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YukBook
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München

Bewertungen

Insgesamt 317 Bewertungen
Bewertung vom 08.02.2020
Skandalös
De Stefano, Cristina

Skandalös


sehr gut

Ich muss gestehen, ich kenne nur wenige der Frauen, die Cristina de Stefano in diesem Buch vorstellt. Niki de Saint Phalle zum Beispiel, die durch ihre voluminösen Nana Skulpturen berühmt wurde. Oder Nina Simone mit ihrem unvergesslichen Song "My Baby Just Cares For Me". Doch auch über diese Künstlerinnen lernte ich völlig neue Seiten kennen, die deutlich machen, warum sie in diesem Buch aufgenommen wurden.

Frauen wie Mina Loy, Else Laske-Schüler oder Louise Bourgeois haben eines gemeinsam: Sie verwandelten ihren tiefen Schmerz aus traumatischen Kindheitserlebnissen in Energie und unglaubliche Schaffenskraft. Manche verarbeiteten ihre Wut textlich und veröffentlichten skandalöse Gedichte oder Romane, andere in Form von provozierenden Fotografien oder Skulpturen.

Mir gefiel, dass Cristina de Stefano in jedem Kurzporträt jeweils auf die Herkunft und das Umfeld eingeht, in dem die Frauen aufwuchsen. Dabei stellt sie prägende Beziehungen und einschneidende Erlebnisse heraus, die erklären, warum sie einen so unkonventionellen Weg eingeschlagen haben. Manche Frauen bewunderte ich für ihren Mut, ihre Kreativität und Produktivität, andere fand ich ein wenig furchteinflößend, da sie auch vor exzessivem Alkoholkonsum, Gewalt und kriminellen Taten nicht zurückschreckten, um zu rebellieren und zu schockieren. Schön, dass jedes Kapitel mit einer ganzseitigen Schwarzweißfotografie beginnt, so dass man jeder Person ein Gesicht zuordnen und sie in verschiedenste Länder wie Frankreich, Finnland, Kuba, Mexiko oder Vietnam begleiten kann.

Bewertung vom 04.02.2020
Auf einen Kaffee mit Kant
Robert, Marie

Auf einen Kaffee mit Kant


ausgezeichnet

Wer daran zweifelt, dass philosophische Anschauungen praxistauglich sind, sollte dieses Buch lesen. Marie Robert beschreibt höchst anschaulich zwölf typische Krisensituationen, die dem Leser mal mehr, mal weniger bekannt vorkommen dürften. Doch statt aus eigenen Erfahrungen zu schöpfen und selbst Hilfestellung zu bieten, holt sich die Autorin Rat von berühmten Philosophen wie Kant, Heidegger oder Spinoza. Was würde Aristoteles dazu sagen, wenn man sich fest vorgenommen hat, auf Parties nicht mehr über die Stränge zu schlagen und doch wieder in alte Muster verfällt? Was würde Mill dazu sagen, wenn man ehrlich zu seiner Freundin sein möchte ohne sie zu verletzen?

Selten wurde der Unterschied zwischen aktivem und passivem Nihilismus nach Nietzsche, Levinas altruistische Ethik oder Wittgensteins Auffassung von Kultur so verständlich auf den Punkt gebracht und lebensnah vermittelt. Und selten so unterhaltsam! Mehrmals musste ich laut auflachen, zum Beispiel als ein Kulturclash beim ersten Treffen mit den Schwiegereltern beschrieben wird. Die Texte sprühen nur so vor geistreicher Ironie und Situationskomik. Ich war erstaunt, wie viele philosophische Themen zeitlos sind und sich auf unsere heutige Lebenslage genauso übertragen lassen wie auf den Alltag in der Antike.

Ob verzweifelte Eltern, trauernde Singles oder enttäuschte Start-Up Unternehmer - eine sehr breite Zielgruppe könnte in diesem Büchlein Trost und aufmunternde Worte finden und Lust bekommen, sich mit dem einen oder anderen großen Denker näher zu beschäftigen.

Bewertung vom 01.02.2020
Im Licht der Zeit
Rai, Edgar

Im Licht der Zeit


ausgezeichnet

Der Tonfilm – für uns das Selbstverständlichste der Welt, in den 1920er Jahren eine Erfindung, die als revolutionär gefeiert wurde. In diesem Roman schildert Edgar Rai die Entstehung des ersten großen deutschen Tonfilms "Der Blaue Engel", der mit dem Oscar-Preisträger und Egomanen Emil Jannings und der noch völlig unbekannten Marlene Dietrich verfilmt werden soll. Bis dahin ist es für die Revue-Sängerin, die ihre Laufbahn als Geigenspielerin begann und vergeblich auf einen Durchbruch als Schauspielerin wartete, ein weiter Weg.

Von Anfang an faszinierte mich die Figur der Marlene, die Rai in all ihren Facetten zum Leben erweckt: Einerseits ist sie eine verführerische und vergnügungssüchtige Frau, die sich ohne jede Scheu nimmt, was sie begehrt; andererseits eine unglückliche und schuldbewusste Mutter, die unter der Kühle ihrer Tochter leidet; in jedem Fall aber eine schlagfertige und selbstbewusste Frau, die ihre Stärken zu ihren Gunsten einzusetzen weiß.

Ihre Wandlung von einer unbedeutenden Revuenummer zum Publikumsliebling vollzieht sich inmitten eines quirligen Settings, in dem für jeden Beteiligten, vom Darsteller über den Drehbuchautor und Regisseur bis hin zum Ufa-Boss, alles auf dem Spiel steht und die menschlichen Reibereien und kochenden Emotionen in jeder Zeile zu spüren sind. Der Autor gibt nicht nur jeder Figur genügend Raum zur Entfaltung, sondern zeichnet uns auch ein üppiges Bild der Berliner Künstlerszene, die durch Unterhaltung, Zerstreuung, Leichtfertigkeit und Zügellosigkeit geprägt war. Für Cineasten und Fans der Goldenen Zwanziger ein wahrer Lesegenuss!

Bewertung vom 16.12.2019
So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche
Knausgard, Karl Ove

So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche


ausgezeichnet

Schon in seinem Jahreszeiten-Zyklus beschäftigte sich Knausgård mit dem Thema Kunst und bereicherte seine Romane durch Illustrationen von Anna Bjerger und Aquarelle von Anselm Kiefer. Mit diesen Künstlern gibt es in diesem Buch ein Wiedersehen, doch im Mittelpunkt steht ein anderer Maler: Edvard Munch, dessen Ausstellung er vor zwei Jahren in Oslo kuratierte und die derzeit in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen im K20 zu sehen ist.

Der Autor bringt uns in seinem Buch den eigenbrötlerischen Künstler näher, der zahlreiche persönliche Verluste erleiden musste und stellt eine Verbindung zwischen den tragischen Erlebnissen und den stark emotional aufgeladenen Bildern her. Er erläutert die verschiedenen Schaffensperioden, aus denen nur ein Bruchteil, darunter "Der Schrei", bekannt wurde. Gerade den unbekannteren Bildern will sich der Schriftsteller nähern, fährt zu Orten, an denen Munch lebte, und tauscht sich mit Kunstexperten und -kritikern aus. Wenn er das Bild "Asche" von Munch mit "Echo Lake" von Peter Doig vergleicht, stellt er sehr detailliert die Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Am liebsten möchte man beide Bilder vor sich sehen, doch das hätte den Rahmen des Buches gesprengt. Immerhin enthält es 14 Reproduktionen von bedeutenden Werken.

Der Schriftsteller schreibt über die allgemeine Rezeption von Munchs Werken, vor allem aber über seine eigene Beziehung zu dem Künstler und versucht zu ergründen, warum ein Bild wie "Kohlacker" derart starke Gefühle in ihm auslöst. Dies führt ihn wiederum zu der nächsten Frage, was Kunst eigentlich für uns Menschen bedeutet und warum wir sie brauchen. Bei dem Versuch, Munch zu verstehen, zieht er auch Vergleiche mit Künstlern aus Film, Fotografie und Literatur wie Fjodor Dostojewski oder Knut Hamsun.

In dieser sehr vielschichtigen Lektüre lernen wir nicht nur Munch und Knausgård näher kennen, sondern werden auch mit philosophischen Gedanken konfrontiert, zum Beispiel welche Rolle Wissen bei unserer Wahrnehmung und Empfindung spielt oder was die kreative Tätigkeit ausmacht. Interessant ist ebenso zu erfahren, wie Knausgård bei den Vorbereitungen der Munch-Ausstellung vorging und welche Unsicherheiten und Zweifel ihn bei der Auswahl der Gemälde und Druckgrafiken plagten. Ich kann es kaum erwarten, die aktuelle Ausstellung in Düsseldorf zu besuchen und die Sammlung sowohl mit Knausgårds als auch mit eigenen Augen zu sehen.

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Bewertung vom 08.12.2019
In den Straßen der Welt
Brechtig, Frauke

In den Straßen der Welt


ausgezeichnet

Denkt man an Städte wie London, Berlin oder New York, kommen einem ganz bestimmte Flaniermeilen und Plätze in den Sinn. Insgesamt sechzehn stellt dieser großformatige Band vor. Schlägt man eine Doppelseite auf, taucht man gleich in das Geschehen ein, zum einen weil der Fluchtpunkt der Straßen eine Sogwirkung ausübt, zum anderen, weil die Zeichnungen von Agusti Sousa so farbenfroh und einladend sind.

Trotz der eher skizzenhaften Darstellung wird die Stimmung und Gesamtatmosphäre sehr gut eingefangen. So habe ich die Rambla in Barcelona genauso in Erinnerung wie in der Zeichnung von Sousa. Die typischen Eigenheiten wie der Doppeldeckerbus in London, die Radfahrer und Hausboote in Amsterdam oder die Gondeln in Venedig, die das jeweilige Stadtbild prägen, werden lebendig in Szene gesetzt.

Kurze Texte erläutern, wie die Straße zu ihrem Namen kam, wie sie sich historisch verändert oder welche Bedeutung sie heute hat. Wer wie ich eine Schwäche für gelungene Illustrationen und Wimmelbilder hat, wird sich sicher nicht sattsehen können an den vielen Details. Worüber unterhält sich wohl das Paar, das an einem Brunnen auf dem Platz Rynok im ukrainischen Lwiw steht? Und was für einen Ausflug plant die Familie mit Rucksäcken, die auf die Lombard Street in San Francisco zusteuert? Sowohl Kinder als auch Erwachsene werden Spaß an den Bildern haben. Sie regen die Fantasie an, inspirieren Autor/innen zu neuen Geschichten und wecken die Lust, den nächsten Städtetrip zu planen.

Bewertung vom 04.12.2019
Ein Jahr voller Wunder
Burton-Hill, Clemency

Ein Jahr voller Wunder


ausgezeichnet

Selten hat mich eine Einleitung so angesprochen wie in diesem Buch. Clemency Burton-Hill beschreibt darin die Idee zu ihrem Musikkalender und ihr persönliches Anliegen, klassische Musik jedermann zugänglich zu machen, ganz gleich, wie viel man davon versteht. Sie ist überzeugt, dass Musik Kulturen verbindet und Grenzen überwindet. Der lockere Ton, der Humor und die Leidenschaft, die in ihren Worten mitschwingt, macht die Violinistin, Radio- und Fernsehmoderation sehr sympathisch.

Sie präsentiert 365 Stücke ihrer Wahl aus tausend Jahren Musikgeschichte, ordnet sie zeitlich ein und erläutert ihre Entstehungsgeschichte. Ich begann meine Lektüre im November. Neben bekannten Komponisten, von denen ich als Kind schon mehrere Stücke auf Klavier gespielt habe, wie Edvard Grieg oder Manuel de Falla, lernte ich eine Reihe neuer Musiker kennen. Besonders begeistert haben mich die Entdeckungen "La Nuit et l'Amour" von Augusta Holmès und "For Now I am Winter" von Ólafur Arnalds. Letzterer ist ein sehr vielseitiger isländischer Künstler und produziert Musik für Film- und Fernsehproduktionen sowie Auftragsarbeiten für Konzerthallen. Komponisten wie Heitor Villa-Lobos versuchten, ihr Interesse für europäische klassische Musik mit Klängen und Themen ihrer Heimat, in seinem Fall, Brasilien, zu verbinden. Ich kann immer mehr nachvollziehen, warum die Autorin Labels wie Klassik oder Popmusik als einschränkend empfindet.

Ich lerne nicht nur viele mir bisher unbekannte Musiker kennen, sondern lese auch über tragische Schicksale wie die von Fanny Mendelssohn, die mehr als 450 Stücke schrieb, doch nur einen einzigen öffentlichen Auftritt hatte. Die zeitgeschichtlichen Hintergründe und persönlichen Lebensgeschichten sind so spannend zu lesen, dass es mir schwerfällt, mich täglich auf ein Musikstück zu beschränken. Das liegt zum einen an dem wunderbaren Schreibstil der Autorin, die den Leser augenzwinkernd direkt anspricht, sondern auch daran, dass viele Emotionen im Spiel sind – schließlich geht es um Musik! Wir erfahren nicht nur, welche Gefühle wie Liebeskummer einen Künstler inspirierten, ein Musikstück zu schreiben, sondern auch, welche persönliche Bedeutung das eine oder andere Stück für die Autorin hat und welche Stimmung oder Emotionen es bei ihr auslöst.

Allein die Musikauswahl und Texte im November haben mir das Tor zu einer spannenden, reichen Musikwelt geöffnet, auch wenn mir nicht alle gleichermaßen gefallen. Ich freue mich auf eine spannende Entdeckungsreise im kommenden Jahr.

Bewertung vom 23.11.2019
Sei liebevoll umarmt
Thich Nhat Hanh

Sei liebevoll umarmt


ausgezeichnet

Von Thich Nhat Hanh habe ich schon so manch inspirierendes Zitat gelesen, doch noch kein Buch. Die Neuausgabe dieses Jahresbuchs war daher eine willkommene Gelegenheit, mich näher mit dem Zen-Meister und Friedensaktivisten zu beschäftigen.

Das Buch ist als Begleiter durch ein ganzes Jahr konzipiert und bietet jede Woche die Möglichkeit, eine spirituelle Weisheit näher zu vertiefen. Die Atmung spielt dabei immer wieder eine zentrale Rolle, um sich dem gegenwärtigen Moment zu öffnen und die Einheit zwischen Körper und Geist wiederherzustellen.

Bemerkenswert ist, dass sich im Alltag genügend Gelegenheiten ergeben, seine Anregungen in die Praxis umzusetzen, zum Beispiel wenn man wieder einmal von Einschlafproblemen gequält wird, sich mit seinem Partner streitet oder einen Wutausbruch hat. Es wird schnell deutlich, dass sich kleine Veränderungen in der eigenen Wahrnehmung oder im Verhalten auch auf größere Dimensionen übertragen lassen und jeder Einzelne zu einer friedlicheren Welt beitragen könnte.

Dinge, die ich im Alltag oft erlebe oder beobachte, beschreibt Thich Nhat Hanh sehr treffend, zum Beispiel dass in unserer Gesellschaft eine Gewohnheitsenergie entstanden ist, die uns ständig antreibt. Nicht nur die klugen Worte, sondern auch die farbenfrohen Landschaftsfotografien und Detailaufnahmen der Natur animieren dazu, unsere Umgebung und die Schönheit unserer Erde bewusst wahrzunehmen und zu schätzen.

Der Autor zeigt, dass wir durch die Praxis der Achtsamkeit nicht nur mit unseren individuellen Sorgen und Ängsten besser umgehen, sondern unsere Gesellschaft und Zukunft verändern und positiv beeinflussen können.

Bewertung vom 19.11.2019
Auf dem Seil
Mora, Terézia

Auf dem Seil


gut

Die ersten zwei Bücher der Trilogie von Terézia Mora muss man nicht gelesen haben, um in den dritten Band "Auf dem Seil" einzusteigen. Am Anfang des Romans erfährt man in kurzen Rückblicken, was dem Protagonisten Darius Kopp auf seiner langen Reise bisher widerfahren ist. Nun ist er auf Sizilien gelandet, hat endlich einen angemessenen Platz für die Asche seiner verstorbenen Frau gefunden und hält sich in Catania als Pizzabäcker über Wasser. Ungewöhnlich an dem Roman ist, dass die Autorin mitten im Kapitel die Erzählperspektive mehrfach wechselt. So bekommen wir einen tiefen Einblick in Darius' Gedankengänge, der trotz erfolgter Mission immer noch orientierungslos wirkt.

Als unerwartet seine Nichte Lorelei auftaucht, ist Darius einerseits gezwungen, sich erneut mit den Konflikten in seiner Familie auseinanderzusetzen, vor der er geflohen ist. Andererseits lenkt ihn der Teenager von seinen eigenen Problemen ab. Er willigt ein, die 17-Jährige für einige Zeit aufzunehmen und steckt seine ganze Energie in ihr Wohlergehen, da sie schwanger ist und unter permanenten Brechanfällen leidet. Bis dahin zog mich die Geschichte sehr in den Bann. Als die beiden jedoch nach Berlin reisen, verlor ich immer mehr das Interesse an der Handlung. Vielleicht lag es daran, dass auf einmal so viele Personen aus Darius' Vergangenheit auf der Bildfläche erscheinen, die ich nicht einordnen konnte. Hier wäre es vielleicht hilfreich gewesen, die ersten zwei Bände zu kennen.

Fasziniert hat mich Moras experimenteller Sprachstil, der auf originelle Weise die Innenwelten der verschiedenen Figuren beleuchtet. Für den Protagonisten, der ständig in das Leben anderer hineingerissen wird, statt selbst Fuß zu fassen, entwickelt man ein gewisses Mitgefühl. Meine hohen Erwartungen hat die Autorin des großartigen Erzählbands "Die Liebe unter Aliens" dennoch nicht erfüllen können.

Bewertung vom 15.11.2019
Mama hält mich fest, wenn ich lache
Coon, Peter

Mama hält mich fest, wenn ich lache


sehr gut

Stärken und Schwächen – ein interessanter Gegensatz, den Peter Coon in seinem dritten Kurzgeschichten-Band als zentrales Thema gewählt hat. Interessant deshalb, weil gerade die vermeintlich Schwachen oftmals ungeahnte Stärken entwickeln können, wie die Kurzgeschichte "Starksein ist Bürgerpflicht" zeigt. Die Protagonistin Helen, die sich an ihrem Geburtstag erneut dem Willen ihres Partners gebeugt hat und mit dem Wagen auf den nahegelegenen Berg gefahren ist, statt zu Fuß zu gehen, fasst auf dem Gipfel den Entschluss, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihren eigenen Weg zu gehen. Ich war beeindruckt, wie gut sich der Autor in die Gefühle einer Frau hineinversetzen und sie so eindringlich beschreiben kann.

Mir gefallen seine starken Metaphern: In der genannten Geschichte ist es die Gebirgswelt, auf die Helens Lebenssituation projiziert wird; In einer anderen sind es zwei Einkaufswägen in einem Supermarkt mit völlig unterschiedlichen Inhalten, die die Wahl zwischen aufregendem Nervenkitzel und solider Partnerschaft symbolisieren. Neben Beziehungen knüpft sich Peter Coon auch brisante Themen vor. In "Tor der Tränen" beschreibt er eine qualvolle Befragung, die ein Flüchtling erleiden muss und entwirft in "Kartoffelchips" ein Zukunftsszenario, in dem Bäume und Gräser zu einer Rarität geworden sind.

Sein Erzählton ist sehr vielseitig – mal witzig und frech, mal satirisch und bissig, mitunter auch einfühlsam und warmherzig, wie in der titelgebenden Story, die mich sehr berührt hat. Mit wenigen Ausnahmen haben mir die abwechslungsreichen Erzählungen großes Lesevergnügen bereitet.

Bewertung vom 11.11.2019
Wege ihrer Sehnsucht
Davis, Fiona

Wege ihrer Sehnsucht


ausgezeichnet

Der Titel war es sicher nicht, der meine Neugier auf diesen Roman weckte. Vielmehr reizte mich der Mix aus Themen und Schauplätzen, die mich alle gleichermaßen ansprachen: New York in den 1920er und 1970er Jahren, die Grand Central Station, eine Kunstschule und zwei starke Frauenfiguren.

Wie so oft spielt auch diese Geschichte auf zwei Zeitachsen, die sich aufeinander zubewegen. Im Jahr 1928 unterrichtet Clara Dayden Illustration in Grand Central School of Art im Grand Central Station und ist fest entschlossen, als Illustratorin Karriere zu machen. 46 Jahre später verirrt sich Virginia Clay, die seit kurzem am Informationsschalter des Grand Central Terminals arbeitet, in die ehemaligen Räume der Kunstschule und entdeckt ein Aquarell, dessen Herkunft nicht eindeutig ist. Das Bild übt eine magische Wirkung auf sie aus und gibt ihr so viel Kraft, um ihre aktuelle Lebenskrise zu bewältigen, dass sie Nachforschungen anstellt. Die Spur führt zu der einst gefeierten Künstlerin Clara Dayden, die seit einem Zugunglück im Jahr 1931 als verschollen gilt.

Die Autorin baut auf diese Weise einen Spannungsbogen auf und stellt dabei immer wieder die Charaktere, Schicksale und frappierenden Gemeinsamkeiten der beiden Protagonistinnen gegenüber. Trotz der tiefen Demütigungen, die beide Frauen erlitten haben, und der schwierigen Lebensumstände, zeigen sie eine enorme Willenskraft und Wagemut.

Mit großem Interesse habe ich die Diskussionen über Kunst versus Gebrauchsgrafik, den steilen Aufstieg und plötzlichen Absturz von Künstlerkarrieren und die Machenschaften im Kunsthandel verfolgt. Das rasante Erzähltempo, die Dramaturgie und das erzählerische Talent von Fiona Davis, die sich von wahren Begebenheiten zu der Geschichte inspirieren ließ, machen das Buch zu einem wahren Pageturner. Der Roman ist zugleich eine Hommage an die Kunst und an den Grand Central Station, dessen einstiger Glanz und besondere Bedeutung und Atmosphäre zum Leben erweckt werden.