderswo ist es noch viel schlimmer“, macht Diskriminierung und Unterdrückung nicht besser, sondern zeigt eher, dass wir auf einem guten Weg sind, aber noch ganz am Anfang stehen.
Es ist ein leidenschaftliches aber anstrengendes Buch und ganz sicher nichts für Nebenbei. Jeder Satz ist wichtig, jedes Wort ist präzise und jede Formulierung auf den Punkt. Manchmal wird das Thema für mich etwas zu stark seziert und durch ein Mikroskop betrachtet, manchmal fand ich das Buch trotz der vielen Erfahrungsberichte fast etwas „steril“. Dennoch ist es ein enorm wichtiges und gutes Buch aus dem ich viel mitnehmen und lernen konnte, vor allem über Kapitalismus, Sexarbeit, Bildungsgerechtigkeit und Wissen, da ich mir darüber aufgrund meiner privilegierten Stellung bislang kaum Gedanken gemacht hatte. Daher von mir aufgerüttelte fünf Sterne und eine klare Lese-Aufforderung.

Bewertung vom 17.09.2021
Schampus für alle
Knopp, Guido

Schampus für alle


ausgezeichnet

In Guido Knopps Buch „Schampus für alle. ALDI – eine deutsche Geschichte“ ist der Name Programm. Der Historiker nimmt (in Zusammenarbeit mit Mario Sporn) sein Publikum mit auf eine Zeitreise von den Anfängen des Discount-Riesen bis heute. Er erlaubt einen Blick hinter die Kulissen, obwohl die Besitzerfamilie schon immer großen Wert auf Privatsphäre und Verschwiegenheit legte. Herausgekommen ist ein sehr informatives Buch, das vermutlich fast jeden ansprechen wird, denn jeder kennt ALDI und die meisten haben schon einmal dort eingekauft.
Karl Albrecht sen., der Vater der Discounter-Gründer Theo und Karl war gelernter Bäcker und machte sich in Essen Schonnebeck als Brothändler selbstständig. Neben Brot und anderen Backwaren boten er und seine Frau Anna in ihrem Tante-Emma-Laden (der „Wiege des Aldi-Imperiums“) auch Kaffee, Tee und Konfitüren, Butter, Margarine und Kekse an. Die Söhne mussten im Geschäft helfen, sollten sie doch, wie damals allgemein üblich „beruflich in die Fußstapfen ihrer Eltern treten“. Und so lernte Theo Kaufmann im elterlichen Betrieb, Karl machte eine Lehre in einem noblen Feinkostladen. Der Rest der Aldi-Geschichte ab 1948 ist Geschichte. Oder Spekulation. Oder eine Mischung aus beidem. Guido Knopp kann zumindest auf ein paar verlässliche Quellen zurückgreifen, denn allgemein weiß man über Aldi nicht wirklich viel. So fußt dieses Buch hier in der Hauptsache auf Aussagen ehemaliger Aldi-Manager.
Fakt ist aber, dass die einzig wirkliche Unternehmensstrategie der Brüder aufging. „Mit gewagten Zukunftsprojekten haben wir uns seinerzeit nicht beschäftigt, sondern nur versucht, unseren Betrieb möglichst schnell zu vergrößern“, hat Theo Albrecht Anfang der 1970er gegenüber einem Journalisten erklärt. „Ihre einzige wirklich strategische Entscheidung war der Entschluss zum Aufbau und der Ausweitung ihres Filialnetzes.“ Und die Umstellung auf Selbstbedienung und dann das „Discount-Prinzip“.
Das Bild, das der Autor zeichnet ist ein interessantes, aber sehr ambivalentes. Es ist ein Bild voller Klischees von Geiz und Geheimnissen, Geschäftssinn und Verschwiegenheit, Lockangeboten und Rabattschlachten, von radikaler Preispolitik, die Lieferanten manchmal in den Konkurs trieb. Es ist ein Bild von einer von Druck und Kontrolle geprägten Mitarbeiterführung und von Müllbergen aus Einwegverpackungen („Der Anteil der Getränke-Einwegpackungen am Hausmüll erhöhte sich von 1970 bis 1981 um 73 Prozent.“) –bequem, aber trotz Recycling eine Katastrophe für die Umwelt.
In aller Ausführlichkeit und sehr packend beschreibt Guido Knopp die Entführung von Theo Albrecht 1971. Im Nachgang versuchte Albrecht 1979, die sieben Millionen Mark Lösegeld als Betriebsausgabe anzusetzen, vor Gericht scheiterte er damit aber. Geiz mag geil sein, aber das ging dem Gericht zu weit. Mit der Aufspaltung des Konzerns in zig Regionalgesellschaften, um die Pflicht zur Offenlegung von Geschäftszahlen zu umgehen, hatten die Brüder in den 1960er Jahren allerdings Erfolg. Und natürlich beleuchtet der Autor auch die Teilung des Konzerns entlang des „Aldi-Äquators“.
„Die erste Generation schafft Vermögen, die zweite verwaltet Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte, und die vierte verkommt.“ – in wie weit dieses Bismarck-Zitat auf die Albrecht-Familie zutrifft, kann ich nicht sagen. Aber es scheint, dass Gedanke und Geist von Theo und Karl Albrecht nicht so ganz in den Nachkommen weiterleben. Nicht nur mit der „Affäre Achenbach“ kam Aldi in die eher negativen Schlagzeilen, die Familien sind wohl zerstritten („Mit den guten Sitten in der Familie Albrecht war es endgültig vorbei“).
Für mich war es ein sehr informatives, unterhaltsames, kurzweiliges und höchst aktuelles Buch. Selbst auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie fehlen nicht. Der Autor schreibt flott und flüssig, sein Stil ist bodenständig und so macht er aus einem eigentlichen Sachbuch eine Romanbiografie eines Konzerns, eingeordnet in Zeitgeschichte und Zeitgeist. Von mir daher fünf

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