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dracoma
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LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 230 Bewertungen
Bewertung vom 14.11.2022
Alle Wege führen nach Rom
Sommer, Michael

Alle Wege führen nach Rom


gut

Der Untertitel verspricht „Die kürzeste Geschichte der Antike“, und so begibt sich der Leser in 8 Kapiteln auf eine Reise durch die Jahrhunderte zurück in die Antike. Eines ist unbestritten: der Reiseführer ist ein begeisterter Althistoriker, seine Liebe zur Antike steckt an, er unterhält sein Klientel angenehm und, last not least, er ist kundig und weiß genau, wovon er spricht.
Dem Autor geht es ganz allgemein um den Brückenschlag von der Antike zur Gegenwart. Sein Argument der nahen Fremdheit ist nicht neu, aber einleuchtend. Die „toten“ Sprachen und die Geschichte der Antike sind für ihn kein nutzloses Wissen, sondern sie sind eng verknüpft mit unserer Gegenwart und den Problemen, denen sich die Gegenwart zu stellen hat. Das Bewusstsein der gemeinsamen Geschichte bietet seiner Meinung nach ein stabiles und allgemein akzeptiertes Fundament eines geeinten Europas.
Die Lektüre ähnelt durchaus einem Parforceritt, wie es im Klappentext heißt. Sommer holt weit aus und startet mit der ILIAS, die er liebevoll zusammenfasst, um von dort auf das Verschwinden der bronzezeitlichen Königreiche zu kommen. Nun wird der Parforceritt zum Zeitraffer-Ritt durch die Jahrhunderte. Sommer setzt deutliche und durchaus aktuelle Schwerpunkte. Damit garantiert er, dass der Leser nicht den Überblick verliert. So vertieft er sich z. B. sowohl in der römischen als auch in der griechischen Geschichte in die Entwicklung der Bürgerrechte und die Frage, wie die Partizipation der Bevölkerung am politischen Leben gestaltet wurde . Es wird deutlich, wie immer wieder aufs Neue um einen Ausgleich der Bevölkerungsgruppen gerungen wurde und wie Alternativen ausprobiert und evtl. wieder verworfen wurden.. Manches mutet tatsächlich sehr zeitgenössisch an wie die Überlegungen zur (mangelnden) politischen Qualifikation und zur Verführbarkeit der Massen, zur Frage der Autorität, zur Demagogie, zum Umgang mit Fremden, zur Kontrolle der Eliten und so fort.
Gelegentlich, so scheint es, verliert der Autor jedoch bei dem Parforceritt das Ziel aus den Augen und verweilt zu lange bei Nebenschauplätzen. Zugegeben: das sind interessante Schauplätze wie z. B. die ausführliche Würdigung Palmyras, die Reformversuche und Legitimierungsbestrebungen der Soldatenkaiser, oder die Regionalisierung des riesigen Reichs, aber es bleibt unklar, wieso er z. B. den Judäischen Kriegen oder dem Sasanidenkönig Schapur I. so viel Raum widmet. Und auch die langwierige Beschreibung des Massakers von Srebrenica und seine Einordnung in antike Verwerfungslinien wirken aufgesetzt.
Das erste und letzte Kapitel sind der humanistischen Bildung gewidmet. Sommer bejammert langatmig den Zustand des deutschen Bildungswesens und beglückwünscht sich selber zum Besuch eines humanistischen Gymnasiums. Ob das Kapitel aus einer Festrede zum Abitur entstanden ist? Natürlich ist es legitim, wenn ein Autor verschiedene Veröffentlichungen miteinander verschränkt, aber es sollte doch eine angemessene Gewichtung vorhanden sein. Das letzte Kapitel greift das 1. Kapitel wieder auf und liefert Argumente für den Beibehalt der klassischen Bildung. Vielleicht auch eine Abiturrede? Oder eine Vorlesung? Sommer kritisiert die Lehrpläne – und man möchte ihn einladen, seinen universitären Rapunzelturm zu verlassen und an den Sitzungen einer Lehrplankommission teilzunehmen...Man kann nur hoffen, dass er seinen Lehramtsstudenten seine Begeisterung für die Antike vermitteln kann und diese sich tatsächlich - so seine Vision - „am Pool unter Iberiens Sonne“ mit anderen Europäern über die Gerichtsreden Senecas austauschen.

Bewertung vom 13.11.2022
Meine Mutter sagt
Pilgaard, Stine

Meine Mutter sagt


ausgezeichnet

„Meine Mutter findet, da ich jetzt Urlaub habe, sollte ich in ihr Sommerhaus kommen.“So beginnt das erste Kapitel, und dieses erste Kapitel zeigt schon das familiäre Miteinander der Ich-Erzählerin. Da ist eine Mutter, die die Tochter mit vielen unerbetenen Ratschlägen überhäuft und die sich bemüht, das Studium und allgemein das Leben ihrer Tochter wieder ins Gleis zu bringen. Die Ich-Erzählerin begegnet uns nämlich am Anfang als tief verletzte, entwurzelte junge Frau: ihre Lebensgefährtin hat sie vor die Tür gesetzt. Sie findet Unterschlupf bei ihrem Vater, einem Pfarrer, der für Pink Floyd schwärmt und im Unterschied zur Mutter von Belehrungen absieht. Im Gegenteil: die Ich-Erzählerin freundet sich mit seiner neuen Frau an und entwirft mit ihr spielerische Zukunftspläne. Alle Figuren dieses kleinen Romans werden uns als teilweise schrullige, aber liebenswerte und lebensechte Typen vorgestellt, keine der Figuren wird bewertet, und dieser freundliche Blick der Autorin auf ihre Mitmenschen macht die Lektüre zu einem Vergnügen.

Das Buch ist originell aufgebaut. Auf wenige kurze erzählende Kapitel folgt ein sog. Seepferdchen-Monolog. Wieso Seepferdchen? Ein Teil des Gehirns ähnelt einem Seepferdchen, lat. Hippocampus, und dieser Hippocampus überführt die Erinnerungen aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. In diesen Seepferdchen-Monologen geht es daher um die langfristigen Erinnerungen der Protagonistin. Sie reihen sich oft assoziativ in die Erzählung ein und öffnen dem Leser das Innere der Ich-Erzählerin: sprachlich wunderschöne Monologe, in denen man versinken kann.

Überhaupt ist es die Sprache, die den Roman zu einem besonderen Lesevergnügen macht. Schon im 1. Kapitel zeigt sich der besondere Sprachwitz, wenn es z. B. darum geht, ob eine Krabbe ein Schalentier oder ein Kriechtier ist; kriecht die Krabbe oder schalt sie? Stine Pilgaard spielt in einer unglaublich frischen Weise mit der Sprache. und so ist es auch die Sprache, mit der sie alltägliche Situationen gleichsam seziert, und es ist die Sprache, die die Kommunikation zwischen den Figuren letztlich gelingen lässt. Wie tröstlich! Gleichzeitig gelingt der Autorin damit auch der Spagat zu tiefernsten Themen wie der Vereinzelung des Menschen und der Angst vor dem Allein-Sein – und schließlich der überbordenden Freude über eine neue Liebe. Ein wunderbares Buch!

Bewertung vom 30.10.2022
Das Zeitalter der Roten Ameisen
Pyankova, Tanya

Das Zeitalter der Roten Ameisen


sehr gut

Normalerweise liest man erst das Buch und anschließend das Nachwort. Trotzdem ist es sinnvoll, in diesem Fall sich erst dem Nachwort zuzuwenden, weil die Intention und Gestimmtheit der Autorin für das Buch wesentlich sind. Das Nachwort nimmt tatsächlich die Stelle eines Vorworts ein.
„Dieser Roman“, sagt sie, „handelt vom Unterschied zwischen den Ukrainern und den lügnerischen moskowitischen Horden, deren Methoden ständige Angriffskriege, Propaganda, Manipulation und Geschichtsfälschung sind“ (S. 287). Sie erhebt schwerste Vorwürfe gegen Russland. Sie sieht die aktuellen Kriegsereignisse als eine Fortsetzung des Genozids an, dem ihr Land und ihre Landsleute in den 30er Jahren ausgesetzt waren. Wieder „vergewaltigen russische Verbrecher ukrainische Frauen und Kinder, töten, zerstören, bestehlen sie mein Land, entwenden Getreide, setzen Felder in Brand“ (S. 286). Daher sei die Vergangenheit für sie aktueller denn je, denn „das durch den Völkermord verursachte Trauma“ (S. 287) sei nach wie vor spürbar und zeige sich nicht nur im öffentlichen Leben, sondern auch im privaten Bereich. Und hat man dieses Buch gelesen, wird einem wieder einmal klar, dass man die Vergangenheit kennen muss, um die Gegenwart zu verstehen.

Die Autorin entfaltet ihre Geschichte mit drei Stimmen, mit denen sie die Bandbreite der damaligen Gesellschaft abdecken kann und die Opfer und Täter gleichzeitig zu Wort kommen lassen. Da ist einmal Dusja, die Kulakentochter, deren Vater wie so viele Bauern in die Zwangsarbeit verschickt wurde, während die Mutter in der Kolchose arbeitet, ohne mit dem Verdienst ihre beiden Kinder ernähren zu können. Ihre Stimme erzählt dem Leser von dem großen Sterben in ihrem Dorf und ihre Versuche, mit Gras, Baumrinde, Schuhsohlen das Aushungern zu überstehen. Eine andere Stimme gehört Solja, der Frau des verantwortlichen Kommissars, die auch unter Hunger leidet – aber im Unterschied zur Dorfbevölkerung hungert sie in einem Sanatorium, um ihr Übergewicht zu reduzieren. Sie ist das Sprachrohr ihres Mannes, ein Opfer der Propaganda, die die Kulaken als Staatsfeinde sieht, und sie bricht zusammen, als sie mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. Die dritte Stimme gehört einem Dorfbewohner, der sich zum Handlanger der Kommunisten macht und in ihrem Dienst arbeitet. Diese drei Stimmen sprechen jeweils für sich, aber im Verlauf der Handlung werden sie Stück für Stück immer dichter miteinander verwoben. Dazu kommt eine vierte Stimme, die die Autorin immer wieder zu Wort kommen lässt: das ist die Stimme des personifizierten Hungers, der mit baumelnden Beinen auf dem Ofen sitzt, der die Menschen begleitet, sie quält und sie verhöhnt. So entsteht ein in sich stimmiges Gesamtbild.

Das Gesamtbild ist schlimm. Wir lesen von Zwangsarbeit, von Propagandamaßnahmen und Täuschung, von der Zerstörung der Kirchen und ihres Kulturgutes, vom Personenkult um den „schnauzbärtigen Tod“ (S. 88), vom täglichen Einsammeln der Leichen, von gewalttätigen Requirierungen, von Treulosigkeit, Egoismus und vor allem von den verzweifelten Versuchen der Menschen, Nahrung zu finden: Frösche, Mäuse, Vögel, Insekten, Baumrinde, Gras, Erdwürmer, Spelzen etc., immer heimlich, um nicht angezeigt zu werden und den Roten Kommissaren in die Hände zu fallen. Wir lesen auch von Auswegen aus dieser Not, um die Essensrationen zu sichern: das Gemeinmachen mit den Kommissaren und die Erledigung von Hilfsdiensten und auch Prostitution. Wie Brecht schon sagte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Oder wie Dusja sagt: „Wir verlieren, was uns zu Menschen macht“ (S. 221). Die Autorin verschont ihre Leser auch nicht vor grausamen Szenen wie Kindsaussetzung, Ermordung von Neugeborenen und Kannibalismus.

Das Bild der Ameisen zieht sich durch das ganze Buch hindurch. Es sind die Roten Ameisen, in Anspielung an die Roten Kommissare, die als Bild für die menschenverachtenden und im übertragenen Sinn „gefräßigen“ Kommunisten immer wieder zitiert werden.

Das Buch enthält sehr viele innere Monologe und Reflexionen der drei Stimmen, und dadurch kommt es zu Redundanzen. Hier wären Straffungen angebracht gewesen. Ein weiterer Kritikpunkt ist das Pathos, das natürlich verständlich ist (s. Nachwort), aber doch gelegentlich zu dick aufgetragen ist. Sätze wie „Ihre nackte Wehrlosigkeit trifft wie die Sichel des Todes die schwankende Ähre des Menschenschicksals“ (S. 254) empfand ich als überzogen, aber auf der anderen Seite zeigen sie auch die starke und bildhafte Sprache der Autorin, die durchgängig zu beobachten ist.

Bewertung vom 29.10.2022
Troja / Mythos-Tetralogie Bd.3 (1 MP3-CD)
Fry, Stephen

Troja / Mythos-Tetralogie Bd.3 (1 MP3-CD)


ausgezeichnet

Der Mythos um Troja wurde schon oft erzählt, und wer hier eine reine Nacherzählung von Homers Ilias erwartet, wird angenehm und aufs Beste überrascht!
Vorneweg: Stephen Fry kennt die Ilias, er hat seinen Homer gelesen, und er ist sattelfest, was die großen mythischen und historischen Zusammenhänge angeht.
Und so beginnt er nicht wie Homer mit der Auseinandersetzung zwischen Agamemnon und Achilles im Heerlager vor den Toren Trojas, sondern er erzählt von der Gründung, dem Aufstieg und der immensen handelspolitischen Bedeutung der Stadt Troja. Fry nimmt dann den Hörer richtiggehend an die Hand und führt ihn Schritt für Schritt in das dichte Geflecht der Mythen ein. Ein wenig Vorwissen erleichtert das Verständnis. Der unkundige Hörer kann leicht den Überblick verlieren und wird erschlagen von der Fülle an Namen und komplizierten Verwandtschaftslinien. Fry kennt das Problem und versetzt sich in seine Leser, indem er - didaktisch sehr geschickt! - den Leser direkt anspricht, um Geduld bittet und auf die Bedeutung für den Verlauf der Geschichte verweist. Gelegentlich wiederholt er auch oder fasst zusammen und sichert damit das Verständnis.

Ganz wichtig aber für das Verständnis ist die unnachahmliche Art des Autors, wie er seine Erzählung vorträgt. Es ist nicht nur sein herrlich trockener Humor, mit dem er den Hörer zum Lachen bringt und den der Sprecher mit seiner süffisant-ironischen Tonlage unterstützt. Es sind auch seine Ausführungen zum Hintergrundwissen, z. B. zur Frage der Überlieferung, eine Erklärung der Begräbnisriten, zur Sprache etc. Einzelne Szenen malt er so lebhaft aus, dass im Kopf des Hörers gewaltige Bilder entstehen, z. B. das Anlanden der griechischen Flotte vor Troja und v. a. das barbarische Gemetzel bei der Einnahme der Stadt.
Wo Ernsthaftigkeit angebracht ist, bleiben der Erzähler und der Sprecher auch ernsthaft und nehmen sich zurück. Mit den nachdenklichen Kommentaren gerade zum Blutrausch und den Gräueltaten der Griechen sprengt er den Rahmen einer Nacherzählung. An dieser Stelle erinnert er an vergleichbare historische Ereignisse, z. B. die Einnahme Berlins durch die Rote Armee oder die Niederschlagung des indischen Aufstandes durch die Briten. Mit diesen Kommentaren.rückt er die Ereignisse über die Jahrtausende hinweg an unsere Jetzt-Zeit heran.
Homers Ilias zeigt menschliche Verhaltensweisen in allen Bandbreiten: Güte, Eitelkeit, Heldenmut, Vaterlandsliebe, Opferbereitschaft, Verlogenheit, Egoismus, Feigheit, Treue und so fort, und der Grund des Handelns liegt in der Lenkung durch die Götter. Fry überführt auch diesen Gedanken in unsere Zeit: das Eingreifen der Götter kann metaphorisch gesehen werden als innere Stimme der Person, und er schließt, dass man die Menschen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen dürfe.
Fazit: ein exzellentes Hörvergnügen, sehr beeindruckend, nur empfehlenswert.

Bewertung vom 28.10.2022
Wir Töchter von Sparta
Heywood, Claire

Wir Töchter von Sparta


weniger gut

Nebenfiguren eine Stimme zu geben – das ist eine beliebte Technik im Creative Writing und kann zu originellen Ergebnissen führen. Claire Heywood schreibt im Nachwort ihres Romans, dass sie „archäologische Realitäten mit mythologischer Tradition“ und einer „neuen Geschichte“ verbinden will, um „die Lücken zu füllen, die dieser Rahmen offenlässt“ (S. 359). Nichts spricht dagegen, Homers Epos abzuändern und/oder neue Schwerpunkte zu setzen. Entscheidend ist natürlich, dass sich ein stimmiges Gesamtbild ergibt. Damit ist der Anspruch formuliert, dem sich der Roman stellen muss.

Klytämnestra und Helena wuchsen als Schwestern am Königshof in Sparta auf – und hier ist schon die erste Lücke. Wie mag die Erziehung der Schwestern gewesen sein? Durften sie tatsächlich nur „den ganzen Tag ... spinnen und weben“ (S. 27)? Das würde nicht zu der Tatsache passen, dass Mädchen und Frauen im hellenistischen Sparta erheblich mehr Freiheiten hatten als ihre Zeitgenossinnen. Wie erlebten sie die Zeitumstände, die von Krieg geprägt waren? Wir erfahren nichts. Diese Abgehobenheit von äußeren Gegebenheiten findet sich immer wieder. So kreisen die Gespräche der Schwestern und ihre Gedanken hauptsächlich um Ehemann und Familie: Liebt er mich? Liebt er mich noch? Liebt er mich nicht mehr? Hat er eine Geliebte? Oder keine? Damit wird die Autorin diesen Frauengestalten meiner Meinung nach nicht gerecht. Dies zeigt sich besonders deutlich.

bei Klytämnestra, die Ehefrau des Agamemnon, König von Mykene. Agamemnon baute Mykene zu einem der mächtigsten Königreiche der Bronzezeit aus. Das bedeutete für Klytämnestra, dass in der Zitadelle von Mykene ein großer Haushalt mit Sklaven, Dienern und Gästen zu organisieren und zu verantworten war. Während der Kriegszüge Agamemnons übernahm sie die Regierungsgeschäfte, was nur kurz anklingt und der Autorin keine Vertiefung wert ist. Schade!. Für Helena gilt ähnliches. Menelaos vertraut ihr „die Aufgabe an, Sparta und mich selbst zu vertreten“ (S. 187). Wie meistert sie diese Aufgabe? Auf der anderen Seite traut ihr die Autorin offenbar kein Interesse an der Außenpolitik zu, wenn Helena das Gespräch ihres Mannes mit Aeneas über die drohende Gefahr durch die Assyrer oder Hethiter unterbricht und ein Kompliment für ihr neues Kleid einfordert. So dumm kann sie doch nicht gewesen sein?

Ein weiteres Beispiel für eine nicht gefüllte Leerstelle ist der Raub der Helena. Paris und seine Leute plündern in Abwesenheit des Königs Menelaos den spartanischen Königspalast und verladen die Beute auf ihre Schiffe. Heywoods Helena ist davon überrascht und hat die Plünderungen offensichtlich nicht bemerkt, und ihre Brüder, die Prinzen Castor und Pollux sind im Unterschied zu Homers Ilias anwesend. Aber reagieren nicht. Ist das glaubwürdig? Sicher nicht, da die Prinzen die Plünderungen nicht ohne Gegenwehr hingenommen hätten.

Heywood bemüht sich sichtlich um die Psychologisierung ihrer Figuren, um sie über die Jahrtausende hinweg an den heutigen Leser heranzurücken. Das gelingt ihr auch. Allerdings fragt man sich bei der ständigen Diskussion des jeweiligen Liebesglücks, ob damit nicht die Ansprüche unserer eigenen Zeit kritiklos angewendet werden.

Die Autorin setzt gut gewählte Schwerpunkte. Dennoch hätte ich gerne gewusst, wieso sie Nikostatos, den Sohn der Helena mit Menelaos, unterschlägt; immerhin der Thronerbe Spartas. Und wieso Kassandra, die Seherin, Priesterin und Königstochter, nur die nichtssagende Rolle eines dünnen blonden Mädchens zugewiesen wird.

Bewertung vom 17.10.2022
Die Mauersegler
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


ausgezeichnet

Toni, Lehrer der Philosophie, will nicht mehr leben und beschließt seinen Selbstmord: nach Ablauf eines Jahres, am 1. August, wird er sich töten. Das Datum wählt er, weil dann die Mauersegler, die er um ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit beneidet, wieder in Richtung Süden ziehen werden. Bis dahin notiert er Tag für Tag seine Gedanken, Erlebnisse etc. auf, und so besteht dieses Buch aus einem Kapitel pro Tag und ist eher ein Tagebuch als ein Roman. In diesen vielen kleinen Kapiteln entfaltet sich vor dem Leser Tonis Leben. Die Episoden sind nicht chronologisch geordnet, sondern einzelne Facetten werden wie mit einem Schlaglicht beleuchtet. Tonis Alltag ist der eines durchschnittlichen Großstadtmenschen, eher eintönig, und seine Kontakte beschränken sich auf seinen Hund Pepa und wenige Menschen, darunter seinen einzigen Freund, der gemeinsam mit ihm Suizid begehen will.

Ein Sympathieträger ist dieser Toni sicherlich nicht. Obwohl er Philosophie studiert hat, ist er ausgesprochen oberflächlich. Er orientiert sich bei anderen Menschen an Äußerlichkeiten und schätzt, vermutlich unter dem Einfluss des Vaters, devote Frauen. Er hasst seine Schüler und seinen Beruf und ist der Inbegriff eines Misanthropen. Zudem gefällt er sich in seinem Lebensüberdruss und seiner negativen Grundeinstellung und tut sich selber unendlich leid. Aber trotzdem wächst einem dieser Toni, dieser Ritter von der traurigen Gestalt, ans Herz und man fragt sich beim Lesen zunehmend beklommener, ob er seinen Entschluss wirklich in die Tat umsetzen will.

Je näher der 1. August heranrückt, desto mehr kann man bei Toni eine Entwicklung beobachten. Er wird nicht im Frieden mit allen (vermuteten) Bösewichten aus dem Leben scheiden, aber er erkennt immerhin, dass er und sein Bruder ihre Mutter aufgrund ihrer Besitzansprüche um ihr eigenes selbstbestimmtes Leben gebracht haben. Da kommt Trauer auf, und das gilt auch gegenüber seinem Vater, der seine familiäre Dominanz mit Gewalttätigkeit behauptete und trotzdem litt. Er bedauert zutiefst, dass er niemals die Chance auf ein Gespräch wahrgenommen hat.

Und so bekommt die Lebensbilanz des Helden den Anstrich einer ars moriendi.

Besonders gut gefallen hat mir die Virtuosität, mit der der Autor das Titelmotiv, die Mauersegler, variiert und als omnipräsentes Leitmotiv verwendet, und Aramburu gelingt eine beeindruckende Szene, wenn der Protagonist kurz vor seinem geplanten Tod einen halbverwesten Mauersegler findet.

Der Roman ist über 800 Seiten stark, sicher hätte man ihn kürzen können, aber ich fand ihn keine Sekunde langweilig. Aramburu erzählt so humorvoll, so leichtfüßig und witzig, und der skurrile und teilweise erschreckend schwarze Humor seines Helden sorgt immer wieder für Heiterkeit, wobei sich Aramburu aber niemals in Slapstick oder Grobheiten verirrt. Dazu ist ihm sein Anliegen zu ernst:
die Klage um vertane und nicht genutzte Kommunikationsmöglichkeiten.

Bewertung vom 03.10.2022
Ich verliebe mich so leicht
Le Tellier, Hervé

Ich verliebe mich so leicht


ausgezeichnet

Gleich vorneweg: mir hat die Erzählung sehr gut gefallen!
Da reist ein etwas ältlicher Mann, hormongebeutelt und liebesblind, von Paris ins schottische Hochland, um seine wesentlich jüngere Geliebte zu sehen. Nichts klappt, wie er es sich vorgestellt hat: das Flugzeug startet mit stundenlanger Verspätung, das Hotel taugt nicht für die erhofften Liebesnächte, und auch seine ziemlich aufdringlichen Bemühungen um Liebesfreuden laufen ins Leere. “Amouröser Schiffbruch“, stellt der Held selber fest.
Und das alles erzählt Tellier in der altmodischen Pose und auch mit dem Vokabular ("Held") eines auktorialen Erzählers. Immer wieder wendet er sich an seine Leser bzw. Hörer. So verzichtet er z. B. auf nähere Beschreibungen des schottischen Dorfes und der Heidelandschaft und fordert den Leser auf sich selber im Internet zu informieren, wie es dort aussehe. Seinen namenlosen Helden begleitet der Erzähler aus ironischer Distanz und lässt seine Leser/Hörer an den bissigen und teils weinerlichen Reflexionen teilhaben. Ein Sympathieträger ist er nicht, dieser Midlife-Crisis-Held; das sieht auch der Erzähler so!
Jedem seiner 12 Kapitel stellt er eine stichpunktartige Synopse voran, sodass der Leser inhaltlich quasi entlastet wird und sich auf die einfach herrlich witzige und spritzige Erzählkunst des Autors konzentrieren kann.
Ein Vergnügen! Tellier erzählt scharfsinnig, oft unerwartet pointiert, humorvoll und vor allem eines: lebensklug.

Bewertung vom 26.09.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


ausgezeichnet

“Samisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht“ (S. 190).
Die Autorin versetzt ihre Leser in die Welt der Samen, dem einzigen indigenen Volk Europas. Im Zentrum steht Elsa, die als Kind die Tötung ihres Renkalbs und ihre eigene Bedrohung erleben muss. Die Wehrlosigkeit ihrer Familie verbittert sie zunächst, aber im Lauf der Jahre verdichten sich ihre Erlebnisse und sie begreift die Ursachen dieser Wehrlosigkeit als strukturelles rassistisches Problem. Elsa entschließt sich, den „schweren Rucksack“ zu tragen. Sie wird mutig und setzt sich zur Wehr, auch wenn sie erkennt, dass sie dafür einen hohen Preis zahlen muss.

Die Ablehnung der samischen Kultur und Lebensweise zeigt sich in vielen Bereichen: wir lesen von grausamen Jagden auf die Rentierherden der Samen, von Mobbing und gewalttätigen Übergriffen in den Schulen auf samische Kinder, von alltäglichen rassistischen Beleidigungen, von Telefonterror, von massiven psychischen Erkrankungen und vom Desinteresse der Polizei, bei Übergriffen zu ermitteln. Zugleich wird der Lebensraum der Samen immer weiter eingeengt, nicht nur durch die klimatischen Veränderungen, sondern auch durch die staatliche Forcierung des Bergbaus, der die Weidegründe der Rentierherden schmälert. Gleichzeitig vermittelt uns die Autorin die tiefe Liebe der Samen zur Natur und die Art und Weise, wie sie mit und in der Natur leben, ohne in idyllisierende Schwärmerei zu verfallen.

Wie die Autorin das alles in ihre Geschichte einwebt, hat mir hervorragend gefallen. Sie belehrt nicht, sie informiert nicht, sie jammert nicht und klagt nicht an, sondern sie erzählt einfach die Geschichte Elsas. Und damit gelingen ihr auch sehr anrührende und tief beeindruckende Episoden, wenn sie z. B. die tiefe Trauer der Schwester um ihren geliebten kleinen Bruder in wenigen Strichen so erzählt, dass die Bilder in Erinnerung bleiben. Ihr Erzählen wirkt gleichmütig und durch die durchwegs einheitliche Syntax eher statisch, fast hölzern. Gelegentliche dramatische Ausrutscher wie “eine diabolische Energie, die sie einen Schritt zurücktreten ließ... und ihr Gesicht zog sich in kleinen schnellen Zuckungen um die Augen und den Mund zusammen“ (S. 331) verzeiht man gerne.

Bewertung vom 25.09.2022
Mord vor der Premiere (MP3-Download)
Crispin, Edmund

Mord vor der Premiere (MP3-Download)


ausgezeichnet

Wer einen eher altmodischen Krimi mag, wer auf Leichenberge verzichten kann und Spaß an witzigen Dialogen und skurrilen Figuren hat, der ist hier bestens bedient!
Oxford in den 40er Jahren, eine bunt zusammengewürfelte Schauspieltruppe, Liebe und Intrigen, ein schrulliger Professor, der Kriminalromane liebt und als Hobbydetektiv arbeitet, und natürlich ein rätselhafter Mord – das sind die Zutaten zu diesem schon älteren Kriminalroman, der nichts von seinem Witz verloren hat. Der Roman beginnt mit der Beschreibung der Zugfahrt von London nach Oxford, und schon zu Beginn zeigt der Autor seinen Sprachwitz und seine Freude an Ironie und leicht bösem Humor. Der Leser weiß also, was ihn erwartet, und tatsächlich zieht sich dieser Unterton durch den ganzen Roman hindurch. Das ist auch das Verdienst des Sprechers, der hörbar seine Freude an bissigen Seitenhieben und Anspielungen hat.

Das Personal wirkt aufgrund der Menge zunächst verwirrend, aber hier schafft der Autor schnell Ordnung, indem er die einzelnen Figuren durch Dialoge nahe an den Leser heranrückt und ihnen Unverwechselbarkeit verleiht.
Die beiden Ermittlerfiguren haben mir in ihrer Ambivalenz sehr gut gefallen. Da ist Fen, Professor für englische Literatur und begeisterter Leser von Detektivromanen – und da ist sein Freund Sir Richard, Chef der Oxforder Polizei, dessen Hobby die englische Literatur ist. Jeder mischt sich mit höchst kritischen und spitzen Bemerkungen in das Metier des anderen ein, und ihre Dialoge sind entsprechend gewürzt, sehr zum Vergnügen des Lesers. Um diese beiden Zentralfiguren herum schart sich das restliche Personal, und jeder wird auf seine Weise konturiert und leicht überzeichnet dargestellt.
Fen weiß recht schnell, wer der Täter ist – und da hätte ich mir gewünscht, dass er den Leser gelegentlich an seinen Überlegungen teilhaben lässt. Das macht er nicht, und so gerät das finale Tableau mit der Aufklärung etwas umfangreich, aber nicht weniger spannend.

Am Schluss steht wieder eine Zugfahrt, dieses Mal von Oxford nach London zurück, und damit rahmt der Autor seinen Roman ein und beschließt einen wunderbar nostalgischen Detektivroman.