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sleepwalker

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Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 10.09.2021
Finnische Tage
Koch, Herman

Finnische Tage


sehr gut

Der niederländische Schriftsteller Herman Koch war mir bis zur Lektüre seines Romans „Finnische Tage“ unbekannt und das Buch eine Überraschung für mich. Es ist ein Roman über das Erwachsenwerden, aber kein klassischer Coming-of-Age-Roman, sondern eine autofiktionale Erzählung. Für mich war das Buch interessant, es hat mich gleichermaßen berührt wie verwirrt und lässt mich zwiegespalten zurück.
Kurz vor seinem 18. Geburtstag verliert Herman seine Mutter. Nach dem knapp bestandenen Abitur fährt der dann gerade 19-Jährige 1973 für ein halbes Jahr nach Finnland. Er hat keine Ahnung, was er mit seinem Leben anfangen möchte („Das heißt, ich wusste schon, was ich werden wollte (Schriftsteller nämlich), aber so was hören Väter nicht unbedingt gerne.“), die Reise nach Finnland verschaffte ihm einen Aufschub. Er lernt zwischen der Arbeit auf dem Bauernhof und im Sägewerk die Sprache und viel über sich selbst und das Leben. Fast ein halbes Jahrhundert später fährt er zu einer Buchmesse in Turku und seine Erinnerungen holen ihn ein. An die verstorbene Mutter, die ihn als einzige verstanden hat und den Vater und dessen Freundin, die er schon während der Ehe hatte („Mehr als mein Vater war es meine Mutter gewesen, die immer meine Partei ergriffen hatte. Mein Vater hatte offen an mir gezweifelt, meine Mutter nicht.“).
Obwohl das Buch zweifellos gut geschrieben ist und mich an vielen Stellen berührt hat, war es für mich etwas zu konfus. Aber irgendwie passt es zu den Gedankengängen des Protagonisten, der auch ab und an den roten Faden zu verlieren scheint. („Offenbar hatte ich laut geredet, ohne es zu merken. In den letzten Jahren vergaß ich nicht nur, Rasierer und Unterhosen einzupacken, ich führte auch immer öfter Selbstgespräche.“) Der Autor reiht scheinbar willkürlich Erlebnisse wie auf einer Perlenschnur aneinander. Bei der Einordnung ist er dem keine Hilfe, obwohl er selbst sein Leben erst aus der Distanz des Alters richtig zu verstehen scheint.
Er schreibt sehr bildhaft, ich fühlte mich sowohl in die finnische Einöde mitgenommen („Auf dem Bahnhof von Lieksa fielen die Schneeflocken mit der Geschwindigkeit von Backsteinen. Es waren ihrer sehr viele, und es war ihnen egal, wo sie landeten, sie kannten ihre Aufgabe, sie waren gekommen, die Welt unter einer unerbittlichen weißen Schicht zu begraben.“), wie auch in die Straßen von Baltimore oder Turku. Hauptdarsteller gibt es nur einen: den literarischen Herman. Der Macho, der sich hinter „äußerer Gleichmütigkeit“ und seiner großen Klappe versteckt und viel zu viel trinkt.. Andere Personen werden nicht beschrieben, haben meist keine Namen und werden auf ein paar wenige prägnante Dinge reduziert.
Es ist ein Buch über Verlust, die Suche nach sich selbst und dem Sinn des eigenen Lebens, die persönliche Sturm-und-Drang-Zeit („Es gab keine Gefahr oder besser gesagt: Es gab sie, aber sie war mein Freund – vielleicht der beste Freund, den ich anno 1973 hatte.“) und darüber, wie aus dem schmächtigen Jungen der Schriftsteller wurde, der er immer sein wollte. Ein Buch über einen mit der Zeit schrullig gewordenen Menschen. Aus dem um die Mutter trauernden Jungen („Ich war zwar traurig, meine Welt war zusammengebrochen, aber ich war nicht untröstlich.“) wurde im Laufe der Jahre eine Art Schauspieler („Im Flugzeug hatte ich mich noch mehr oder weniger verhalten wie derjenige, der ich glaubte sein zu müssen.“). Und es ist ein Buch über jemanden, der kein Problem mit Alkohol hat, sehr wohl aber ohne. Der Autor schreibt über literweise Bier und Hochprozentiges, die er im Lauf des Tages konsumiert.
Der Autor schreibt über die Freiheit, Dinge zu erfinden. Wie viel Autobiografisches also im Buch verarbeitet ist, wird wohl ein Geheimnis bleiben. „Alles in allem, wenn ich zurückblicke, habe ich eigentlich eine sehr glückliche Jugend gehabt“, konstatiert der Protagonist. Und wenn ich zurückblicke, hat mich das Buch gut unterhalten und ich vergebe vier Sterne.

Bewertung vom 07.09.2021
Wie gut ist Ihr Deutsch? 3
Sick, Bastian

Wie gut ist Ihr Deutsch? 3


ausgezeichnet

„Wie gut ist Ihr Deutsch Teil 3“ von Bastian Sick ist „Dem großen Test sein dritter Teil“, aber der erste, den ich gelesen habe. Bislang war ich ja der Meinung, ich könnte berufsbedingt ganz gut mit der Sprache umgehen, aber ich wollte mich natürlich gerne mal auf die Probe stellen, vor allem, da ich die Reformen der Rechtschreibung nur so am Rande mitbekommen und die Änderungen nie wirklich gelernt habe. Da wollte ich doch mal sehen, wie viel ich von dem Ganzen verinnerlicht hatte. Aber natürlich ist Rechtschreibung nur ein kleiner Teil der Fragen im Quiz, außerdem werden Sprachlehre, Wortschatz, Zeichensetzung, Fremdwörter, Literatur, Redewendungen und Sprachgeschichte „abgefragt“.
Die Fragen sind gut ausgewählt und clever gestellt, die Antworten sind im EBook verlinkt und man kann einfach hin- und herblättern. Was ich da besonders toll fand: die Verlinkung ist so programmiert, dass man auch immer nur Antwort zur jeweiligen Frage lesen kann. Die Fragen selbst sind von sehr unterschiedlichem Schwierigkeitsgrad, manche haben selbst mich alten Hasen herausgefordert, andere eher unterhalten. Die Einleitungen zu den verschiedenen Abschnitten sind launig gedichtet, auch ein paar Bilder/Zeichnungen lockern das Quiz auf.
Ich fand das Buch daher ebenso unterhaltsam wie informativ und lehrreich und vergebe daher gern fünf Sterne. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich gehe Zeichensetzung pauken.

Bewertung vom 06.09.2021
Vater und ich
Güngör, Dilek

Vater und ich


ausgezeichnet

Erwachsenwerden ist, wenn die Eltern beginnen, einem peinlich zu werden. Aber Ipek, der Hauptfigur in Dilek Güngörs Roman „Vater und ich“ waren ihre Eltern und ihre Herkunft schon viel früher unangenehm. Sie wuchs in den 1970er-Jahren als Kind einer Gastarbeiterfamilie in Schwaben auf. Inzwischen ist sie erwachsen, lebt als Radiojournalistin in Berlin und verbringt drei Tage mit ihrem Vater im elterlichen Haus, da ihre Mutter Wellness-Urlaub macht. So weit, so gut. Aber Vater und Tochter, die sich früher so nahegestanden hatten, haben sich seit Jahren nichts zu sagen.
Das Schweigen heißt aber nicht, dass es zwischen ihnen still ist. Manchmal wird geredet, aber nichts gesagt. Und doch viel ausgedrückt. In Rückblenden erinnert sich Ipek an ihre Kindheit und Jugend, ihre Schulzeit und an die Zeit, in der zwischen ihr und dem Vater alles anders wurde. Wurde vorher miteinander gebalgt und gekuschelt, wurde später nur noch die Hand geschüttelt und Luftküsse gegeben. Weil sie heranwuchs, eine Frau wurde und ihr Vater nicht die Liebe und Zuneigung zu ihr verlor, sondern seine Unbefangenheit.
Er liebt seine Tochter, das kann man zwischen den Zeilen herauslesen. Aber er kann es ihr aus einer gewissen väterlichen Unbeholfenheit heraus nicht sagen, nur zeigen. Kleine Gesten statt großer Worte. „Ein einziges Mal habe ich gesagt, wie sehr ich die Brezeln vom Bäcker Weidemann vermisse. Seither gibt es, wenn ich bei euch bin, Frühstücksbrezeln.“ Als er auf dem Gartenstuhl einschläft, bringt sie ihm ein Kissen, um es ihm zwischen Kopf und Schulter zu schieben („Du sollst nicht ohne Kissen schlafen“). Und wäre er vor dem Fernseher eingenickt, hätte sie ihm eine Decke gebracht.
Aber sie schreibt auch über Reibereien, Streit in der Familie übers Ausgehen und Wegbleiben. Über Rassismus, Unsicherheit, Unsichtbarkeit und Anpassung. Ipeks Eltern waren nach Deutschland gekommen, um zu bleiben. Über die Gründe weiß sie selbst wenig, das meiste musste sie sich zusammenreimen. Sie weiß von Armut, Pistazienanbau und Prügel, die ihr Vater als Kind bezogen hat. Und dass er lieber weiter zur Schule gegangen wäre, als Pistazienbauer zu werden. Im Endeffekt arbeitete er in Deutschland 20 Jahre bei derselben Firma als Polsterer. Als Kind hatte Ipek versucht, ihre Eltern zur Anpassung zu zwingen. Sich eine andere Unterschrift anzugewöhnen, zum Beispiel. Und sie selbst verleugnete zum Teil ihre Herkunft („Und in der Schule behauptete ich, ich verstünde überhaupt kein Türkisch, das machte sich besser.“)
Mit ihrem Heranwachsen wuchs auch eine Kluft zwischen ihr und dem Vater. Ein Generationenkonflikt, aber auch der Konflikt Mann/Frau, Vater/Tochter und zwischen seinem von Armut und Arbeit geprägten Leben und ihrem sorgenfreien. „Und weißt es nicht einmal, weißt es nicht zu schätzen. Das sagte er nicht, ich verstand auch so. Wie es dir als Kind im Dorf ergangen war, erzähltest du nie, aber anscheinend lebte ich im Vergleich dazu das Leben jener Prinzessin, deren Hochzeit wir uns im Fernsehen angesehen hatten.“ Und ihr Vater findet, ihr fehle die Demut. Sie sind sich fremd und fern und doch tief im Inneren nah. Eine Beziehung mit Konfliktpotential, vor allem aber mit Potential. Wenn beide Seiten aufeinander zugehen. Das Buch endet nach drei Tagen und knapp 100 Seiten für mich viel zu früh mit Ipeks Heimreise nach Berlin. Sie sind sich näher gekommen, aber nicht nahe. „Wir sagen nicht du, nicht Papa, nicht Vater, nicht Baba und du nicht Ipek. Wir sprechen miteinander ohne Ansprache“ – denkt Ipek am Anfang. Gegen Ende nennt er sie „kızım“- Tochter und sie ihn baba.
Sprachlich ist das Buch unfassbar intensiv und gut geschrieben. Ich konnte mich hervorragend einfühlen, die Hauptfigur und mich verbindet offensichtlich sehr vieles, nicht nur die schwäbische Herkunft. Wie viel von der Autorin in ihrer Protagonistin steckt, vermag ich nicht zu sagen, ich kannte sie vorher nicht. Es ist ein kleines Büchlein, aber für mich ein ganz großes Buch. Daher von mir fünf St

Bewertung vom 02.09.2021
Narbenherz / Heloise Kaldan Bd.2
Hancock, Anne Mette

Narbenherz / Heloise Kaldan Bd.2


ausgezeichnet

„Narbenherz“ von Anne Mette Hancock war ein Krimi, der fast komplett auf meiner Linie lag. Er vereinte spannende Handlung, ein bisschen Privates der Hauptpersonen und ganz viel Kopenhagen, leider aber auch einige Klischees und Rassismus. Was bleibt war aber ein lesenswerter Krimi mit einem überraschenden Schluss. Das Buch, das im Original „Mercedes-Snittet“ (Der Mercedes-Schnitt) heißt, ist bereits 2018 im dänischen Original erschienen und der zweite Teil einer Reihe um den Polizisten Erik Schäfer und die Investigativjournalistin Heloise Kaldan. Schauplatz ist Kopenhagen und da verpackt die Autorin eine Menge Lokalkolorit in ihrer Geschichte. Mein bester Freund lebt dort und ich konnte mich wirklich in die Örtlichkeit einfühlen. Aber von vorn:
Der zehnjährige Lukas ist verschwunden, seine Eltern sind verzweifelt und die Polizei rechnet mit dem Schlimmsten. Sein Vater Jens ist der Arzt der Journalistin Heloise Kaldan, zudem besucht Lukas dieselbe Schule besucht, wie die Tochter ihrer Freundin Gerda. Dadurch hat die Journalistin einige persönliche Berührungspunkte mit dem Fall, zudem ist der ermittelnde Kommissar Erik Schäfer ein alter Freund von ihr. Daher versucht sie, ihm bei den Ermittlungen zu helfen und natürlich soll sie das Ganze aber auch für ihre Zeitung journalistisch aufbereiten. Als dann ein ehemaliger Soldat erschossen aufgefunden wird, stehen die Ermittler vor einem Rätsel: wie hängt das alles zusammen und tut es das überhaupt?
Narben, sichtbare, vor allem aber unsichtbare, sind das Hauptthema des Buchs. Kriegsveteranen, aber auch zivile Helfer in Kriegsgebieten tragen Traumata davon, mit denen sie selbst und ihr Umfeld leben müssen. Aber sie sind nicht die einzigen, die in der Geschichte unter Symptomen eines Posttraumatischen Belastungssyndroms leiden. Jeder der Charaktere hat sein Päckchen zu tragen, vor allem Heloise hat mit vielen privaten Problemen zu kämpfen. Und auch sonst ist nicht viel von der von Dänemark erwarteten Leichtigkeit, Weltoffenheit, schlicht dem „hygge“ zu sehen: die Geschichte ist bedrückend und düster, aber durchaus spannend und realitätsnah und der Schluss hat mich nach einigen Finten sehr überrascht.
Sprachlich fand ich das Buch sehr gut zu lesen, es ist flüssig und bildhaft geschrieben. Leider kommt die Autorin nicht ohne Klischees aus, so ist beispielsweise eine ganze Menge Rassissmus oder sonstige Diskriminierung eingebaut, dazu häusliche Gewalt – alles vermutlich durchaus realistisch beschrieben. Vor allem Kommissar Erik Schäfer lässt manchmal die gebotene Neutralität gegenüber „andersartigen“ vermissen, aber auch Heloise erweist sich häufig als eher unprofessionell und illoyal. Und sie hat in dem Buch auch nicht wirklich eine Hauptrolle, die Ermittlungen liegen doch eher bei der Polizei und Erik Schäfer, obwohl es ein Teil der „Heloise-Kaldan-Serie“ ist.
Ich werde auf jeden Fall die anderen beiden Bücher der Autorin noch lesen, im dänischen Original gibt es mit „Pitbull“ auch schon den dritten Teil der Reihe, der auf Deutsch im kommenden Januar unter dem Namen „Grabesstern“ erscheinen soll. Vielleicht erfahre ich ja im ersten Teil Näheres über das Verhältnis von Heloise zu ihrem verstorbenen Vater, das in dem Band nur als schwierig dargestellt, aber nicht näher erklärt wird. Zwar kann man das Buch natürlich auch ohne Vorkenntnisse verstehen, aber die Probleme in Heloises Vergangenheit werden immer nur angedeutet, aber nicht näher erklärt.
Alles in allem fand ich das Buch einen eher mäßig spannenden, aber dennoch gelungenen Krimi mit einer ausgewogenen Balance aus Ermittlungen und Privatleben der Ermittler. Er ist größtenteils erfreulich unblutig und gut geschrieben, auch die Übersetzerin hat gute Arbeit geleistet. Allerdings wäre bei Spannung und Konzept ein bisschen Luft nach oben gewesen, daher vergebe ich vier Sterne.

Bewertung vom 31.08.2021
Eine ganze Welt
Goldbloom, Goldie

Eine ganze Welt


ausgezeichnet

„Eine ganze Welt” von Goldie Goldbloom ist ein Buch, das auf meiner Bücher-Hitliste ganz oben gelandet ist. Ich habe selten einen Roman gelesen, der mich auf so unterschiedliche Art berührt hat.
Surie Eckstein ist 57 Jahre alt, hat zehn Kinder, 32 Enkel und das erste Urenkelkind ist unterwegs. Endlich sind alle aus dem Gröbsten raus und sie freut sich darauf, Zeit für sich zu haben. Aber völlig überraschend ist Surie 41 Jahre nach ihrem ersten Kind erneut schwanger und das auch noch mit Zwillingen. Sie macht sich wegen der Schwangerschaft große Sorgen. Dabei denkt sie aber mehr an das Gerede in der strenggläubigen chassidischen Gemeinde, weniger an eventuelle gesundheitliche Probleme für extrem Spätgebärende. Daher verheimlicht sie die Schwangerschaft, denn „Eine Geburt würde öffentlich bekanntmachen, dass sie und Yidel sich lange über das normale Alter des Kinderkriegens hinaus noch begehrenswert fanden“. Mit jeder Seite wachsen ihre Freude auf die Kinder, aber auch ihre Unsicherheit und ihre Angst vor der Schande („Ihre armen Enkelinnen! Sie würden dem neuen Status der Familie nie entkommen können, gleichgültig, wie tadellos sie oder ihre Mütter sich verhielten.“)
Dabei war es für die Familie schon schwierig genug, das Ansehen in der Gemeinde aufrecht zu erhalten, denn Sohn Lipa war homosexuell, HIV positiv und beging mit 22 Jahren Suizid. Surie fühlt sich daran mitschuldig, sie quält sich mit Selbstvorwürfen („Wäre es anders gekommen, wenn er einen jungen Mann hätte nach Hause mitbringen und seiner Familie vorstellen können, ihm die Fotoalben der Familie hätte zeigen und ihn an Chanukka zum Essen hätte einladen können? Wäre Lipa noch am Leben, wenn sie ihn einfach hätten lieben können, wie er gewesen war?“), während ihre bigotte Tochter Ruchel so tut, als habe es den Bruder nie gegeben.
Surie sitzt nicht nur zwischen zwei Stühlen, sie sitzt mitten in einem ganzen Stuhllager. Sie ist völlig hin- und hergerissen zwischen dem Glauben, dem sicheren, aber abgeschiedenen Leben in Gemeinde und Familie, und dem Wunsch nach einem etwas säkulareren Leben, einer Ausbildung als Laien-Hebamme („Und sie hatte auch von der Arbeit im Krankenhaus geträumt, vom Studium der Lehrbücher in der Mittagspause und der Hebammenprüfung, davon, eine chassidische Frau zu entbinden und ihr auf Jiddisch zuzureden.“) Den inneren Konflikt beschreibt die Autorin hervorragend, sie ist selbst chassidische Jüdin und Mutter von acht Kindern.
Sehr ans Herz ging mir der liebevolle Umgang zwischen Surie und Yidel. Ihre Ehe war arrangiert und dennoch sind die beiden ein wundervolles Paar. „Er hatte sie immer abgöttisch geliebt, ihren Kindern erklärt, dass ihre Mutter eine Heilige war, seine Liebe, seine Liebste, die Beste aller Frauen.“ Er ist tief im Inneren ein kleiner Rebell („Abends sang er unter der Dusche, bevor er ins Bett ging, obwohl chassidische Männer im Bad möglichst keinen Laut von sich geben. Ein Regelverstoß, aber ein kleiner.“) und ein großer Romantiker. („»Ich mag dieses alte Flanellnachthemd«, sagte er, als sie zurückkam. Es hatte lange Ärmel und einen hohen Kragen aus Spitze. Er legte den Arm um sie und die Lippen an ihren Nacken. »Es riecht wie du.«“)
Sprachlich fand ich das Buch hervorragend zu lesen, die meisten jiddischen Worte konnte ich mir erschließen. Die Sprache ist bildhaft und stark, die Geschichte mitreißend und berührend. Die Autorin schafft es, der Leserschaft eine ganze Welt, eine andere, völlig fremde Welt nahezubringen. Über das Buch wäre noch eine ganze Menge zu sagen. Fest steht aber, dass es ein wundervolles Buch über Glauben, Zweifel, Liebe, Religion, Aufbruch, (gute und böse) Geheimnisse, Familienzusammenhalt, Traditionen und noch vieles mehr ist. Chassidisches, bzw. streng jüdisch-orthodoxes Leben ist so viel mehr als Schläfenlocken, Biberpelz-Hüte und isoliertes und weltfremdes Leben. Für mich ein bewegender Ausflug und eine absolute Lese-Empfehlung, nein, eine Lese-Aufforderung! Fünf Sterne.

Bewertung vom 30.08.2021
Grauzonen
Sievers, Christian

Grauzonen


ausgezeichnet

Die Stimme von Christian Sievers hat mich ein paar Jahre meines Lebens begleitet, als er noch beim (damaligen) Südwestfunk in Baden-Baden arbeitete. Daher habe ich mich auf sein Hörbuch „Grauzonen“ ganz besonders gefreut. Und ich wurde nicht enttäuscht. Er hat das Buch, das er liest, selbst geschrieben und erzählt autobiografisch über seinen Werdegang vom Radioreporter zum Fernseh-Reporter, zum Auslandskorrespondenten und Leiter des ZDF-Auslands-Studios in Tel Aviv und schließlich zum Moderator der Heute-Sendung im ZDF.
Er erzählt gewöhnt souverän exemplarische Geschichten aus seinem (Berufs-)Leben, vor allem aber über Kämpfe: Straßenkämpfe, Kriege und Wahlkämpfe. Er erzählt über News und Fake News, hauptsächlich erzählt er aber über Menschen und darüber, was hinter den Geschichten steht, die man in den Nachrichten sehen kann. Christian Sievers hat Spaß an seiner Arbeit und findet irgendwie immer den richtigen Ton: angemessen nüchtern wenn nötig, aber auch emotional wenn möglich. Und für ihn gibt es definitiv kein schwarz-weiß-Denken, sondern alle möglichen Graustufen.
So erzählt er über die Kämpfe im Gazastreifen, die Anschläge aufs World Trade Center und seine Erlebnisse 2015 an der sogenannten „Balkan-Route“. Und immer wieder pickt er eine oder mehrere Personen heraus, an denen er seine Schilderungen festmacht, bewegend, berührend und mit sehr viel Tiefgang. Manchmal fand ich seine Erzählungen und seinen Tonfall einen Hauch pathetisch, aber wirklich nur manchmal und irgendwie passte es ja auch dazu.
Ich habe eine etwas andere Sichtweise auf viele Dinge gewonnen und das Buch brachte mich gleichermaßen zum Lachen, wie auch zum Weinen. Manche politische Zusammenhänge und Hintergründe sind mir jetzt klarer, aber auch über den Journalismus im Allgemeinen und die Arbeit als Auslandskorrespondent im Speziellen weiß ich jetzt sehr viel mehr. Zwar war natürlich nicht alles neu für mich, aber trotzdem interessant, es noch einmal auf das Wichtigste konzentriert zu hören. Für mich sowohl ein Hörgenuss, als auch eine lehrreiche Horizont-Erweiterung. Ganz klare fünf Sterne.

Bewertung vom 23.08.2021
Um Mitternacht ab Buckingham Palace / Detective Strafford Bd.2
Lawless, JB

Um Mitternacht ab Buckingham Palace / Detective Strafford Bd.2


schlecht

„Um Mitternacht ab Buckingham Palace“ von JB Lawless ist ein Buch, das mich völlig ratlos zurücklässt. Der Klappentext war sehr ansprechend, deshalb habe ich mich auf das Buch wirklich gefreut. Nach der letzten Seite bin ich mir aber nicht sicher, ob mich jemals ein Buch so enttäuscht hat, wie dieses. Dabei ist die Idee hinter der Geschichte richtig gut, nur die Umsetzung war eher nach dem Motto „was will mir der Künstler eigentlich damit sagen?“
1941 werden die beiden Töchter der königlichen Familie aus dem Bombenhagel auf London nach Irland evakuiert und aus Elizabeth und Margaret werden Ellen und Mary. Beschützt von der MI5-Agentin Celia Nash und dem Polizeibeamten Saint John Strafford leben sie im kalten und feuchten Herrenhaus Clonmillis Hall, einem eher heruntergekommenen Anwesen in der Grafschaft Tipperary („Sie für ihren Teil hätte ihren Hund nicht in so ein bedrohliches Mausoleum geschickt“). Eine völlig neue Erfahrung für die vierzehn- und zehnjährigen Prinzessinnen, fernab der Eltern, die darauf bestehen, in London zu bleiben.
So weit so gut. Nur leider entpuppte sich die Geschichte, die so gut und spannend hätte sein können, als langweilig und langatmig. Neben dem immer wieder auftauchenden running Gag, dass Straffords Name oft ohne das „r“ ausgesprochen wird, passiert in dem Buch nicht wirklich viel, von Spannung möchte ich gar nicht erst reden. Die Charaktere sind allesamt eher wie Pappfiguren, blass, charakterlos und ohne Tiefgang. Die Prinzessinnen werden als eher unsympathisch beschrieben, Elizabeth scheint ruhig und besonnen, aber arrogant zu sein und Margaret pubertär, vorlaut und anstrengend. Die Agentin Celia Nash wirkt unbeholfen und unerfahren und Detektiv Strafford kam mir die meiste Zeit über irgendwie unbeteiligt vor. Die Charaktere interagieren wenig, es ist mehr ein Nebeneinander als ein Miteinander und alles in allem fand ich die Handlung fade und leblos.
Auch die Konflikte, die die Zeit eigentlich prägten, sind nicht wirklich gut aufgearbeitet. Die Reibereien zwischen dem neutralen Irland und der Kriegspartei England hätten wesentlich mehr hergegeben als ein paar bissige Kommentare und abfällige und zynische Bemerkungen. Denn die Probleme zwischen den beiden Ländern bestanden ja bekanntlich nicht nur in den unterschiedlichen Haltungen im 2. Weltkrieg. Das Buch fußt wohl auf wahren Begebenheiten aus der Kindheit von Elizabeth II und ihrer Schwester Margaret, aber selbst diesen Umstand kann der Autor nicht bewegend oder packend einbauen.
Die ersten zwei Drittel sind unter „belangloses Geplänkel“ zu verbuchen, dann taucht eine Leiche auf und danach passiert – wieder nicht viel. Selbst den Schluss schafft der Autor langweilig und fade darzubringen und obwohl ich ein großer Freund unblutiger und subtiler Krimis bin, war ich bei dem Buch einfach nur enttäuscht. Sprachlich ist das Buch nett, mehr aber auch nicht. Ich denke, der Autor tut gut daran, sein Pseudonym nicht zu lüften, solche Bücher sind einer Karriere nicht zuträglich.
„Es war eine so öde Veranstaltung gewesen, dass Strafford wehmütig mit dem Gedanken spielte, darum zu bitten, zukünftig die Mahlzeiten in seiner Unterkunft bei den Stallungen einnehmen zu dürfen“ – eine öde Veranstaltung war für mich auch das Buch, tatsächlich musste ich mich nach den ersten paar Kapiteln durchkämpfen, in der Hoffnung, es werde irgendwann mal besser. Aber auch diese Hoffnung wurde enttäuscht, womit das Buch für mich ein kompletter Reinfall wurde. Von mir daher ein Stern für die gute Idee, die so viel Potential geboten hätte.

Bewertung vom 18.08.2021
Between Your Words
Scott, Emma

Between Your Words


ausgezeichnet

An „Between your words“ von Emma Scott bin ich eher zufällig geraten und ich habe es nicht bereut. Auch wenn die Liebesgeschichte zwischen Jim und Thea voller Klischees, größtenteils unrealistisch oder zumindest höchst unwahrscheinlich ist, hat sie doch Charme, philosophisch angehauchte Passagen und geht ans Herz. Als Fan von Oliver Sacks und Peter Lund Madsen bin ich immer wieder gespannt darauf, wie die Themen Gehirn und Gedächtnis in Romanen umgesetzt werden. Wirklich schlecht macht die Autorin es in diesem Fall nicht, aber auch nicht hundertprozentig gut.
Die junge Künstlerin Althea leidet nach einem schweren Autounfall unter einer extrem seltenen Form der Amnesie („Althea Hughes hat die zweitschlimmste dokumentierte Amnesie in der Geschichte der Medizin“) und lebt in einem Sanatorium. Sie hat immer rund fünf Minuten bewusstes Erleben, bevor ihr Gehirn das Kurzzeitgedächtnis löscht und auf null zurücksetzt. Jim ist der neue Aushilfspfleger, der ebenfalls sein Päckchen zu tragen hat. Er wuchs in verschiedenen lieblosen Pflegefamilien auf. Er verliebt sich sofort in Thea und kümmert sich über die Grenzen der Professionalität hinaus um sie. Mehr möchte ich über die Handlung gar nicht schreiben, ich möchte nicht spoilern.
Sprachlich fand ich das Buch gut zu lesen, es ist flüssig und gefühlvoll geschrieben. Eingeteilt in drei große Teile werden die Unter- Kapitel aus der Sicht von Thea und Jim aus der jeweiligen Ich-Perspektive erzählt. Die Charaktere sind sehr gut ausgearbeitet und beschrieben, jeder hat seine Geschichte, auch wenn sich nicht jeder an sie erinnert. Thea fand ich eher interessant als sympathisch, weil an ihrer Person essenzielle Fragen hängen. Kann jemand leiden, wenn er seine Situation nicht bewusst wahrnimmt? („»Es gibt keine Wahrnehmung ohne Bewusstsein.« Sie lächelte sanft. »Deshalb nennt man es bewusstlos.«“) Kann man glücklich sein, auch wenn man sich nicht daran erinnert, was „glücklich sein“ ist?
An Jims Charakter hängen eher greifbare als philosophische Probleme. Als ehemaliges ungeliebtes Pflegekind („Du bist nicht mit mir verwandt. Du bist nichts als ein Scheck, der jeden Monat mit der Post kommt, also hör auf zu heulen.«“) stottert er phasenweise stark und wurde in der Schule gemobbt und von seiner Pflegemutter Doris beschimpft und beleidigt („Pfft. Er ist einfach ein Riesendummkopf. Das beweist das nur.“) Ihn mochte ich von Anfang an sehr, er ist ein liebevoller und liebesbedürftiger junger Mann, aber ab und an verbissen und fast übergriffig.
Theas Schwester Delia fand ich trotz ihrer rauen Art einen ebenfalls starken Charakter. Die Eltern der beiden jungen Frauen kamen bei dem Unfall ums Leben, bei dem Thea verletzt wurde. Delia war als einzige nicht im Auto, fühlt sich unterbewusst schuldig („Ich hätte auch in diesem Auto sitzen sollen“) und dadurch für ihre Schwester verantwortlich. Die Art, wie sie sich um Thea kümmert und deren Pflege arrangiert, ist grob und irgendwie arrogant, dennoch glaube ich, manchmal einen Hauch Überforderung herauslesen zu können.
Neben der romantischen und herzergreifenden Liebesgeschichte thematisiert die Autorin auch Dinge wie Personalmangel in Pflegeeinrichtungen, Übergriffe auf Bewohner und die Situation mancher Kinder in Pflegefamilien. Die fand ich teilweise schwerer zu verdauen als die Amnesie und die Triggerwarnung im Buch ist durchaus berechtigt. Thea ist gefangen in einem Leben ohne Erinnerungen, Jim ist gefangen in den Erinnerungen seines Lebens und beide leiden darunter, wenn auch auf unterschiedliche Weise.
Für mich war es ein starkes Buch mit ein paar Schwächen. Aber die Autorin wollte ja kein Fachbuch schreiben, daher möchte ich ihr die schwache und klischeehafte Umsetzung der medizinischen Aspekte nicht zu stark ankreiden. Herausgekommen ist eine ergreifende, hochemotionale Liebesgeschichte, ein solides, tiefgründiges, manchmal sogar spannendes Buch, das noch einige Zeit nachhallt. Von mir 4,5 Sterne, aufgerundet auf 5.