Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
dracoma
Wohnort: 
LANDAU

Bewertungen

Insgesamt 245 Bewertungen
Bewertung vom 17.10.2022
Die Mauersegler
Aramburu, Fernando

Die Mauersegler


ausgezeichnet

Toni, Lehrer der Philosophie, will nicht mehr leben und beschließt seinen Selbstmord: nach Ablauf eines Jahres, am 1. August, wird er sich töten. Das Datum wählt er, weil dann die Mauersegler, die er um ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit beneidet, wieder in Richtung Süden ziehen werden. Bis dahin notiert er Tag für Tag seine Gedanken, Erlebnisse etc. auf, und so besteht dieses Buch aus einem Kapitel pro Tag und ist eher ein Tagebuch als ein Roman. In diesen vielen kleinen Kapiteln entfaltet sich vor dem Leser Tonis Leben. Die Episoden sind nicht chronologisch geordnet, sondern einzelne Facetten werden wie mit einem Schlaglicht beleuchtet. Tonis Alltag ist der eines durchschnittlichen Großstadtmenschen, eher eintönig, und seine Kontakte beschränken sich auf seinen Hund Pepa und wenige Menschen, darunter seinen einzigen Freund, der gemeinsam mit ihm Suizid begehen will.

Ein Sympathieträger ist dieser Toni sicherlich nicht. Obwohl er Philosophie studiert hat, ist er ausgesprochen oberflächlich. Er orientiert sich bei anderen Menschen an Äußerlichkeiten und schätzt, vermutlich unter dem Einfluss des Vaters, devote Frauen. Er hasst seine Schüler und seinen Beruf und ist der Inbegriff eines Misanthropen. Zudem gefällt er sich in seinem Lebensüberdruss und seiner negativen Grundeinstellung und tut sich selber unendlich leid. Aber trotzdem wächst einem dieser Toni, dieser Ritter von der traurigen Gestalt, ans Herz und man fragt sich beim Lesen zunehmend beklommener, ob er seinen Entschluss wirklich in die Tat umsetzen will.

Je näher der 1. August heranrückt, desto mehr kann man bei Toni eine Entwicklung beobachten. Er wird nicht im Frieden mit allen (vermuteten) Bösewichten aus dem Leben scheiden, aber er erkennt immerhin, dass er und sein Bruder ihre Mutter aufgrund ihrer Besitzansprüche um ihr eigenes selbstbestimmtes Leben gebracht haben. Da kommt Trauer auf, und das gilt auch gegenüber seinem Vater, der seine familiäre Dominanz mit Gewalttätigkeit behauptete und trotzdem litt. Er bedauert zutiefst, dass er niemals die Chance auf ein Gespräch wahrgenommen hat.

Und so bekommt die Lebensbilanz des Helden den Anstrich einer ars moriendi.

Besonders gut gefallen hat mir die Virtuosität, mit der der Autor das Titelmotiv, die Mauersegler, variiert und als omnipräsentes Leitmotiv verwendet, und Aramburu gelingt eine beeindruckende Szene, wenn der Protagonist kurz vor seinem geplanten Tod einen halbverwesten Mauersegler findet.

Der Roman ist über 800 Seiten stark, sicher hätte man ihn kürzen können, aber ich fand ihn keine Sekunde langweilig. Aramburu erzählt so humorvoll, so leichtfüßig und witzig, und der skurrile und teilweise erschreckend schwarze Humor seines Helden sorgt immer wieder für Heiterkeit, wobei sich Aramburu aber niemals in Slapstick oder Grobheiten verirrt. Dazu ist ihm sein Anliegen zu ernst:
die Klage um vertane und nicht genutzte Kommunikationsmöglichkeiten.

Bewertung vom 03.10.2022
Ich verliebe mich so leicht
Le Tellier, Hervé

Ich verliebe mich so leicht


ausgezeichnet

Gleich vorneweg: mir hat die Erzählung sehr gut gefallen!
Da reist ein etwas ältlicher Mann, hormongebeutelt und liebesblind, von Paris ins schottische Hochland, um seine wesentlich jüngere Geliebte zu sehen. Nichts klappt, wie er es sich vorgestellt hat: das Flugzeug startet mit stundenlanger Verspätung, das Hotel taugt nicht für die erhofften Liebesnächte, und auch seine ziemlich aufdringlichen Bemühungen um Liebesfreuden laufen ins Leere. “Amouröser Schiffbruch“, stellt der Held selber fest.
Und das alles erzählt Tellier in der altmodischen Pose und auch mit dem Vokabular ("Held") eines auktorialen Erzählers. Immer wieder wendet er sich an seine Leser bzw. Hörer. So verzichtet er z. B. auf nähere Beschreibungen des schottischen Dorfes und der Heidelandschaft und fordert den Leser auf sich selber im Internet zu informieren, wie es dort aussehe. Seinen namenlosen Helden begleitet der Erzähler aus ironischer Distanz und lässt seine Leser/Hörer an den bissigen und teils weinerlichen Reflexionen teilhaben. Ein Sympathieträger ist er nicht, dieser Midlife-Crisis-Held; das sieht auch der Erzähler so!
Jedem seiner 12 Kapitel stellt er eine stichpunktartige Synopse voran, sodass der Leser inhaltlich quasi entlastet wird und sich auf die einfach herrlich witzige und spritzige Erzählkunst des Autors konzentrieren kann.
Ein Vergnügen! Tellier erzählt scharfsinnig, oft unerwartet pointiert, humorvoll und vor allem eines: lebensklug.

Bewertung vom 26.09.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


ausgezeichnet

“Samisch zu sein bedeutete, seine Geschichte in sich zu tragen, als Kind vor dem schweren Rucksack zu stehen und sich zu entscheiden, ihn zu schultern oder nicht“ (S. 190).
Die Autorin versetzt ihre Leser in die Welt der Samen, dem einzigen indigenen Volk Europas. Im Zentrum steht Elsa, die als Kind die Tötung ihres Renkalbs und ihre eigene Bedrohung erleben muss. Die Wehrlosigkeit ihrer Familie verbittert sie zunächst, aber im Lauf der Jahre verdichten sich ihre Erlebnisse und sie begreift die Ursachen dieser Wehrlosigkeit als strukturelles rassistisches Problem. Elsa entschließt sich, den „schweren Rucksack“ zu tragen. Sie wird mutig und setzt sich zur Wehr, auch wenn sie erkennt, dass sie dafür einen hohen Preis zahlen muss.

Die Ablehnung der samischen Kultur und Lebensweise zeigt sich in vielen Bereichen: wir lesen von grausamen Jagden auf die Rentierherden der Samen, von Mobbing und gewalttätigen Übergriffen in den Schulen auf samische Kinder, von alltäglichen rassistischen Beleidigungen, von Telefonterror, von massiven psychischen Erkrankungen und vom Desinteresse der Polizei, bei Übergriffen zu ermitteln. Zugleich wird der Lebensraum der Samen immer weiter eingeengt, nicht nur durch die klimatischen Veränderungen, sondern auch durch die staatliche Forcierung des Bergbaus, der die Weidegründe der Rentierherden schmälert. Gleichzeitig vermittelt uns die Autorin die tiefe Liebe der Samen zur Natur und die Art und Weise, wie sie mit und in der Natur leben, ohne in idyllisierende Schwärmerei zu verfallen.

Wie die Autorin das alles in ihre Geschichte einwebt, hat mir hervorragend gefallen. Sie belehrt nicht, sie informiert nicht, sie jammert nicht und klagt nicht an, sondern sie erzählt einfach die Geschichte Elsas. Und damit gelingen ihr auch sehr anrührende und tief beeindruckende Episoden, wenn sie z. B. die tiefe Trauer der Schwester um ihren geliebten kleinen Bruder in wenigen Strichen so erzählt, dass die Bilder in Erinnerung bleiben. Ihr Erzählen wirkt gleichmütig und durch die durchwegs einheitliche Syntax eher statisch, fast hölzern. Gelegentliche dramatische Ausrutscher wie “eine diabolische Energie, die sie einen Schritt zurücktreten ließ... und ihr Gesicht zog sich in kleinen schnellen Zuckungen um die Augen und den Mund zusammen“ (S. 331) verzeiht man gerne.

Bewertung vom 25.09.2022
Mord vor der Premiere (MP3-Download)
Crispin, Edmund

Mord vor der Premiere (MP3-Download)


ausgezeichnet

Wer einen eher altmodischen Krimi mag, wer auf Leichenberge verzichten kann und Spaß an witzigen Dialogen und skurrilen Figuren hat, der ist hier bestens bedient!
Oxford in den 40er Jahren, eine bunt zusammengewürfelte Schauspieltruppe, Liebe und Intrigen, ein schrulliger Professor, der Kriminalromane liebt und als Hobbydetektiv arbeitet, und natürlich ein rätselhafter Mord – das sind die Zutaten zu diesem schon älteren Kriminalroman, der nichts von seinem Witz verloren hat. Der Roman beginnt mit der Beschreibung der Zugfahrt von London nach Oxford, und schon zu Beginn zeigt der Autor seinen Sprachwitz und seine Freude an Ironie und leicht bösem Humor. Der Leser weiß also, was ihn erwartet, und tatsächlich zieht sich dieser Unterton durch den ganzen Roman hindurch. Das ist auch das Verdienst des Sprechers, der hörbar seine Freude an bissigen Seitenhieben und Anspielungen hat.

Das Personal wirkt aufgrund der Menge zunächst verwirrend, aber hier schafft der Autor schnell Ordnung, indem er die einzelnen Figuren durch Dialoge nahe an den Leser heranrückt und ihnen Unverwechselbarkeit verleiht.
Die beiden Ermittlerfiguren haben mir in ihrer Ambivalenz sehr gut gefallen. Da ist Fen, Professor für englische Literatur und begeisterter Leser von Detektivromanen – und da ist sein Freund Sir Richard, Chef der Oxforder Polizei, dessen Hobby die englische Literatur ist. Jeder mischt sich mit höchst kritischen und spitzen Bemerkungen in das Metier des anderen ein, und ihre Dialoge sind entsprechend gewürzt, sehr zum Vergnügen des Lesers. Um diese beiden Zentralfiguren herum schart sich das restliche Personal, und jeder wird auf seine Weise konturiert und leicht überzeichnet dargestellt.
Fen weiß recht schnell, wer der Täter ist – und da hätte ich mir gewünscht, dass er den Leser gelegentlich an seinen Überlegungen teilhaben lässt. Das macht er nicht, und so gerät das finale Tableau mit der Aufklärung etwas umfangreich, aber nicht weniger spannend.

Am Schluss steht wieder eine Zugfahrt, dieses Mal von Oxford nach London zurück, und damit rahmt der Autor seinen Roman ein und beschließt einen wunderbar nostalgischen Detektivroman.

Bewertung vom 17.09.2022
Mädchen auf den Felsen
Gardam, Jane

Mädchen auf den Felsen


sehr gut

Ein Sommer in England in den 30er Jahren. Im Mittelpunkt der Handlung steht Margaret, die dem Hörer/Leser zunächst als 8jähriges Kind, im 2. Teil dann als junge Frau begegnet, die für den Tod zweier Menschen ursächlich verantwortlich und entsprechend belastet ist. Von dieser zentralen Figur aus entfaltet die Autorin die Handlung. Das Kind Margaret ist eine scharfe Beobachterin und erkennt die Unstimmigkeiten in ihrer Familie, aber erst der Leser ist es, der sich aus ihren Beobachtungen die Verlogenheit und die Bigotterie unter der bürgerlich-frommen Fassade zusammenreimt. Auf diese subtile und indirekte Weise, immer unterfüttert von einem unterschwelligen Humor, breitet die Autorin vor dem Leser ein Gesellschaftsbild der Zeit aus, das durch soziale Ungleichheiten, Klassenschranken und lebensfeindliche religiöse Bestimmungen geprägt ist.
Der Zentralfigur Margaret stellt die Autorin einen zentralen Ort zur Seite: das Herrenhaus mit dem dazugehörigen Park in der Nähe, in dem sich Margaret wohlfühlt und in dem alle Handlungsstränge zusammenlaufen. Gardam verwebt die verschiedenen Erzählstränge wie auch die Zeitebenen mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und zugleich großen Souveränität. Sie fordert damit aber ihre Leser heraus, die sich aus den verschiedenen Episoden die Geschichte zusammensetzen müssen. Alle Figuren sind klar konturiert, und die Balance zwischen der Komik und der Schicksalhaftigkeit ihrer Figuren gelingt der Autorin so gut, dass der Leser die seelischen Abgründe und zugleich die Verletzungen sieht und ihm das Lachen gefriert.
Die Sprecherin Leslie Malton hat eine angenehme und geschulte Stimme, der man gerne zuhört – solange keine Dialoge zu lesen sind. Hier versucht die Sprecherin ein Kammerspiel zu inszenieren und jeder Person ihre eigene Stimmlage etc. zu geben; das misslingt, die „Stimmen“ werden unnatürlich und sind oft kaum zu unterscheiden.

Bewertung vom 16.09.2022
Der Gehängte von Conakry
Rufin, Jean-Christophe

Der Gehängte von Conakry


ausgezeichnet

Der Autor führt seinen Leser in eine andere Welt: nach Conakry, der Hauptstadt Guineas, und zwar in die Botschaft Frankreichs, der ehemaligen Kolonialmacht. Hier arbeitet der Vizekonsul Aurel Timescu: ein Jude aus Rumänien, dessen Familie ihm die teure Ausreise aus der Ceausescu-Diktatur nach Frankreich ermöglicht hatte. Aurel liebt sein Klavier fast so sehr wie den Weißwein, er lässt sich wegen seiner unangepassten Kleidung belächeln und erträgt mit Gleichmut die Demütigungen seines Vorgesetzten. Er liebt Kriminalromane und wäre lieber Polizist geworden. Und so ergreift er mit ungewohnter Zielstrebigkeit die Initiative, als sein Chef verreist ist und ein französischer Staatsbürger ermordet wird. Die Auflösung des Falles kommt für den Leser allerdings unvermittelt; hier hätte es mir besser gefallen, am Gedankengang Aurels teilnehmen zu können. Auch die Art der Auflösung passt nicht ganz zum feinfühligen und schüchternen Aurel.

Mit der Ermittlerfigur Aurel schafft Rufin einen eigenen und ungewöhnlichen Ermittlertypus, der den Leser zum Lächeln bringt, auch wenn Rufin ihn gelegentlich überzeichnet und das Klischee des „Ritter von der traurigen Gestalt“ zu kräftig bedient. Nebenbei erfährt der Leser allerhand über die Kolonialgeschichte Guineas und vor allem deren aktuelle Nachwirkungen.

Insgesamt ein spannender Krimi, kurzweilig und vielseitig!

Bewertung vom 16.09.2022
Ein junger Herr aus Neapel / Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero Bd.1
Giovene, Andrea

Ein junger Herr aus Neapel / Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero Bd.1


gut

Ein toller Plot: der Niedergang einer süditalienischen Adelsfamilie und der Untergang einer Welt im Umkreis des I. Weltkrieges! Der Roman war ein großer Erfolg, mehrfach übersetzt, preisgekrönt und sogar für den Nobelpreis vorgeschlagen. Liest man einen solchen Roman, nimmt man innerlich den Hut ab und legt die Hände an die Hosennaht!
Dort bleiben sie allerdings nicht lange; ich habe meine Hände gebraucht, um die vielen unverbundenen Erzählfäden festzuhalten...
Das Werk umfasst insgesamt fünf Bände, deren Handlung vom Jahrhundertbeginn bis Ende der 50er Jahre reicht. Der vorliegende 1. Band stellt uns 5 Lebensphasen des Protagonisten in 5 Kapiteln vor. Ist der Roman tatsächlich eine fiktive Autobiografie? Das mögen andere entscheiden. Tatsache ist, dass sich das Leben des Autors und seines Protagonisten verblüffend ähneln.

Gleich zu Beginn wird der Leser in die hocharistokratische Familie eingeführt, wenn der junge Held, der zweitgeborene Sohn, zusammen mit seiner kleinen Schwester den Stammbaum der Herzöge von Sansevero spielerisch erkundet und dort seinen Platz in der Ordnung einer jahrhundertelangen Ahnenreihe findet. Im letzten Kapitel verlässt er schließlich seine Familie, und so schließt sich hier ein Kreis.
Dazwischen liegen episodenhafte Erzählungen z. B. über den Schulbesuch in einem Benediktiner-Kloster, sein Einzelgängertum in der Familie, seine Hinwendung zur Literatur und Philosophie, seine ersten amourösen Erfahrungen, Kontakt zu recht zwielichtigen Onkeln in noch zwielichtigeren Kreisen und vor allem über seine Erkenntnis, dass das jahrhundertealt, gewaltige Vermögen der Familie schwindet und keinerlei Anstrengungen seitens seiner Eltern erfolgt, den drohenden Ruin aufzuhalten. Stattdessen liest man von einer märchenhaften Prachtentfaltung bei opulenten Festen, von Müßiggang und Familiendramen, von Mäzenatentum und gewaltigen Kunstsammlungen.
Aber alle diese Episoden bleiben merkwürdig flach. Sie werden additiv aneinandergereiht, und ihre Bedeutung für die Entwicklung des Helden lässt sich nicht immer erschließen. Dazu kommt, dass auch die Zeitgeschichte – immerhin der I. Weltkrieg und das Aufkommen der Faschisten unter Mussolini – nur als periphere Hintergrundfolie dient. Der ältere Bruder, Stammhalter, verliert zwar ein Vermögen durch betrügerische Verwicklungen mit den Faschisten, aber was brachte den Bruder in die Nähe der Braunhemden? Wie sah der innere Zusammenhang zwischen Faschismus und Bankrott aus? Und was machte das mit dem Protagonisten?
Der Vergleich mit Tommaso di Lampedusas „Il Gattopardo“ drängt sich natürlich auf, weil beide Werke den Niedergang einer alten Familie und den Zusammenbruch ihrer feudalen Weltordnung erzählen, aber im Unterschied zu Giovenes Werk weist „Il Gattopardo“ durchgehend die innere Stringenz der Handlung auf, die ich bei Giovenes „Roman“ vermisse.

Fazit: ein Roman (?), der eine untergegangene Welt nochmals aufleben lässt, geschrieben in der Sprache des Bürgerlichen Realismus des 19. Jhdts, aber ohne innere Zielorientierung.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.09.2022
Serge
Reza, Yasmina

Serge


sehr gut

Ein leichtes Stück über Auschwitz? Und dann noch Imre Kertesz gewidmet, dem einsamen Unbehausten, der sein Leben lang unter dem Trauma seines KZ-Aufenthalts litt?
Das hat mich irritiert, aber weil das Buch nun einmal da war, habe ich es auch gelesen.
Und siehe da: Yasmina Reza gelingt wirklich ein unglaublicher Spagat.

Im Mittelpunkt steht eine jüdische Familie in Paris: drei Geschwister, und der mittlere Bruder Jean ist der Ich-Erzähler. In treffsicheren Dialogen nimmt der Leser teil an ihren Kabbeleien, an ihren Streitereien, aber auch an ihren beruflichen Problemen und ihrem wirklich komplizierten Beziehungsalltag. Die Elterngeneration, die die Geschwister früher als kraftvolle Vorbilder erlebt hat, siecht dahin, wird zunehmend unselbständiger, die Alten müssen betreut und betüttelt werden – kein Gedanke mehr an frühere Pläne, kraftvoll und selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden! Noch hält die Mutter mit ihren sonntäglichen Mittagessen die Familie zusammen. Aber mit ihrem Tod verlieren die Geschwister nicht nur ihren Bezugspunkt, sondern auch die letzte Zeitzeugin ihrer Familiengeschichte der Shoa. Und so müssen sie sich neu formieren. Dazu beschließen sie, eine Reise nach Auschwitz zu machen, dem Ort, an dem die Familie ihrer Mutter ermordet worden war.

Auschwitz präsentiert sich als touristisch perfekt durchorganisiert. Die Massen pilgern von einem grausigen Anziehungspunkt zum nächsten, angetan mit Sonnenbrille und geblümten Shorts, und eigentlich fehlt – dachte ich – nur noch der Würschtlstand an einer versteckten Ecke. Die bizarre Situation wird gesteigert durch die Erinnerung an eine Klassenreise, bei der die Lehrerin angesichts dieses Massentourismus loslachen musste und nicht mehr aufhören konnte. Auch die Familie wuselt durch die „Sehenswürdigkeiten“, die einen sind interessiert, den anderen ist es zu warm, sie schwitzen, lassen ihrer schlechten Laune freien Lauf und entziehen sich der Betrachtung des Grauens. Dieser Gegensatz zwischen dem großen Vorhaben, der Familiengeschichte auf die Spur zu kommen, und der Verwirklichung bzw. dem Scheitern dieses Vorhabens hat etwas Groteskes, aber auch etwas Tragisches. Und auch die kommenden Versuche, die Familie zusammenzuhalten, haben etwas Morbides und sind von diesem Gegensatz geprägt.

Wie die Autorin den Bogen spannt zwischen dem Ernst, der diesem Ort (und auch folgenden Ereignissen) zukommen muss, und der Komik, die sich am Miteinander der Familie zeigt – das ist gekonnt. Souverän hält sie die Balance, wenn wir ihre unbeholfene, desorientierte, aber dennoch sympathische Familie auf ihrer Identitätssuche begleiten.

Einer Identitätssuche, die nicht gelingt.

Fazit: Ein kunstvolles, aber sehr unterhaltsames Buch über Identität und ein besonderer Beitrag zur Erinnerungskultur.

Bewertung vom 04.09.2022
Die Hohenzollern und die Nazis
Malinowski , Stephan

Die Hohenzollern und die Nazis


ausgezeichnet

Zum Hintergrund: Seit 2014 laufen Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik und der Familie Hohenzollern, die sich auf das sog. Ausgleichsleistungsgesetz beruft und Ansprüche auf Schlösser, Liegenschaften, Tausende von Kunstschätzen und andere Vermögenswerte erhebt, die nach dem II. Weltkrieg von der Sowjetischen Militäradministration enteignet wurden. Malinowski wurde mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt zur Frage, ob der Ex-Kronprinz Wilhelm dem Nationalsozialismus „erheblichen Vorschub“ geleistet habe. Wenn ja, wären Leistungen nach diesem Gesetz ausgeschlossen. Diese sog. Hohenzollerndebatte entwickelte sich in den Folgejahren zum „bedeutendsten geschichtspolitischen Konflikt des Landes“ (SPIEGEL). Malinowski und Journalisten wurden von den Hohenzollern mehrfach verklagt.
Das vorliegende Buch basiert auf den Ergebnissen des Gutachtens.

Gleich zu Beginn stellt der Autor klar, dass er sein Buch nicht auf die Frage der Vorschubleistung reduziert sehen will. Er betrachtet sein Buch eher als Fallstudie, in der er die Handlungen einer hochadligen Familie mit der historischen Methode untersucht. Der Autor legt seine Darstellung daher breit an und beginnt mit dem Exil des Kaisers Wilhelm II. und des Kronprinzen Wilhelm in den Niederlanden und beobachtet ebenfalls das Agieren der Familie und der Vertrauten. Ein wesentlicher Untersuchungsgegenstand ist dabei die Kommunikation zwischen den Hohenzollern und der Öffentlichkeit. Der Autor betont die Bedeutung der Selbstdarstellung bzw. Performance für das Bild, das die Hohenzollern der Öffentlichkeit bieten wollten. Die war nicht immer leicht zu meistern; so ließ sich z. B. die Fahnenflucht des Kaisers und des Thronfolgers in den folgenden Jahren nur schwer vermitteln. Ein breit aufgestellter Stab an PR-Beratern, Ghostwritern, Journalisten, Juristen etc. sorgte für das gewünschte Außenbild der Figur.

Malinowski legt akribisch dar, wie die Hohenzollern die Hoffnung auf eine Restitution der Monarchie nicht aufgaben und wie sie sich zum Steigbügelhalter der Nationalsozialisten machten. Dazu nutzen sie ihren charismatischen Namen, der Sehnsüchte und Volk hervorruft, die den Kyffhäuser-Mythos assoziieren lassen, wobei die Namensträger allerdings von Charakter und Leistung her diesen Erwartungen nicht gerecht werden. Zusätzlich nutzen sie die informellen Kommunikationsmöglichkeiten des Adels bzw. Hochadels, wie sich bei Jagdgesellschaften, Bällen, in den Clubs, den Offizierkasinos etc. ergaben. Die Verbindung des nationalen mit dem konservativen Lager glückt, und der Tag von Potsdam, an dessen Inszenierung auch die Hohenzollern beteiligt sind, zeigt eindrucksvoll den Schulterschluss von Alt und Neu. Die nächsten Jahre sind gekennzeichnet von Anbiederungsversuchen, Anpassungen und Arrangements. Nach wie vor stellen die Hohenzollern dem Regime ihre jahrhundertealte Geschichte, ihr Charisma und den Glanz ihres Namens zur Verfügung. Trotzdem reicht der Einfluss nicht so weit, um im arrivierten NS-System eine bedeutende Rolle zu spielen.

Liest man die Quellen, die Malinowski anführt, fällt es schwer, an die imaginierte Opferrolle der Hohenzollern zu glauben. Da werden die Verhaftungen von Kommunisten, Sozialisten, Juden und anderen „Volksfeinden“ als „Aufräumarbeiten“ abgetan, Mussolini wird wegen seiner „genialen Brutalität“ bewundert, schon in den 20er Jahren sind Hitler, Röhm und Göring Gast im Cecilienhof, Wahlaufrufe für Hitler, Sätze wie „Jetzt heißt es, jedem in die Fresse zu hauen“, der die Regierung Hitler angreife, Geldzuwendungen, Assistenz im SA-Folterkeller, eine Fülle an Bildmaterial etc. – Malinowski stützt seine Darlegungen auf eine breite Quellenlage, die er genau auswertet und zugleich die apologetischen Ausführungen anderer Historiker widerlegt. Sein Urteil: Es dürfte "auch im Adel aller Sparten nur wenige Familien gegeben haben, die so geschlossen, so stetig, so radikal und so wirkungsvoll gegen die Republik und ihre Prinzipien aufgetreten sind wie die polit