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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 962 Bewertungen
Bewertung vom 23.11.2021
Der weiße Tiger
Adiga, Aravind

Der weiße Tiger


sehr gut

Moralisch absurder Schelmenroman

Mit seinem sozialkritischen Schelmenroman hat der indische Schriftsteller Aravind Adiga ein provozierendes Debüt geschrieben, das 2008 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, nachdem es in Indien bereits lange vorher schon ein Riesenerfolg war. Ganz offensichtlich hatte der Autor damit in seiner Heimat einen Nerv getroffen. Er wurde aber auch massiv als Nestbeschmutzer kritisiert: «Ich wusste, dass es Kritik geben würde» hat er im Interview erklärt. «Ich habe damit gerechnet. Wäre sie ausgeblieben, hätte ich sicher etwas falsch gemacht. Stellen Sie sich ein Buch vor, das 1938 in Deutschland Lob von allen Seiten bekommen hätte. Da könnte man auch sicher sein, dass etwas daran nicht stimmen kann». Sein Roman sei «auch eine Reaktion auf die Bollywood-Kultur des indischen Films und der indischen Literatur, die die Armut vollkommen ausblendet».

Held dieser satirisch überhöhten Geschichte aus dem sozialen Untergrund ist der junge Balram, Sohn eines Rikschafahrers und der klügste Junge in Laxmangarh. Als Ich-Erzähler berichtet er dem chinesischen Ministerpräsidenten, der in Kürze die Stadt besuchen wird, in Briefform sieben Nächte lang, - Scheherazade lässt grüßen, von seinem Aufstieg, der in Indien ebenso selten sei wie ein weißer Tiger im Dschungel. Er gehört zu den wenigen Underdogs, denen ein solcher sozialer Aufstieg gelingt in diesem von einer allgegenwärtigen Korruption gebeutelten Land. Neben dem Glück, das auch dazugehört, ist es sein unbedingter Erfolgswille, der ihm den wundersamen Weg nach oben ebnet, er bezeichnet sich deshalb selbst als «Der weiße Tiger». Durch Zufall erhält er beim Sohn eines der drei lokalen Großgrundbesitzer einen Job als Chauffeur und kommt mit ihm nach Delhi. Damit gehört er zur privilegierten Dienerschaft seines zwielichtigen Herrn, der seinen immensen Reichtum mit illegalem Kohleabbau verdient, für den üppige Schmiergeld-Zahlungen fällig werden. Ebenso korrupt sind die Steuerbehörden, die ihre hohen Einkommensteuer-Forderungen gegen reichlich Bargeld auf erträgliche Höhen reduzieren. Mit Schmiergeld lässt sich sogar ein tödlicher Autounfall mit Fahrerflucht aus der Welt schaffen, den die Ehefrau seines Arbeitgebers verursacht hat. Sie überfährt in Delhi nachts im Suff ein Kind auf dem Fahrrad. Balram muss ein Schuld-Anerkenntnis unterschreiben, das dann aber gar nicht benötigt wird. Denn Schmiergeld hilft natürlich auch hier aus der Klemme, die Polizei spricht von mangelhafter Beleuchtung des Rades und stellt die Ermittlungen ein. Um der ewigen Armutsfalle zu entgehen, beschließt Balham eines Tages, seinen Herrn auf einer der Schmiergeld-Fahrten zu töten und mit dem für seine Verhältnisse immensen Geldbetrag unterzutauchen, um sich selbstständig zu machen. Er gründet in Bangalore einen schon bald florierenden Taxidienst für die nächtlich arbeitenden Angestellten in den Callcentern von großen US-Unternehmen.

Diese bitterböse Geschichte ist zutiefst unmoralisch, vermittelt sie doch die fragwürdige Botschaft, der Weg aus dem Elend kann nur durch Gewalt gelingen. Adiga reduziert das Kastensystem auf die sich unversöhnlich gegenüber stehenden Gegensätze einer Bevölkerung zwischen Oben und Unten, Licht und Finsternis. In vielen Szenen wird detailfreudig ein Panorama Indiens gezeichnet, dass mit verstörenden Bildern das unsägliche Elend schildert. Daran ändern auch alle politischen Reformen nichts, die Wähler seien «wie Eunuchen, die über das Kamasutra streiten», heißt es im Roman. Kein Wunder, dass Balram Chinas politisches System für das bessere hält.

Satirisch überzeichnet, aber mit viel schwarzem Humor angereichert, wird hier sarkastisch knapp aus der sozialen Frosch-Perspektive über das von der Bevölkerung her zweitgrößte Volk der Welt berichtet. Dabei steht der Hühnerkäfig als Metapher für die Duldsamkeit des indischen Volkes. Zweifellos ein wichtiges Buch, das auf amüsante Art den Horizont weitet und das Genre Schelmenroman moralisch ad absurdum führ

Bewertung vom 19.11.2021
Der blinde Mörder
Atwood, Margaret

Der blinde Mörder


gut

Ambivalente Familiensaga

Die im englischsprachigen Raum vielfach geehrte, kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood hat für den Roman «Der blinde Mörder» im Jahre 2000 ihren ersten Booker Prize erhalten. Im Jahre 2019 erhielt sie dann ihren zweiten, sie gehört damit zu den vier Autoren, die ihn zweimal verliehen bekamen. Obwohl also hochgeehrt im englischen Sprachraum, ist die Rezeption im deutschen eher verhalten, insbesondere das Feuilleton zeigt sich hier skeptisch. Warum eigentlich?

Wie immer bei Atwood stehen in dieser drei Generationen umfassenden Geschichte die Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft im Mittelpunkt. In Rückblenden erzählt die 84jährige Iris als Ich-Erzählerin, wie sie und ihre jüngere Schwester Laura in den 1930er Jahren als wohlbehütete Töchter eines erfolgreichen Fabrikanten in Ontario aufwachsen. Als in der Depression die Firma an den Rand des Ruins gerät, heiratet Iris auf Druck des Vaters den neureichen Geschäftsmann Richard. Die fünfzehnjährige, als schwierig geltende Laura hat derweil eine heimliche Affäre mit Alex, einem gesuchten kommunistischen Aktivisten, dem eine Brandstiftung angelastet wird. Aber auch Iris verfällt ihm sexuell. Er lebt im Untergrund und zieht später mit einer kanadischen Brigade in den Krieg. Gegen Kriegsende fällt er, und als Laura erfährt, dass er auch mit Iris ein Verhältnis hatte, bringt sie sich um. Die schon einige Zeit getrennt von ihrem Mann lebende Iris entdeckt ein skandalträchtiges Roman-Manuskript von Laura mit dem Titel «Der blinde Mörder». Darin wird auktorial und mit namenlosen Figuren sehr freimütig von ihrer skandalösen Affäre erzählt, die hier als zweite Erzählebene eingeflochten ist. Nicht genug damit, ist in dieser Binnen-Geschichte eine weitere enthalten, in der Alex nach dem Sex der Geliebten Teile seiner dystopischen Story erzählt, mit Frauen in einer grotesk untergeordneten Sklavenrolle, er hält sich damit finanziell über Wasser. Ergänzend werden für die politischen Hintergründe und gesellschaftlichen Ereignisse immer wieder fiktive Zeitungs-Meldungen eingefügt, die dem Erzählten einen authentischen Touch verleihen. Das Ganze ist das handgeschriebene Manuskript von Iris, die 1999 stirbt. Sie wendet sich damit direkt an ihre in der Welt herumgeisternde Enkelin, um ihr all ihre Erinnerungen nun eben in Schriftform zu hinterlassen, wenn sie ihr schon nicht persönlich davon erzählen kann.

Mit ihrer kunstvoll verschachtelten Erzähl-Struktur breitet die Autorin in diesem Roman das üppige Panorama einer tragischen Familien-Geschichte vor dem Leser aus, angereichert mit einem interessanten sozialen und historischen Hintergrund. Gleichzeitig ist diese Saga vom allmählichen Niedergang einer einst stolzen, reichen und glücklichen Familie auch ein opulentes Sittenbild des zwanzigsten Jahrhunderts, das motivisch unwillkürlich an Thomas Mann erinnert. Der Roman ist überfrachtet mit Nebensächlichem, man weiß als Leser genau, dass die Zigaretten in einer silbernen Schatulle im Wohnzimmer verwahrt werden, weil man es gefühlt hundert Mal gelesen hat. Für männliche Leser fast unerträglich sind die ausufernden Schilderungen der Garderobe aller weiblichen Figuren, ihr Seelenleben wird hingegen sträflich vernachlässigt. Besonders die Ich-Erzählerin Iris bleibt als Mensch farblos, eine blutleere Figur ohne nennenswerte Entwicklung, und das über Jahrzehnte hinweg.

Beeindruckend jedoch ist die funkelnde Sprache, in der hier erzählt wird, angereichert mit stimmigen Metaphern und wunderbar schwarzem Humor, der besonders in der Rahmen-Geschichte der betagten Iris mit sarkastischen Anmerkungen überzeugt. Die für klare Worte bekannte Autorin spart auch nicht mit harscher gesellschaftlicher Kritik, so wenn sie zum Beispiel vom protzigen abstrakten Gemälde eines Neureichen spricht, «zusammengesetzt aus kostspieligen bunten Klecksen». Da verzeiht man dieser ambivalenten, aber auch unterhaltsamen Familiensaga dann gern ihre unübersehbaren, kleinen Schwächen.

Bewertung vom 14.11.2021
Der Friedhof der vergessenen Bücher
Ruiz Zafón, Carlos

Der Friedhof der vergessenen Bücher


gut

Ein Buch wie eine Kathedrale

Der Ruhm des spanischen Schriftstellers Carlos Ruiz Zafon gründet sich auf den ersten Band einer Tetralogie, deren geheimnisvoller Ort «Der Friedhof der vergessenen Bücher» ist, zu dem unter gleichem Namen mit dem vorliegenden Erzählband nun posthum eine Ergänzung erschienen ist. Es handelt sich um «eine tief unter Barcelona verborgene Bibliothek, in der die Bücher darauf warten, ihre Seele an ihren Leser weiterzugeben». Die vier Romane bilden einen breitgefächerten Erzählkosmos, in dem die Bücher selbst sich ihre Leser suchen, nicht umgekehrt. Mit dem vorliegenden Band weiterführender, ergänzender Geschichten sollte dieser labyrinthische Kosmos nach dem Willen des früh verstorbenen Autors weiter wachsen.

Mit Abstand erfolgreichster Roman war der unter dem Titel «Der Schatten des Windes» erschienene, erste Teil der Tetralogie, der in 36 Sprachen übersetzt mehr als 15 Millionen Mal verkauft wurde. Einige von dessen Figuren, aber auch von den drei Folge-Romanen, finden sich hier ebenso wieder wie viele Themen und Motive der Tetralogie. Mit sieben bisher unveröffentlichten der insgesamt elf Erzählungen stellen sie ein letztes Geschenk des Autors an seine treuen Leser dar. Carlos Ruiz Zafon hat dazu erklärt: «Für mich ist der Friedhof der vergessenen Bücher so etwas wie die Verkörperung der Erinnerung, der Identität. Das geht weit über Bücher oder Literatur oder geistige Welten hinaus».

In «Blanca und der Abschied» geht es um die Liebe des angehenden Dichters David Martin , in «Namenlos» erfahren wir von dessen tragischer Geburt, die dritte Geschichte handelt von einem selbstlosen Arzt, dem es übel ergeht, und in der nächsten erzählt David Martin seinen Mitgefangenen «eine Geschichte von Büchern, Drachen und Rosen». Eine längere Erzählung handelt vom Fürst des Parnass, es folgt «Eine Weihnachts-Geschichte», wir sehen «Alicia im Morgengrauen» und erleben «Graue Männer» als Auftragskiller. Nach einer Liebesaffäre in «Die Frau aus Dunst» folgt mit «Gaudi in Manhattan» eine Hommage auf den berühmten Architekten. «Ist dir mal aufgefallen, dass die Leute immer mehr verblöden, je intelligenter die Handys werden?» fragt eine Rothaarige in Manhattan den Ich-Erzähler der kurzen, letzten Geschichte mit dem Titel «Apokalypse in zwei Minuten». Das Ende sei gekommen, aber da er «nie im Finanzsektor gearbeitet habe», gestehe sie ihm drei Wünsche zu. «Ich will wissen, was der Sinn des Lebens ist. Ich will wissen, wo es das beste Schokoladen-Eis der Welt gibt. Und ich will mich verlieben». «Die Antwort auf die beiden ersten Wünsche ist dieselbe», sagt die Rothaarige, und der Erzähler ergänzt: «Was den dritten Wunsch betraf, gab sie mir einen Kuss».

Barcelona bildet den örtlichen Ausgangspunkt fast aller Geschichten von Zafon, die er mit gedrechselten Worten in vergilbten Bildern beschreibt. Da ist von engen, labyrinthischen Gassen die Rede, von düsteren Fassaden, die in Nebelschwaden verschwinden. Fast immer fällt auch Schnee in seinen Beschreibungen, so als ob wir in Moskau sind und nicht in einer Stadt mit Mittelmeerklima, Licht und Sonnenschein passen nicht zur düsteren Welt Zafons. Ein immer wiederkehrendes Motiv sind bei ihm auch die Bücher, und meist ist ein satanischer Verleger namens Corelli in das Geschehen verwickelt, ihn mag der Autor, wie er erklärt hat, ganz besonders. Es ist diese unheimliche, geisterhafte Atmosphäre, die sein Markenzeichen darstellt und seine phantastische Erzählbühne stimmungsmäßig grundiert. Dabei gerät er mitunter deutlich in die Gefilde der Trivial-Literatur, was er durch einen Vergleich zu relativieren sucht: «Ein Roman sollte wie eine gotische Kathedrale sein, bestehend aus Worten und Geschichten und Figuren: Man geht hinein und man denkt nicht über die Mathematik oder Physik des Bauwerks nach». Und tatsächlich erzeugt er einen publikums-wirksamen Lesesog, der dafür sorgen dürfte, dass seine Bücher wohl nie auf dem «Friedhof der vergessenen Bücher» landen werden.

Bewertung vom 12.11.2021
Schiffbruch mit Tiger
Martel, Yann

Schiffbruch mit Tiger


weniger gut

Literarischer Schiffbruch

Der kanadische Schriftsteller Yann Martel hat mit seinem Roman «Schiffbruch mit Tiger» 2002 den Durchbruch geschafft, das Buch wurde mit dem Booker Prize ausgezeichnet. In einer selbst-ironischen, klammerartigen Vorgeschichte erklärt er zunächst, wie er durch den Tipp eines alten Mannes zu seinem Stoff gekommen sei und den «Helden der Geschichte» dann auch leibhaftig getroffen habe. «Ich fand es nahe liegend, dass Mr Patel sie in der Ichform erzählt». Das deutsche Feuilleton war allerdings wenig begeistert und bemängelte verärgert «Spielzeugton» und «plumpe Komik», sprach gar von «literarischem Schiffbruch»! Ja wie denn nun?

Piscine Molitor Patel, genannt Pi, Sohn eines indischen Zoodirektors, überlebt als einziger den Schiffbruch des Frachters, mit dem der väterliche Zoo nach Kanada umgesiedelt werden soll. Außer ihm befinden sich ein Tiger, eine Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan und ein Zebra auf dem einzigen Rettungsboot, das zu Wasser gelassen werden konnte. Durch einen Irrtum des Zollbeamten wurde der im Ausland gekaufte, bengalische Tiger auf den Namen ‹Richard Parker› getauft, der sechzehnjährige Pi kennt ihn schon lange. In dem sofort ausbrechenden Überlebenskampf ist das Zebra das erste Opfer, es wird von der Hyäne gefressen, anschließend wird der Orang-Utan ihre Beute. Als der unter die Persenning des Bootes gekrochene, seekranke Tiger schließlich hervorkommt, frisst er die Hyäne. Als Nächster wäre Pi an der Reihe, aber in seiner Not kommt er auf die rettende Idee, aus den vorhandenen Rettungswesten und Rudern ein Floß für sich zu bauen. Das schwimmt nun, an einem langen Tau befestigt, dem Boot hinterher und dient dabei auch noch als Schwimmanker, was bei hohem Wellengang ein Kentern des Rettungsbootes verhindern hilft, indem es dessen Bug in die Wellen dreht. Durch seine Erfahrung mit Tieren gelingt es ihm sogar, sich ‹Richard Parker› vom Leibe zu halten, indem er dessen Seekrankheit ausnutzend das Boot heftig ins Schlingern bringt und gleichzeitig in eine schrille Signalpfeife bläst. Beides verbindet sich für das Raubtier zu einer äußerst unangenehmen Erfahrung, und schon bald reagiert der Tiger nur noch auf das Pfeifen und zieht sich unter seine Persenning zurück. Durch das Markieren mit seinem Urin als eigene Reviergrenze und regelmäßiges Füttern mit selbstgefangenen Fischen gelingt es Pi, den Tiger auf Abstand zu halten.

Die immer abenteuerlicher werdende Geschichte beginnt allmählich märchenhafte Züge anzunehmen. Deren Höhepunkt bildet nach vielen Monaten auf See eine von Erdmännchen besiedelte, schwimmende Algeninsel mit fleischfressenden Bäumen, die da plötzlich auftaucht. Auf ihr bringen Süßwasserseen wundersamerweise tote Fische hervor, die den Erdmännchen als Nahrung dienen, und sie selbst wiederum sind für ‹Richard Parker› ein gefundenes Fressen. Im letzten Kapitel der dreiteiligen Geschichte schildert der Autor einen Besuch japanischer Ermittlungs-Beamter, die den nach seiner Rettung in einem mexikanischen Krankenhaus liegenden Piscine Molitor Patel über die unglaubwürdigen Umstände seiner robinson-artigen, 227tägigen Odyssee befragen. Vor allem aber interessieren sie sich für Details beim ominösen Untergang des Frachters.

Im ersten Teil des Romans wird die Vorgeschichte mit der Jugend von Pi erzählt, die neben vielen interessanten Fakten über Tiere im Allgemeinen und Zootiere im Besonderen sich intensiv der Religion widmet. Wobei Pi, eine originelle Idee von Yann Martel, neben seinem Hinduismus sich auch für den Islam begeistert, um sich dann sogar noch taufen zu lassen. Aus diesem gerade heutzutage vorbildhaften, friedlichen Nebeneinander dreier Weltreligionen leitet er verblüffende Erkenntnisse ab, denen er, leider völlig unreflektiert, die moralfreien Instinkte wilder Tiere gegenüberstellt. Verglichen beispielsweise mit «Herr der Fliegen» ist dieser Roman mit seiner plumpen Botschaft eher ein Abenteuerbuch, keinesfalls jedoch prämierwürdige Hochliteratur.

Bewertung vom 09.11.2021
Jesus von Texas
Pierre, D. B. C.

Jesus von Texas


weniger gut

Bissige Medien-Satire

Der unter dem Pseudonym DBC Pierre veröffentlichende, australische Schriftsteller Peter Warren Finlay hat mit seinem Roman-Erstling «Jesus von Texas» 2003 den britischen Booker Prize gewonnen. Also die begehrteste Auszeichnung im englisch-sprachigen Raum, die dort im Ansehen zuweilen sogar noch vor dem weniger publikums-wirksamen Nobelpreis steht. Der ehrt ja bekanntlich den Autor selbst, nicht das einzelne Buch, - die Buddenbrooks waren eine berühmte Ausnahme. Aber davon trennen diesen Roman wirklich Welten! Das Pseudonym steht für «Dirty But Clean Peter» und soll den Lebenswandel des Autors andeuten. Der hat es nämlich, folgt man dem Klappentext, fertig gebracht, «von seinem Nachbarn in Mexico Stadt angeschossen zu werden, Schulden in Höhe von mehreren hunderttausend Dollar anzuhäufen, drogen- und spielsüchtig zu werden und eine Reihe von Frauen zu hintergehen».

Sein Roman ist denn auch eine bissige Satire auf die Sensationsgier der amerikanischen Medien-Gesellschaft, deren Auswüchse hier genüsslich auf die Spitze getrieben werden. Ort der Handlung ist eine fiktive Kleinstadt, die den Ruf der Barbecue-Saucen-Hauptstadt von Texas hat. Der fünfzehnjährige Schüler Vernon wird der Mittäterschaft an einem Massaker in seiner Schule verdächtigt. Diesen Amoklauf hat sein bester Freund Jesus während des Physik-Unterrichts begangen, sechzehn Mitschüler sind ihm zum Opfer gefallen, der Täter hat sich anschließend selbst erschossen. Nachdem Vernon ungeschickt ein Gewehr zu verstecken sucht und ihm die Polizei auch rein gar nichts glaubt, flüchtet er nach Mexico, wird dort aber verhaftet und ausgeliefert. Durch unprofessionelle Verteidigung, widrige Umstände und die unheilvolle Mitwirkung eines Klatschreporters bereits massiv von der Bevölkerung vorverurteilt, wird Vernon in einem absurden, schauprozess-artigen Verfahren unschuldig zum Tode verurteilt. Im Todestrakt veranstaltet ein Medien-Konzern die wöchentliche Wahl des jeweils nächsten Delinquenten in Form einer live übertragenen, publikums-wirksamen Reality-Show. Als schließlich Vernon gewählt wird, gelingt es ihm scheinbar durch einige Telefonate, sich doch noch aus der Schlinge zu ziehen.

«Irgendjemand hat mal gesagt, es sei heute unmöglich, Amerika satirisch darzustellen, die Wahrheit wäre immer viel lächerlicher als alles, was man sich ausdenken könnte. Ich glaube, dass stimmt weitgehend», hat sich der Autor geäußert. Und als Beispiel nennt er den letzten Wunsch eines Todeskandidaten in Texas, der vor der Hinrichtung noch eine Zigarette rauchen wollte, was ihm «mit dem Hinweis, dass Rauchen schlecht für seine Gesundheit sei», aber verweigert wurde. In diesem Lichte besehen erscheinen die satirischen Überspitzungen des Romans literarisch ebenso angemessen wie der vulgäre, auf Dauer abstoßende Jugend-Slang, in dem der pubertierende Romanheld erzählt. In der Übersetzung ist es weitgehend gelungen, die vielen Wortspiele in ihrem Aberwitz zu erhalten, was nicht wenig beiträgt zum Amüsement des Lesers, wenn er denn eine Antenne dafür hat. Oft versteckt sich in dem unflätigen Primitiv-Jargon des jugendlichen Ich-Erzählers aber auch eine tiefe Ratlosigkeit: «Ich hab wirklich versucht, das Leben zu kapieren, manchmal kam es mir sogar großartig vor. Doch damit hat sich’s jetzt erstmal, nach allem was passiert ist. Ich meine, was soll das denn für ein Scheißleben sein?»

Grenzenlose Medienmacht, ausufernder Konsumterror und schreiende Ungerechtigkeit sind die Reiz-Themen, die der Autor in seiner temporeich erzählten Geschichte vehement anprangert, ein offensichtlich in die Irre führender American Way of Life. Und Satire ist sicherlich auch die wirksamste Form, sich mit seiner flammenden Anklage einer breiteren Leserschaft verständlich zu machen, Vernunft im Sinne von Kant ist dafür nun mal nicht geeignet. Auch wenn hier auf amüsante Weise der Finger in die Wunde gelegt wird, ist dieser Roman eine von der Sprache her verstörende, auf Dauer nervige Lektüre.

Bewertung vom 04.11.2021
Das Familientreffen
Enright, Anne

Das Familientreffen


weniger gut

Wasserzeichen des Versagens

Mit ihrem Roman «Das Familientreffen» hat die irische Schriftstellerin Anne Enright den Booker Prize 2007 gewonnen. Er sei ein «starkes, unbequemes und zuweilen sogar wütendes Buch», hat die Jury ihre Wahl begründet. Die auch als ‹Poet laureate› vom irischen Staat geehrte Autorin hat sich damit außerdem den Ruf erarbeitet, es im Aufspüren psychischer Familien-Abgründe zu wahrer Meisterschaft gebracht zu haben. Vor allem aber hat sie als Tabu-Brecherin den katholisch geprägten Mythos von der Familie als unantastbarer Institution gehörig ins Wanken gebracht.

«Ich möchte niederschreiben, was im Haus meiner Großmutter geschah in dem Sommer, als ich acht oder neun war. Aber ob es wirklich geschehen ist?», beginnt diese brutal desillusionierende Familiensaga. Liam, der Lieblingsbruder von Veronica, hat sich überraschend das Leben genommen, und die zutiefst verstörte, glücklich verheiratete Frau und Mutter zweier Kinder kümmert sich nun, drei Jahrzehnte später, als eines seiner acht noch lebenden Geschwister um die Beerdigung. In die Trauer der hart getroffenen 39Jährigen mischt sich auch der Zorn, und besonders die Frage nach dem Warum wird zum alles beherrschenden Thema für sie. Emotional aufgewühlt beginnt sie eine Aufarbeitung seines Lebens und eine Spurensuche nach den äußeren Vorbedingungen, die zum Suizid geführt haben könnten. Damit wird dann natürlich auch die gesamte Familie mit einbezogen in ihre ebenso rastlose wie penible Ursachen-Forschung, und ihr eigenes Selbstverständnis gerät nun ebenfalls gehörig ins Wanken. Ein solcher Stoff birgt natürlich immer die Gefahr in sich, ins Sentimentale, Rührselige abzugleiten. Dem steht hier allerdings der Furor wirkungsvoll entgegen, mit dem die genervte Heldin ihre verzweifelte Suche betreibt. Die reicht bis in die Jugend der Mutter zurück, die als Neunzehnjährige nicht nur der Liebe ihres Lebens begegnet ist, sondern gleichzeitig auch dessen bestem Freund, ihrem künftigen Ehemann und Vater ihrer zwölf Kinder. Deren Namen hat sie später tatsächlich öfter mal durcheinander gebracht.

Mit Veronica hat die Autorin ihrer Heldin beziehungsreich den Namen jener Heiligen gegeben, die Jesus am Kalvarienberg hilfreich ihr Tuch gereicht hat, die sie hier nun ähnlich unerschrocken und selbstlos auftreten lässt. Als Liam aufgefunden wurde, waren seine Hosentaschen mit Steinen beschwert, er hatte eine fluoreszierende Jacke an und trug keine Unterhose. Das wird im Roman dahingehend gedeutet, dass er zwar unbedingt sterben, aber dann auch gefunden werden wollte, und zwar körperlich rein. Der endlose Bewusstseinsstrom der Heldin und Ich-Erzählerin streift emotional gesteuert in fragmentarischen Szenen durch ein ereignisreiches Familienleben, dabei jeden Stein umdrehend, der am Wegesrand liegt und die gesuchten Aufschlüsse geben könnte. Dieser thematische Detailreichtum und die authentisch wirkenden Reflexionen Veronicas bewirken, dass man die Geschichte emotional gut nachvollziehen kann.

Es dauert dann mehr als die Hälfte des Buches, ehe die Heldin in ihren bruchstückhaften, vagen Erinnerungen die Ursache gefunden zu haben glaubt, warum Liam den Freitod gesucht hat. Lange vorher schon hat man den Eindruck, dass es darum eigentlich gar nicht mehr geht in diesem Roman. Erzählt wird lakonisch, in einer derben Diktion und aus wechselnden Perspektiven, wobei mit der Zeit der illusionslos, rein körperlich dargestellte Sex denn doch recht nervig wird, weil er so penetrant, aber wohl leider auch verkaufsfördernd, das ansonsten breitgefächerte Tableau der Themen beherrscht. Andererseits finden sich gelungene Metaphern, so wenn zum Beispiel Veronicas Mann geschildert wird, «wie er dem Wasserzeichen des Versagens nachspürt, das sich durch sein Lebensbuch hindurch zieht». Es ist dieser gnadenlose Hass, diese Wut, die den gesamten Roman dominiert und ihn in seiner resignativen Haltung zu einer bedrückenden Lektüre macht, in der niemals Hoffung aufschimmert.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.11.2021
Die See
Banville, John

Die See


ausgezeichnet

Der Weg ist das Ziel

Der größte Erfolg für den irischen Schriftsteller John Banville war 2005 die Verleihung des britischen ‹Booker Prize› für den Roman «Die See». Er sei, so die Begründung der Jury, «eine meisterliche Studie der Trauer, der Erinnerung und der Liebe». Damit ist er typisch für die Kunst des Autors, Geschichten über elementare Lebens-Erfahrungen zu erzählen, denen er dann im Stil des unzuverlässigen Erzählers immer wieder den Boden der Realität entzieht. So auch hier, wobei dieser Roman im Feuilleton seinerzeit durchaus kontrovers besprochen wurde. In einer Reihe mit den Großen der irischen Literatur wird John Banville schon lange in Fachkreisen als Kandidat für den Nobelpreis gehandelt.

Ich-Erzähler ist der Kunsthistoriker Max, dessen Frau Anna an Krebs gestorben ist. Um endlich seine Trauer zu verarbeiten, reist er ein Jahr später an den Badeort, wo er als Schüler regelmäßig die Sommerferien verbracht hat. Dort wird er von vielen Erinnerungen überwältigt, über die er nun als in die Jahre gekommener, desillusionierter Mann berichtet, zu deren positivster insbesondere auch seine damals erwachende sexuelle Neugier gehört. Dabei verleiht die raue irische See als erzählerischer Hintergrund dem Geschehen eine düstere, schwermütige Grundierung. Der zehnjährige Max freundet sich mit einem etwa gleichaltrigen Zwillingspaar aus der Nachbarschaft an, mit der quirligen Cloe und dem rätselhaften Myles, die geradezu symbiotisch aneinander hängen. Die zunächst von deren Mutter ausgelösten, erotischen Phantasien wenden sich bald schon Cloe zu, die ihn mit dem ersten Kuss beglückt. Als beide später bei weiteren Intimitäten überrascht werden, kommt es zu einer tragischen Reaktion. In einer zweiten Handlungsebene berichtet Max von seiner glücklichen Ehe mit Anna. Deren reicher Vater hat ihr eine üppige Erbschaft hinterlassen, die ihm ein sorgenfreies Leben als Privatgelehrter ermöglicht. Die Art und Weise, wie der Autor von dem einjährigen Sterbeprozess Annas erzählt, mit dem sein Protagonist sehr brutal konfrontiert ist, zeugt von seinem tiefgehenden psychologischen Einfühlungs-Vermögen.

In diesem monologartig angelegten Roman geht John Banville den großen Fragen der Menschheit nach, zu denen vor allem ja der Tod gehört, der für ihn «immer überflüssig und unmotiviert» bleibt. Und ergänzend heißt es dazu: «Die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode oder einer Gottheit, welche die Fähigkeit besitzt, ein solches zu gewähren, ziehe ich nicht in Betracht». In vielerlei Erinnerungen und Reflexionen verliert sein Held zunehmend den Kontakt zur Realität. Immer neue Phantasien vermischen sich dabei, sind als Traum und Wirklichkeit für Max kaum mehr unterscheidbar, bis schließlich nur noch der Alkohol als letzte Zuflucht bleibt. Es ist die Vergänglichkeit, die der Autor hier, stilistisch weitgehend in Form des Bewusstseins-Stroms, an Hand von Verlust-Erfahrungen thematisiert. Im Interview hat er dazu erklärt: «Jeder, der über die Vergangenheit nachdenkt, merkt sehr schnell, dass diese auf einer traum-gleichen Ebene viel mehr Gewicht besitzt als die Gegenwart». Wobei für ihn die Erinnerung, trotz aller gedanklichen Schärfe, immer unzuverlässig bleibe, wie er ernüchtert festgestellt hat.

Der als Autor erkennbare, sich zuweilen an den Leser wendende John Banville bezieht in verschiedenen Anspielungen sehr intensiv Beispiele aus der Malerei in seine gedanklichen Exkurse und philosophischen Deutungen mit ein. Eine zielführende Methode, die man auch aus anderen seiner Romane kennt und die hier durch Rückgriffe auf die Mythologie noch ergänzt wird. Zu Recht wird er als großer Stilist gefeiert, dieser anspruchsvolle, geradezu elitäre Roman aber sei, wie der Guardian schrieb, «kaum für den Normalleser geeignet». Damit teilt er das Schicksal anderer, handlungsarmer Romane, die nicht von einem einprägsamen Plot leben, sondern von ihrer stilistischen Brillanz, immer frei nach der berühmten Erkenntnis von Konfuzius: «Der Weg ist das Ziel»

Bewertung vom 31.10.2021
Der versperrte Weg
Goldschmidt, Georges-Arthur

Der versperrte Weg


gut

Im Räderwerk der Verfolgung

Mit dem Roman «Der versperrte Weg» hat der deutsch-französische Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt dem in seinem autobiografischen Œuvre bisher sträflich vernachlässigten Bruder Erich ein berührendes literarisches Denkmal gesetzt. Der 1928 geborene Autor und sein vier Jahre älterer Bruder waren Söhne eines Juristen aus Reinbek in Holstein. Von jüdischer Herkunft, waren die Goldbergs schon im neunzehnten Jahrhundert zum christlichen Glauben konvertiert. Gleichwohl wurden sie als «nichtarische Christen» von den Nazis verfolgt, mit verheerenden Konsequenzen für den Lebensweg des eigensinnigen Bruders, wovon bereits der Buchtitel kündet.

Als spätgeborenes Kind wurde der Autor von den Eltern besonders verhätschelt. Der große Bruder fühlte sich abrupt zurück gesetzt und hat ihn derart gehasst, dass er, in einem unbewachten Moment, eine Stricknadel in der Hand, «schon mit gehobenem Arm» an der Wiege des Babys stand, um ihm die Augen auszustechen. Goldschmidt erklärt im Roman: «Durch meine Erscheinung auf dieser Welt habe ich sein Leben zerstört». Rivalität prägte auch das spätere Verhältnis des ungleichen Brüderpaares, ein Ordnungs-Fanatiker der ältere, ein wankelmütiger, quirliger Typ der jüngere, der alles durcheinander brachte und vieles verdarb. Erich blieb immer auf Distanz, auch wenn er sich als der Ältere später im Exil zwangsläufig auch um ihn zu kümmern hatte. Denn nachdem die Gefährdung durch die Nazis immer bedrohlicher wird, schicken die Eltern die Söhne 1938 vorsorglich zu jüdischen Bekannten nach Italien. Als die Gastgeber im Jahr darauf nach Neuseeland auswandern, - nur weit genug weg, kommen die Jungen zu einer Verwandten nach Frankreich, die sie in einem Internat unterbringt. Dort sind sie auch noch in Sicherheit, als Frankreich schließlich den Krieg verliert, denn es sind die Italiener, die das Gebiet besetzen. Bis dann 1943 doch noch die deutsche Wehrmacht dort einrückt und Georges-Arthur bei Bauern untertaucht, während sich Erich der Résistance anschließt. Sie sehen sich erst vier Jahre später wieder und sind sich ziemlich fremd geworden. Als nach dem Abitur in Paris Erichs Einbürgerung als Franzose zu scheitern scheint, ist er, unglücklicher Weise nur einen Tag vor dem Eintreffen der ersehnten Urkunde, in die Fremdenlegion eingetreten. Er hat dann in Dien Bien Phu mitgekämpft und später, als nunmehr französischer Staatsbürger, eine Offiziers-Laufbahn in der Armee eingeschlagen.

Die tragischen Umstände, die diesen Lebensweg des Bruders herbeigeführt haben, fasst der Autor im Buch mit den Worten zusammen: «Er war alles zugleich, was man lieber nicht sein sollte: evangelischer Jude deutscher Herkunft im kaum von der Okkupation befreiten Frankreich». Nach ihrem letzten Treffen 1947 haben sich die ungleichen Brüder, inzwischen völlig entfremdet, erst mehr als zwanzig Jahre später wieder gesehen. Für Goldschmidt ist diese Hommage an seinen Bruder eine späte Wiedergutmachung, wie er bekennt, in seinen autobiografischen Schriften gab es dazu bisher immer nur eine auffallende Leerstelle.

Nach fast achtzig Jahren sind die eigenen Erinnerungen und das Wenige, das er von seinem Bruder selbst erfahren hat, als faktenbasierte Grundlage seines Romans heute eher dürftig, er verkörpert also unfreiwillig den narrativen Typ des unzuverlässigen Erzählers. Stilistisch etwas holperig wird auffallend sachlich und chronologisch erzählt, wie zwei Brüdern die Jugend gestohlen wurde, sie ihre Eltern nie wieder gesehen haben und sich total fremd geworden sind. Man taucht tief ein in die Verstrickungen jener unsäglichen Epoche, von denen man doch schon so oft gelesen hat, von denen man hier aber in einer so noch nicht dagewesenen, eindringlichen Klarheit liest. «Seine autobiographische Prosa lässt die Dimension der inneren Gefährdung dessen, der ins Räderwerk der Verfolgung gerät, auf erschütternde Weise erkennen», hat die Uni Osnabrück zu Verleihung ihrer Ehrendoktorwürde geschrieben. Wie wahr!

Bewertung vom 30.10.2021
Zandschower Klinken
Kunst, Thomas

Zandschower Klinken


schlecht

Ist das Kunst oder kann das weg

Unter den Finalisten für den Deutschen Buchpreis befindet sich auch der Roman «Zandschower Klinken» von Thomas Kunst. Nomen est omen, denn was der Autor mit seinem Buch geschaffen hat, das ist zweifellos surreale Kunst. Alle Finalisten «zeigen den stilistischen, formalen und thematischen Reichtum der deutschsprachigen Gegenwarts-Literatur und zeugen von der immensen Lust und hohen Könnerschaft, Geschichten zu erzählen», hat die diesjährige Jury selbstbewusst erklärt. Ihren Mut muss man anerkennen, denn diese schräge, versponnene Aussteiger-Geschichte ist überaus verstörend, wie die verblüfften Kommentare in Feuilleton und Leserschaft beweisen.

Der Plot, soweit man hier von einem solchen reden kann, beginnt an einem Dorfteich. Bent Claasen wurde von der Freundin verlassen, sein Hund ist gestorben, er will nur noch weg. Wohin, das überlässt er dem Zufall, er wird dort bleiben, wo während der Autofahrt das Halsband des Hundes vom Armaturenbrett herunterfällt. Zandschow heißt das fiktive Kaff im Norden Deutschlands, nahe der Autobahn A7, in dem er schließlich landet. Außer dem Feuerlöschteich gibt es noch Getränke-Wolf als Treffpunkt des Ortes, wo es einen freien Internetzugang nach «Sansibar» gibt. Auf dem Teich werden jeden Donnerstag zwanzig Plastik-Schwäne ausgesetzt, unter künstlichen Palmen werden «Lagune-Festspiele» gefeiert, stündlich setzt ein Boot zu der Insel in der Mitte über. «Wir haben uns angewöhnt, sowohl Frauen als auch Männer an den Tagen, an denen wir dazu neigen, den Indischen Ozean mit unseren Füßen zu betreten, den Indischen Ozean in Zandschow mit unseren Füßen zu betreten». Was wie eine Stilblüte anmutet, ist die spezifische, eigenwillige Sprache von Thomas Kunst, in der er aus seiner fantastischen Traumwelt erzählt. In ihr fungiert das Dorf als Fluchtpunkt aus einer fremd gewordenen, globalisierten Welt, «Zandschow ist Sansibar» erfährt der Leser, «Und Sansibar ist weder ein paradiesischer militärischer Stützpunkt noch sonst wo. Die wenigsten von uns gehen einer geregelten Tätigkeit nach. Die meisten beziehen Stütze. Wir kriegen die Zeit trotzdem rum». Das Motto dieser alternativen Dorfgemeinschaft ist «Freude und Genussfähigkeit, die sich auf Armut und Fantasie gründen».

In kurzen Bildergeschichten wird hier anekdotisch in unbeirrt ritualisierter Sinnfreiheit aus einem eigenwilligen Soziotop von skurrilen Leistungs-Verweigerern berichtet. Auf die dabei zum Ausdruck kommenden Verlusterfahrungen weist schon das dem Buch vorangestellte Zitat von John Cheever hin, Derartiges sei das «brauchbare Vorgefühl auf den Tod». Stilistisch prägend sind in diesem renitent alle Konventionen des Erzählens negierenden, dadaistischen Roman die ständig wiederholten Satzkaskaden, die den Text als eine Art Prosa-Gedicht erscheinen lassen. Gefühlt mehr als hundertmal heißt es zum Beispiel wenig originell nach Aufzählungen: «Aber in umgekehrter Reihenfolge». Das ungehemmte Fabulieren und Phantasieren geschieht in wilden Sprüngen und sprachlichen Verrenkungen, die in ihrer Redundanz zuweilen an Lyrik erinnern, mit einer auf die Prosa angewandten, rhythmischen Musikalität. In diesem Verwirrspiel werden ständig neue Assoziationen erzeugt und kulturelle wie auch historische Bezüge hergestellt, die meistens jedoch schwer oder gar nicht zu entschlüsseln sind, geschweige denn zu deuten.

Mit seiner rigorosen Umkehr der Logik verlangt dieser in jeder Hinsicht radikale, geradezu widerborstige Roman seinen Lesern nicht nur sehr viel ab, er überschreitet häufig sogar recht deutlich die Grenze des Lesbaren, und literarisch damit auch des Zumutbaren. Man ist an die Anekdote um die Fettecke von Joseph Beuys erinnert, bei dem eine beherzte Putzfrau in der Düsseldorfer Kunstakademie auf die schwierige Frage «ist das Kunst oder kann das weg» eine gut nachvollziehbare Antwort gefunden hat. Mag die Buchpreis-Jury noch so jubeln, was man hier liest ist nichts anderes als eine literarische Zumutung.

Bewertung vom 27.10.2021
Mitgift
Ahrens, Henning

Mitgift


gut

Nichts zu lachen

Auch der neue Roman «Mitgift» von Henning Ahrens ist wieder in der niedersächsischen Provinz angesiedelt, in Klein Ilsede nahe Peine. Anders als seine bisherigen Romane aber weist dieser keine magischen, fantastischen Elemente auf, hier wird im Gegenteil, für ihn untypisch, sehr realistisch erzählt. Dieses acht Generationen umfassende, autobiografisch inspirierte Familienepos, das bis ins Jahr 1775 zurückreicht und 1962 ein jähes Ende findet, stützt sich, wie der Autor im Nachwort schreibt, auf Briefe und Tagebücher des eigenen Großvaters, der Pate stand für den Protagonisten seines Buches. Der Roman wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert, der bisher größte Erfolg für den Autor.

Wilhelm Leeb sen. bewirtschaftet den Bauernhof der Familie in siebter Generation, er ist ein glühender Nazi, das örtliche SA-Büro befindet sich in seinem Haus. Zum Entsetzen seiner Familie, zu der auch die beiden Großeltern-Paare gehören, meldet er sich zum Militär, obwohl er als Landwirt eigentlich unabkömmlich ist. Begeistert zieht er in den Krieg, für ihn scheinbar nur eine spektakuläre Abenteuer-Reise. Vier Jahre nach Kriegsende kehrt er dann schließlich desillusioniert aus polnischer Gefangenschaft zurück. Und vom ersten Tag an schikaniert der Despot seine Familie wie in alten Zeiten. Sein ältester Sohn Wilhelm jun., von allen nur ‹Willem› genannt, wird traditionell den Hof übernehmen müssen, obwohl er dazu so gar keine Lust verspürt. Und dass er während der Abwesenheit des Vaters, als Jüngling noch, ganz allein mit der Mutter, den Hof geführt hat, wird von dem Tyrannen nur mit maßloser Kritik bedacht, er ist mit nichts zufrieden und nörgelt nur rum. Immer mehr versinkt ‹Willem› nun in seinem Frust, er kommt gegen den Despoten einfach nicht an. Bis der dann eines Tages plötzlich vor der Tür der Nachbarin Gerda steht, seiner Jugendliebe. Er hatte sich damals, der hohen Mitgift wegen, doch lieber eine wohlhabende Bauerntochter zur Frau genommen, während Gerda unverheiratet geblieben ist. Gerade sie aber ist es, die nebenberuflich seit vielen Jahren den Dienst der «Totenfrau» versieht, die also im Dorf die Leichen zur Bestattung herrichtet. Wegen wem aus seiner Familie der Exfreund denn nun Gerda plötzlich in sein Haus bestellen muss, das erfährt der Leser erst ganz am Ende.

Die streng sachlich bleibende Erzählung klammert Emotionen fast völlig aus. Dem harten bäuerlichen Leben mit seinen starren Denkstrukturen angepasst ist auch das umfangreiche Figuren-Ensemble des Romans, das stimmig geschildert wird in seiner derben, weitgehend freudlosen Lebenswirklichkeit. Innige Liebe, aber auch Herzeleid kommen nicht vor, alles ist streng rational begründet. Ehen sind wohl kalkulierte Zweckbündnisse mit einer streng hierarchischen inneren Struktur, die ungeschriebenen Gesetzen folgt und unumstößlich scheint. Nur Willems jüngerem Bruder und auch seiner Schwester gelingt es, einer lebenslangen Fron auf dem Bauernhof zu entfliehen, er selbst zerbricht daran.

Erzählt wird fragmental, in großen Zeitsprüngen, manchmal sogar über Jahrhunderte hinweg. Durch diese in 21 Kapiteln zeitlich vor und zurück wechselnde Erzählweise bringt der Autor Spannung in die ansonsten narrativ ja weitgehend abgearbeitete Thematik. Das Geschehen einer problematischen Vater-Sohn-Beziehung bleibt in dieser Zeitreise mit elf kunstvoll angelegten, parallelen Handlungs-Strängen immer leicht nachvollziehbar. Die eher nüchterne Sprache wird auch durch eine Fülle von alltäglichen Redensarten und Gemeinplätzen geprägt, was die Geschichte sehr realistisch, fast authentisch erscheinen lässt. Auch die Dialoge in diesem Familien-Epos sind durchweg stimmig, man fühlt sich beinahe dazugehörig als Leser und ist nicht nur Zaungast. Die nüchterne Erzählweise lässt allerdings die Figuren sehr blutarm erscheinen, man erfährt, was ihnen geschieht, ohne selbst mitzufühlen, und zu lachen gibt es ja sowieso kaum mal was im freudlosen Alltag der Dörfler aus Klein Ilsede.