Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Aischa

Bewertungen

Insgesamt 575 Bewertungen
Bewertung vom 28.02.2022
Milch Blut Hitze
Moniz, Dantiel W.

Milch Blut Hitze


ausgezeichnet

Dantiel W. Moniz erzählt in elf Kurzgeschichten von Identität, Freundschaft, Liebesbeziehungen und immer wieder auch von Sterblichkeit. Die Protagonisten sind zumeist afroamerikanische Mädchen und Frauen, Männer spielen eher Nebenrollen oder sind gänzlich abwesend.

Beeindruckt hat mich einerseits, wie leicht es der Autorin gelingt, mich in mir eigentlich völlig fremde Lebenswelten eintauchen zu lassen. Egal ob eine Zehnjährige bei der Großmutter aufwächst, weil ihre Eltern in lebenslänglicher Haft sind, oder ob gelangweilte Reiche den ultimativen Kick in Kannibalismus suchen - die Lektüre wühlt einen auf, und doch wirkt alles erstaunlich real.

Als roten Faden, der allen Geschichten gemeinsam ist, konnte ich den Versuch ausmachen, hinter die Maske zu blicken, die wir nur allzu oft tragen. Sehen wir uns wirklich an, hören wir uns aufrichtig zu. Und sind wir bereit, den Menschen zu erkennen, dem wir begegnen, oder bevorzugen wir das Bild aufrechtzuerhalten, das wir uns bereits gemacht haben? Moniz hat ein starkes, tabuloses Plädoyer für Aufmerksamkeit und Mut zur Ehrlichkeit geschrieben.

Bewertung vom 18.02.2022
Das giftige Glück
Lerchbaum, Gudrun

Das giftige Glück


ausgezeichnet

Es ist ein hoch interessantes Gedankenspiel, das Gudrun Lerchbaum ins Zentrum ihres neuen Romans stellt: Was wäre, wenn man sich auf einfache Weise selbst töten könnte und das Sterben dabei nicht nur schmerzfrei, sondern sogar von großen Glücksgefühlen begleitet wäre? In der Geschichte wird dies durch Vergiftung mit einer wild wachsenden neuen Bärlauchvariante möglich. Und die Bevölkerung macht rasch und in großer Zahl Gebrauch von dem neuen Gift, man trifft sich etwa zu "Suicide Lunches" - die euphorische Selbsttötung in angenehmer Atmosphäre scheint eine attraktive Alternative zum unglücklichen Leben zu sein.

Der Roman ist eine äußerst gelungene Melange aus Dystopie, Krimi, Gesellschafts- und Medienkritik. Auch die Corona-Pandemie ist Thema; die Geschichte spielt in naher Zukunft. Geschickt bringt die Autorin auch noch Reizthemen wie Sterbehilfe oder die persönliche Freiheit versus gesellschaftliche Verantwortung unter, ohne damit den Plot zu überfrachten. Herausgekommen ist eine Story, die spannend, kurzweilig, überraschend und witzig ist und erschreckend realistisch erscheint.

Die Autorin - im Hauptberuf Architektin - weiß nicht nur Gebäude, sondern auch Geschichten mit sicherer Hand zu konstruieren. Für mich ist hier alles stimmig. Die, teils recht schrägen, Charaktere skizziert Lerchbaum schnell und treffend, sie hat einen guten Blick für Details und ironisch-bissige Dialoge unterhalten bestens.

Ein intelligenter Roman, der sich hervorragend dazu eignet, in großer Runde diskutiert zu werden.

Bewertung vom 11.02.2022
Gemeinsam gegen Osteoporose
Riepenhof, Helge;Stromberg, Holger

Gemeinsam gegen Osteoporose


gut

Richtige Ernährung und gezieltes Training der Muskulatur können das Osteoporose-Risiko deutlich senken beziehungsweise die Symptome verbessern, falls man bereits an Knochenschwund leidet.

Das Autorenduo - ein Koch und ein Mediziner - legt den Fokus seines Ratgebers sinnvollerweise auch auf Bewegung und Rezepte. Die vorgestellten Übungen sind alltagstauglich und kommen, bis auf diejenigen mit Schwingstab, ohne Geräte aus. So kann man nicht nur gleich zu Hause loslegen, sondern beispielsweise auch im Büro während einer Pause trainieren. Aber was nutzen die besten Übungen, wenn der "innere Schweinehund" zu groß ist? Hier helfen die einfachen, aber äußerst wirksamen Motivationstipps.

Leider kann der Rezeptteil, der noch dazu den größten Umfang des Buchs einnimmt, nicht mit dem Trainingsteil mithalten. Ich probiere wirklich gerne Neues aus und habe eine recht gut sortierte Vorratshaltung. Doch für viele der hier vorgestellten mehr als 50 Rezepte braucht man wirklich ungewöhnliche Zutaten, etwa Kamut (ein spezielles Getreide), Piment d`Espelette, Algenöl oder Süßlupinen-Schrot. Wenn man auf dem Land wohnt, weit entfernt vom nächsten Bioladen, und man nicht online bestellen möchte, ist schon der Einkauf eine Herausforderung. In meinen Augen ist das ein großen Manko, zumal von Osteoporose sehr viele alleinstehende ältere Menschen betroffen sind, die nicht mehr so mobil sind. Schade, dass Spitzenkoch Holger Stromberg dies offenbar nicht bedacht hat, er hätte sonst zumindest praktischere Alternativen auflisten können. Peinlich ist überdies, dass Risoni als Reisnudeln bezeichnet werden, handelt es sich doch lediglich um Teigwaren in Reisform, nicht jedoch aus Reismehl. Die Rezepte selbst sind übersichtlich und gut beschrieben, überwiegend vegetarisch, teils vegan.

Der Theorieteil bietet einen guten ersten Überblick, medizinisches Wissen wird leicht verständlich und unterhaltsam vermittelt. Nur bei den medikamentösen Therapien fehlen leider die Wirkstoffe Denosumab (seit 2010 zugelassen) und Romosozumab, das immerhin seit zwei Jahren auf dem deutschen Markt ist. Hier hätte der Sportmediziner Dr. Helge Riepenhof besser recherchieren müssen.

Die Gestaltung des hochwertigen Hardcovers ist modern und ansprechend. Und so ist der Ratgeber insgesamt durchaus empfehlenswert, zumindest, wenn man den Aufwand beim Einkaufen nicht scheut.

Bewertung vom 08.02.2022
Eine muss die Erste sein
Mayer, Waltraud;Mayer-Frohn, Doris

Eine muss die Erste sein


gut

Waltraud Mayer blickt mit diesem Buch auf ihre aktive Zeit im Rettungsdienst beim Bayerischen Roten Kreuz zurück. In über drei Jahrzehnten hat sie Beeindruckendes erlebt und geleistet. Anfangs versorgt sie bei Santitätsdiensten meist kleinere Wunden, später ist sie im Rettungsdienst bei dramatischen Unfällen oder Suiziden auch oft mit dem Tod konfrontiert.

Ihre biografische Rückschau bietet einen guten Überblick über die Vielfalt des Rettungswesens wie auch über die Entwicklung der verwendeten Ausrüstung. Waltraud erzählt von den Widerständen, die sie als erste Frau im deutschen Rettungsdienst überwinden musste - überraschenderweise kam Gegenwind auch aus den Reihen der weiblichen Rotkreuzlerinnen. Doch sie setzt sich durch, und nach einigen Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit greift Waltraud zu, als sich ihr die Chance bietet, ihre Leidenschaft auch zur Profession zu machen: Sie wird die erste hauptamtliche Rettungssanitäterin in Lindau.

Etwas mehr Professionalität hätte allerdings auch diesem Buch gut getan. Zwar hat Waltraud Mayer ihre Erinnerungen nicht selbst niedergeschrieben, sondern als Co-Autorin fungierte ihre Tochter Doris Mayer-Frohn. Ich weiß nicht, welche Beweggründe zu dieser Entscheidung führten; laut Klappentext hat Mayer-Frohn "eine pädagogische Ausbildung absolviert". Waltraud wäre aber besser beraten gewesen, jemanden mit Erfahrung als Schriftsteller für ihre Biografie zu verpflichten. Denn so werden ihre zweifelsohne erinnernswerten Erlebnisse leider oftmals durch sprachliche Mängel getrübt. Mehr als einmal mutet die Erzählung wie ein (nicht sonderlich gelungener) Schulaufsatz an. Zudem hätte ich mir etwas mehr Tiefgang und Ausgewogenheit gewünscht. Bekanntermaßen gibt es ja immer zwei Seiten einer Medaille, und es wäre doch interessant, zu erfahren, was hinter Waltrauds Auseinandersetzung mit ihrem Chef steckte, und nicht nur, dass diese sie letztlich dazu bewogen haben, Altersteilzeit zu beantragen.

Was bleibt nach der Lektüre? Großer Respekt vor der beachtlichen Lebensleistung einer Rettungsdienstpionierin, die den obersten Grundsatz des Roten Kreuzes verkörpert: Menschlichkeit.

Bewertung vom 04.02.2022
Alkoholfreie Drinks
Derndorfer, Eva;Fischer, Elisabeth

Alkoholfreie Drinks


ausgezeichnet

​​​​​Es gibt viele Gründe, keinen Alkohol zu trinken, auf gute Drinks muss man dennoch nicht verzichten: Dieses hochwertig gestaltete Hardcover bietet hundert Prozent Genuss bei null Promille!

Trinken ist auch ein Sinneserlebnis und als solches natürlich Geschmackssache; was der einen zusagt, dabei verzieht der andere den Mund. Um so erfreulicher, dass hier gleich mehr als hundert Rezepte mit einer großen Bandbreite darauf warten, verkostet zu werden. Darunter finden sich alkoholfreie Varianten von Klassikern wie Aperol Spritz, Kir Royal oder Traminer. Es werden süße Liköre und Sirups eingekocht, aber auch Fans von sauren oder bitteren Geschmacksnoten kommen auf ihre Kosten.

Die Drinks sind praktisch nach Jahreszeiten (Sommer - Winter) bzw. Frucht, Wein und Cocktails sortiert. Und da das Auge nicht nur mit isst, sondern auch mit trinkt, gibt es eine kurze Gläserkunde, und zu jedem Rezept ist angegeben, in welchem Glas das Getränk stilvoll serviert wird.

Die Rezepte kommen mit wenigen und fast ausnahmslos gängigen Zutaten aus, sie sind schnell und unkompliziert gemixt. Tipps und Variationen bringen noch mehr Vielfalt in die Kehle, und besonders gefällt mir, dass die Autorinnen auch Hinweise geben, zu welchen Speisen die Drinks die optimalen Begleiter sind. Mit ganzseitigen Fotos und modernem, übersichtlichen Layout punktet dieses Werk auch optisch.

Ich bin begeistert und möchte das rundum gelungene Buch nicht mehr missen. Einen winzigen Kritikpunkt habe ich dennoch: Der matte Einband verschmutzt leicht und ist dadurch nur bedingt küchentauglich.

Meine Empfehlung lautet daher: Kaufen - in Schutzfolie einbinden - Drinks mixen und genießen!

Bewertung vom 01.02.2022
Endometriose - Die unterschätzte Krankheit
Mechsner, Sylvia

Endometriose - Die unterschätzte Krankheit


ausgezeichnet

Endometriose ist eine der häufigsten chronischen Krankheiten bei geschlechtsreifen Frauen, und doch führt sie ein Schattendasein. Andere Volkskrankheiten wie Diabetes werden meist schnell erkannt; dagegen haben von Endometriose Betroffene oft einen jahrelangen Leidensweg hinter sich, bis die korrekte Diagnose gestellt wird. Autorin Prof. Dr. med. Sylvia Mechsner ist angetreten, um dies zu ändern.

Im vorliegenden Ratgeber informiert die Ärztin eingehend über das Krankheitsbild, Entstehung und Symptome der Endometriose. Dabei bleiben den Leser*innen medizinische Fachbegriffe nicht erspart, doch dank vieler Abbildungen und Grafiken und auch einiger erklärender Wiederholungen werden auch komplizierte Sachverhalte verständlich erklärt. Prof. Dr. Mechsner hat nicht nur einen Lehrstuhl für Endometrioseforschung, sondern leitet auch das Endometriosezentrum der Berliner Charité. Davon profitiert dieses Buch, man merkt, dass Mechsner nicht nur fundiertes Fachwissen hat, sondern auch einen respektvollen, wertschätzenden Umgang mit ihren Patientinnen pflegt. Überraschend für ein Sachbuch ist, dass die Autorin auch subjektive Meinungen

vertritt. Da diese als solche deutlich sichtbar sind, ist dagegen auch nichts einzuwenden, im Gegenteil, es erhöht in meinen Augen sogar die Glaubwürdigkeit.

Wertvoll sind die zahlreichen weiterführenden Informationen im Anhang, bei denen Betroffene zusätzlich Hilfe suchen können.

Ein sehr hilfreiches Werk, das nicht nur jede Frau mit Unterleibsbeschwerden oder unerfülltem Kinderwunsch, sondern auch alle Frauen- und Hausärzt*innen kennen sollten!

Bewertung vom 31.01.2022
Die Brücke der Ewigkeit / Die Baumeister Bd.1
Hector, Wolf

Die Brücke der Ewigkeit / Die Baumeister Bd.1


ausgezeichnet

Wolf Hector tritt mit "Die Brücke der Ewigkeit" erstmals als Romanautor in Erscheinung - ein Erstlingswerk also? Mitnichten, vielmehr hat sich der mehrfach preisgekrönte Autor Thomas Ziebula lediglich ein weiteres Pseudonym zugelegt. Er ist in verschiedenen Genres zu Hause: Neben Fantasy- und historischen Kriminalromanen hat er bereits mehrere Historienromane veröffentlicht, die mir allesamt sehr gut gefallen haben.

"Die Brücke der Ewigkeit" legt noch eine Schippe oben drauf, hier stimmt einfach alles. Hector startet ungewöhnlich, in dem er scheinbar gleich mit dem ersten Kapitel "Das Ende" des Romans beschreibt. Doch keine Sorge, dies geht keineswegs zu Lasten der Spannung, im Gegenteil. Denn natürlich verrät der Anfang nur einen Teil des Ausgangs der Story, und man erliest sich quasi peu à peu viele Puzzleteilchen, die erst zum Ende ein - rundum stimmiges - Gesamtbild ergeben.

Im Zentrum der Geschichte steht der Bau der Karlsbrücke, und was mir besonders gefallen hat, sind zahlreiche historische Details über den damaligen Brückenbau. Nicht nur die Widrigkeiten, mit denen die Baumeister zu kämpfen hatten, wie mehrere Hochwasserfluten oder der unebene felsige Untergrund, sondern auch Amüsantes, wie etwa die Beimischung von Eiern und Quark, um dem verwendeten Mörtel mehr Festigkeit zu verleihen. Neben Handwerkern spielen Kirchenvertreter, Adelige, Prostituierte und Astrologen eine Rolle, insofern ist dieser Roman auch ein anschauliches Sittengemälde des mittelalterlichen Prags.

Trotz der über 600 Seiten wird es nie langweilig. Dafür sorgen Zeitwechsel, interessante, glaubhafte Figuren, eine gute Mischung aus sympathischen und schrecklichen Charakteren, aber ohne ausschließliche Schwarz-weiß-Malerei sowie reichlich Verrat und Intrigen. Und auch die Liebe, in verschiedenen Facetten, kommt nicht zu kurz.

Der Ullstein Verlag hat dieses Taschenbuch sehr schön ausgestattet: Neben Personenverzeichnis, Zeittafel und einem Glossar verwendeter mittelalterlicher Begriffe findet sich auch eine Karte Prags um 1400.

Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung für Liebhaber guter Historienromane. Ein kleiner Wunsch zum Schluss: Ich hoffe, dass nun erst mal Schluss mit neuen Pseudonymen ist - nicht dass ich dadurch eine Neuveröffentlichung des von mir geschätzten Autors nicht als solche erkenne ...

Bewertung vom 19.01.2022
Eure Leben, lebt sie alle
Hein, Sybille

Eure Leben, lebt sie alle


ausgezeichnet

Eins vorweg: Das Cover ist das schlechteste an diesem Buch, es wird dem äußerst gelungenen Roman nicht ansatzweise gerecht.

Autorin Sybille Hein lässt uns auf unterhaltsame und intelligente Weise am Leben ihrer fünf Protagonistinnen teilhaben. Da ist etwa Psychologin Ellen, die ihrer jugendlichen Ungebundenheit hinterher trauert, die sie einstmals als Sängerin einer Band ausleben konnte. Und so flüchtet sich Ellen aus dem Trott zwischen Familienalltag und Praxis in eine Affäre mit einem Toyboy. Oder die stets perfekt gestylte Luise, die ihre Selbstzweifel hinter einer Wand aus Regeln und Erwartungen versteckt, unter denen nicht nur ihre Familie, sondern auch sie selbst leidet. Sie mutiert zu einem Kontrollfreak, die an Bree aus der TV-Serie "Desperate Housewives" erinnert.

Gemeinsam ist den Figuren, dass sie im Lauf ihres Lebens eine Fassade errichtet haben, dass sie dem entsprechen, was andere von ihnen erwarten, oder auch einem Bild, das sie selbst einmal von sich gezeichnet haben. Auf der Strecke geblieben ist dabei, inne zu halten und sich selbst ehrlich zu betrachten. Bestandsaufnahme des eigenen Lebens zu machen, sich an Träume zu erinnern, Wünsche zu hinterfragen. Und vor allem: sich nicht nur einzugestehen, wenn man in der Vergangenheit Fehler gemacht hat, sondern diese auch zu korrigieren, selbst wenn beides Mut erfordert.

Hein ist es gelungen, höchst verschiedene Charaktere zu schildern, die einem sofort vertraut erscheinen. Sie erinnern an eine Arbeitskollegin, Nachbarin, Tante - oder auch ein wenig an sich selbst. Hein schreibt kraftvoll, witzig und bringt zum Nachdenken. Gute Unterhaltungsliteratur - die ich von dem albernen Einband befreit habe.

Bewertung vom 19.01.2022
Survival
Atwood, Margaret

Survival


gut

Margaret Atwood zählt zu den wenigen kanadischen Autorinnen und Autoren, die es zu Weltruhm gebracht haben. Ihre Dystopie "Der Report der Magd" wurde in zahlreichen Ländern ein Bestseller. Nun ist Atwoods Analyse der literarischen Landschaft ihrer Heimat erstmals auf Deutsch verlegt worden, knapp 50 Jahre nach Veröffentlichung des Originals.

Ich mag Atwoods Romane, stellte vor der Lektüre von "Survival" selbstkritisch fest, dass ich wenig über Kanada und noch weniger über Canlit wusste und stürzte mich erwartungsvoll auf die vom Verlag recht vollmundig als skandalös und hochamüsant angepriesene Literaturgeschichte.

Was habe ich durch das Buch gewonnen? Nun, durchaus an Erkenntnis, etwa dass Atwood das Überleben als eines der zentralen Symbole kanadischer Literatur ausmacht. Dass die Natur von kanadischen Autoren als zerstörerisch und brutal beschrieben wird, dass ihre Protagonisten verzweifelte Verlierer sind, geprägt von der kolonialen Ausbeutung ihrer Heimat.Die Zukunft einer Nation benötigt eine identitätsstiftende Vergangenheit, und der Blick auf den Ist-Zustand der Literatur kann sicher zum (Selbst-)Verständnis einer Nation beitragen. Allerdings kann ich Atwoods Thesen nicht einmal ansatzweise bewerten, kenne ich doch so gut wie keines der zahlreich zitierten Werke. Überdies ist ihre Analyse veraltet, sie bildet den Status von vor 50 Jahren ab. Und das ist mir zu wenig. Ich frage mich einerseits, wieso Atwood es - abgesehen von weiteren Vorworten - nicht für sinnvoll und nötig erachtete, ergänzende Kapitel zur jüngeren Canlit zu verfassen. Außerdem würde ich gerne wissen, wieso der Verlag ein derart angestaubtes und veraltetes Buch gerade jetzt erstmals in Deutsch veröffentlicht. Vermutlich wäre das ohne Atwoods Prominenz und der Tatsache, dass Kanada Gastland der letzten Frankfurter Buchmesse war nicht geschehen.

Was mich ferner stört ist die Verwendung des Begriffs "amerikanische Literatur", wenn US-amerikanische Literatur in Abgrenzung zur Canlit gemeint ist. Was ist mit der Literatur aus Mittel- und Südamerika? Aber es kommt noch schlimmer: Dass Atwood es bei der Neuauflage von 2013 nicht erforderlich fand, die postkoloniale, äußerst negativ besetzte Fremdbezeichnung "Indianer" durch First Nations oder Natives zu ersetzen, ist inakzeptabel und ignorant. Dass der berlin Verlag sich hier mit einer einzigen, winzigen Fußnote aus der Verantwortung stiehlt, enttäuscht mich überdies. Ich wünsche mir hier, dass man Haltung zeigt. Ebenso sollte man wissen, dass Atwood - selbst Anglokanadierin - auf die frankokanadische Literatur nur stiefmütterlich eingeht.

Für mich ein insgesamt durchwachsenes Leseerlebnis, leider.

Bewertung vom 17.01.2022
Die Schule der Redner
Seeger, Johann

Die Schule der Redner


sehr gut

Hätte man mich vor der Lektüre dieses Romans nach einer Gemeinsamkeit von Rittern und Rhetorik gefragt, hätte ich wahrscheinlich erst gestutzt und dann etwas von "Minnegesang" gemurmelt.

Johann Seeger aber fügt die beiden Felder in seinem Erstlingsroman geschickt zu einem spannenden Plot, in dem Ritter und Vertreter verschiedener Religionen um die Macht des Wortes ringen. Man merkt der Erzählung an, dass der Autor hauptberuflich Rhetoriktrainer ist. Geschickt erteilt er seinen Leser*innen quasi nebenbei die ein oder andere Lektion in der Kunst der Rede. Ich habe dies mit großem Genuss und viel Gewinn gelesen, denn es kommt keineswegs schulmeisterlich daher, sondern ist sehr mitreißend und kurzweilig . Leider fällt bisweilen aber auch auf, dass es Seegers erster Historienroman ist. So gibt es den ein oder anderen (kleinen) Anschluss- oder Logikfehler, und dass der Ausdruck "Kartoffelnase" einen vorgreifenden Anachronismus darstellt, hätte der ausgewiesene Mittelalterfan Seeger eigentlich wissen müssen.

Darüber kann man aber großzügig hinwegsehen, wenn man vor allem spannende Unterhaltung möchte. Denn die liefert Seegers ohne Frage: Atemberaubende Verfolgungsjagden wechseln sich mit grausamen Folterszenen ab, die Erzählung ist temporeich, dicht und gefühlvoll. Ab und an haben mir die Protagonisten ein Quäntchen zu viel Glück oder scheinen regelrechte Zauberkräfte zu entwickeln, aber sei´s drum ... Etwas mehr hat mich gestört, dass der Plot zum Ende hin zunehmend in Richtung Fantasy geht, das ist einfach nicht mein Genre.

Dennoch gibt es von mir eine klare Leseempfehlung für alle Liebhaber guter Mittelalterromane, die überdies Interesse an Rhetorik haben. Besonders gefallen hat mir das persönliche Nachwort des Autors, in dem er nicht nur erklärt, wie Sprache anhand von Agitation und Propaganda missbraucht wird, sondern auch dazu aufruft, sich durch rhetorische Kenntnisse genau davor zu schützen.