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Juti
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Insgesamt 744 Bewertungen
Bewertung vom 27.03.2023
Der junge Mann
Ernaux, Annie

Der junge Mann


weniger gut

Nobelpreiswunder – besser Antiwunder

Der SZ gelingt das Wunder über dieses Büchlein eine längere Rezension zu schreiben als das Buch selbst. Dies gelingt dank Verweisen auf ähnliche Liebesgeschichten.
Schon vor ihrem Nobelpreis habe ich gewarnt, dass der Autorin in ihrem autobiografischen Schreiben der Stoff ausgeht. Dies ist nun geschehen.

Wenn das Werk eine sehr kurze Novelle sein sollte, dann gehört dazu eine unerhörte Begebenheit. Dies soll das Verhältnis der Ich-Erzählerin mit einem 30 Jahre jüngeren Mann sein. Allein in heutigen Zeiten sagt man: „Wenn es beiden gefällt.“ Unerhört ist das nicht.

Ernaux schreibt selbst, der Mann könnte ihr Sohn sein. Dass fremde Menschen gucken, mag ja so sein, aber sind Beziehungsverhältnisse so offensichtlich? Und an anderer Stelle steht, dass ein Homopaar weniger Aufmerksamkeit bekommen hätte, bleibt aber jeden Beweis schuldig, dass dies nur ein subjektiver Eindruck ist.


Dieses Büchlein braucht nur der Suhrkamp-Verlag, der sich damit eine golene Nase verdienen kann. Ohne Nobelpreis wäre es nicht erschienen. Da es in einer knappen Stunde zu lesen ist – und ich nur für abgebrochene Bücher 1 Stern gebe – erhält es 2 Sterne. Meine schlechteste Berwertung für ein Buch von Annie Ernaux.

Bewertung vom 26.03.2023
Das glückliche Geheimnis
Geiger, Arno

Das glückliche Geheimnis


ausgezeichnet

Autobiografie als Erfolgsratgeber

Die Erinnerung an den Widerstandskämpfer begann erst in den 70er Jahren in seiner schwäbischen Heimat, deutschlandweit erst in den 90ern. Die Erinnerung an den Grafen Stauffenberg unmittelbar nach dem Krieg. Warum? Weil Stauffenberg im Militär vernetzt war, Elser dagegen war Einzeltäter. Mit anderen Worten: Jeder hätte diesen Anschlag verüben können.

Genauso trifft Arno Geigers Werk jeden. Jeder könnte im Altpapier nach weggeworfenen Büchern, Zetteln und Briefen suchen. Jeder hätte den Lesestoff zu Büchern verarbeiten können und vielleicht den Buchpreis gewinnen können.

Doch jede Tätigkeit geht mit der Zeit. Anfangs interessieren ihn die Bücher, verkauft sie auf dem Flohmarkt oder macht auch Antiquitäten zu Geld. Als berühmter Schriftsteller hat er das nicht mehr nötig. Jetzt liebt mehr die privaten Briefe, die zu Dokumenten wurden, weil er weder Absender noch Empfänger kennt.
Und so wie sein Müllsammeln geht auch seine Beziehung mit der Zeit. Aber auch hier könnte sich jeder wiederfinden, weil es Höhen und Tiefen gibt, erst mit M., dann mit K., zwischendurch mit O. K. wird später geheiratet und auch das nicht mit einem einfachen Ja.

Auch wenn Insa Wilke seine Bemerkungen zum Literaturbetrieb gegen Ende nicht gefallen, ich fand sie erhellend. Ich habe auch das Gefühl, das manches Werk alter Autoren nicht veröffentlicht würde, wenn es von einer unbekannten Autorin geschrieben worden wäre.


Arno Geigers Buch gehört aber nicht dazu. Ich will hoffen, dass ich von diesem mittelalten Autor noch viele neue Gedanken lesen darf. 5 Sterne

Bewertung vom 23.03.2023
Fahrtwind
Modick, Klaus

Fahrtwind


sehr gut

Eichendorffs Taugenichts Aktualisierung

Ja, dieses Buch musste unbedingt geschrieben. Und wer, wie ich, Fan des Taugenichts ist, wird sich freuen, dass die Nachmittagslektüre der Romantik endlich einen modernen Anstrich bekommen hat.
Naturbilder fehlen heutzutage, dafür muss der namelosen Ich-Erzähler den stockschwule Guido nachspielen. Kutschfahrten geschehen heute motorisiert.

Und dass unser „Ich“ auf dem Rückweg drogennehmende Musiker findet, passt doch ins Bild. Dass sich die SZ beschwert, dass dieses Buch deswegen nicht in den Schulkanon findet, wir der Autor wohl als Lob auffassen.


Von mir erhält er tatsächlich ein Lob, Eichendorffs Taugenichts sollte aber bekannt sein. Ein heiteres Buch in Corona-Zeiten. 4 Sterne, da die Gattung echte Neuigkeiten nicht erlaubt.

Bewertung vom 20.03.2023
Fabelhafte Rebellen
Wulf, Andrea

Fabelhafte Rebellen


ausgezeichnet

Romantisches Jena

Hohe Qualtität lieferte Wulf schon bei ihrem Humboldt-Buch. Und so verwundert es auch nicht, dass selbst der große Alexander, der nur wenige Monate bei seinem Bruder in Jena verweilte und Goethe traf auch thematisiert wird. Ja, ich habe vom alten Dichter gelernt, dass er sich zwar schon immer für die Naturwissenschaft begeisterte, mit Alexander aber erstmals einen ädequaten Gesprächspartner hatte.

Wer Goethe sagt, muss auch Schiller sagen, der im Gegensatz zum alten Meister, lange Jahre seinen Hauptwohnsitz in Jena hatte, bevor ans Theater nach Weimar zog. Schiller war immer krank, jedoch wie dieses kluge Buch lehrt, kein Hypochonder, sondern ein Überlebenskünstler. Die Autopsie nach seinem Tod zeigte nämlich, dass sein Leben einem Wunder gleich kam.

Überhaupt unterscheidet das 18. Jahrhundert sich von heute am meisten dadurch, dass viel mehr Kinder starben. Dennoch fielen die Eltern immer in Trauer. Am meisten litt die Jenaer Romantik unter dem Tod der junge Auguste, die nicht an der Ruhr sondern an der falschen Behandlung ihres Arztes in Bad Bocklet gestorben ist.

Auguste war das älteste Kind von Caroline geb. Michaelis, einem Philologen aus Göttingen, verwitwete Böhmert (Vater von Auguste), geschiedene Schlegel, also bei ihrem Tod mit Schelling verheiratet. In ihren Haushalt, die als einzige der Romantiker die Mainzer Republik live miterlebt hatte, und dank ihres Mannes August Wilhelm Schlegel wieder in die Gesellschaft integriert wurde, kehren die anderen Personen zum Gespräch ein. Und der große Goethe, der ja selbst bis zu den napoleonschen Kriege keine Ehe geführt hatte, muss helfen, als sie sich von Schlegel trennt, um mit Schelling zusammenzuleben. Schiller gehörte nicht zu den Romantikern, weil Friedrich Schlegel seine „Horen“ abschlägig rezensiert hatte und Bruder August Wilhelm zu ihm hielt.

Entgegen meiner Rezension geht die Autorin chronologisch vor. Eine gute Wahl. Zuerst kam Fichte nach Jena und, als dieser längst von der Uni geflogen war, und sogar schon Schelling und Schlegel die Stadt verlassen hatten, kam Hegel.
Doch die Philosophie ist nur ein Thema von vielen. Viel wichtiger ist Wulf das Klima in der Kleinstadt der Gelehrten und der Tratsch und Eifersucht unter ihnen. Novalis hat es gut getroffen. Er ist früh gestorben und bleibt als Romantiker in Erinnerung. Und hätte es den Winter 1799, der so eisig kalt war und die Handelnden krank machte, nicht gegeben, dann wäre die Geschichtsschreibung heute wohl eine andere.

Ich will nicht ausschließen, die ein oder anderen ausgelassen zu haben, wie Dorothea Veil, die Frau Friedrichs, aber auch so entsteht der Eindruck eines überzeugenden Buches, aus dem ich viel gelernt habe. 5 Sterne und Bestes Sachbuch des bisherigen Jahres 2023.


Zitate:
Friedrich Schlegels einziges Ziel war es, zu lesen, zu denken und zu schreiben. Die besten Köpfe […] würden durch eine konventionelle Berufswahl verkümmern. (136f)

Meine einzig Religion ist die,
Daß ich liebe schöne Knie,
Volle Brust und schlanke Hüften,
Dazu Blumen mit süßen Düften,
Aller Lust voll Nahrung,
Aller Liebe süße Gewahrung.
(Gedicht von Schelling, 292)

Bewertung vom 17.03.2023
Breitengrad
Crane, Nicholas

Breitengrad


sehr gut

ein wahres Forschungsabenteuer

Das 18. Jahrhundert ist bekannt für seine vielen Entdeckungsreisen. Und so auch diese von französischen Forschern, die nach Südamerika aufbrachen, um zu messen, ob die Erdkugel an den Polen oder am Äquator abgeflacht ist. Doch viele Köche verderben den Brei.

Viel zu groß mit viel zu viel Material unterwegs teilt sich die Gruppe schon vor Panama, weil jeder der Chef der Expedition sein will. Pleiten, Pech und Pannen kommen hinzu, etwa dass man durch eine Mondfinsternis den Längengrad bestimmen wollte, aber leider ist es zu dunstig.


Abgesehen von den vielen Namen, die ich erst durchsteigen musste, eine spannende Geschichte. 4 Sterne.

Bewertung vom 12.03.2023
Das andere Mädchen
Ernaux, Annie

Das andere Mädchen


ausgezeichnet

Das Leid der Eltern

Für Eltern gibt es wohl nichts schlimmeres, als wenn ein Kind stirbt.
Und so beschreibt die Autorin treffend die Leerstelle, die nach dem Tod ihrer Schwester entstand. Sie selbst hat sie nie kennengelernt, weil sie erst nach ihrem Tod geboren wurde. Kurz vor Schluss erfahren wir, dass ihre Eltern glaubten, sich nur ein Kind leisten zu können.

Ihre Eltern redeten nicht von ihr, die Erzählerin fragte auch nicht. Auch die Gelegenheit zur Aufklä­rung, als über den Tod anderer Kinder gesprochen wurde, lassen die Eltern verstreichen. Selbst der Friedhofsbesuch geschieht nicht mit der jüngeren Tochter. Einzig von ihren Cousinen hat sie Fotos mit ihr bekommen, die mit 6 Jahren 1938 während einer Diphterie-Epidemie starb. Nur später während der Demenzkrankheit der Mutter fällt ihr ein, dass sie zwei Kinder geboren hat.
Und natürlich muss die Erzählerin auch damit leben, dass sie mit der Toten verglichen wird, die viel lieber war als sie, weil sie zur Heiligen wurde.


Dieses kleine Büchlein, dass höchstens 60 Textseiten hat, und von der Nobelpreisträgerin Brief genannt wird, lässt sich an einem Nachmittag gut lesen. Ich hoffe, dass heute nicht mehr alles totgeschwiegen würde. Für die Nachkriegszeit kann ich es mir aber vorstellen, weil die Vorstellung, das erwachsene Menschen plötzlich weinen könnten, so schlimm war, dass sie lieber schwiegen. Die anfängliche Frage, ob Ernaux in ihrem Leben wirklich das alles selbst erlebt hat, trat während des Lesens in den Hintergrund. Sie ist auch unwichtig. Also 5 Sterne.

Bewertung vom 09.03.2023
Das Zeitalter der Resilienz
Rifkin, Jeremy

Das Zeitalter der Resilienz


gut

Wirtschaft, Umwelt und Demokratie

Die Hauptthese dieses Buches lässt sich in wenigen Sätzen zusammenfassen:
Bisher spielte die Effizienz und damit die Gewinnmaximierung in der Wirtschaft die Hauptrolle. Die Krisen der letzten Jahre (Corona, Krieg, Klima) zeigen aber, dass Resilienz, also die Fähigkeit sich auf neue Ereignisse einstellen zu können, immer wichtiger wird.

Interessant ist, dass der Autor sich auf die Thermodynamik bezieht, die besagt, dass nichts so wird, wie es früher einmal war. Materie kann zum Beispiel nur in Energie umgewandelt werden, aber nicht umgekehrt. Klassische Wirtschaftswissenschaftler hielten dagegen den Zeitaspekt für irrelevant.

Die Hauptgeschichte ist nicht neu und sind es die kleinen Aspekte, wie die Wirkung elektromagnetischer Felder in der Medizin, die mein Hauptinteresse weckten. Seine politische Forderungen sind sehr amerikazentriert und ob geloste Bürgerräte ein neuer Schritt zu mehr Demokratie sind, wird die Zukunft zeigen.


Mir fehlte oft die Lust am Weiterlesen, weil vieles, zu vieles schon bekannt ist. 3 Sterne.

Bewertung vom 20.02.2023
Es ist immer so schön mit dir
Strunk, Heinz

Es ist immer so schön mit dir


gut

Neues aus dem Unterschichtenmilieu

Es ist immer so eine Krux mit Strunk. Einerseits liest er sich schnell und gut, andererseits spielt er immer mit abgewrackten Figuren. Warum die SZ Mittelschicht da rausliest ist mir ein Rätsel.
Es kommt auch nicht auf Geld an, ständig wird geraucht, gesoffen und gegen Ende des Romans auch geschlafen (das passende Wort würde wohl an der Autokorrektur scheitern).

Vielleicht zieht mich Strunk an, weil er zeigt, dass es immer noch schlechter. Aber wie schon beim „Sommer in Niendorf“ läuft es ja gar nicht so schlecht. Unser Ich-Erzähler verlässt die liebe Julia für Vanessa und – wie die Kommentare andeuteten – sollte es drunter und drüber gehen. Aber Pustekuchen. Vanessa verzeiht dem Erzähler sogar ein Rückfall mit Julia.


Wo Strunk drauf steht, ist auch Strunk drin. Aber mehr als 3 Sterne möchte ich nicht geben. Für dieses Jahr reicht, selbst wenn Vielschreiber Strunk was Neues herausbringt.

Bewertung vom 08.02.2023
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


sehr gut

interessante Migrantenfamilie

Während uns Dörte Hansen von dem Leben auf einer Nordseeinsel erzählt, erfahren wir in diesem Buch die Geschichte einer Migrantenfamilie in dem fiktiven Ort Rheinstadt (schöner wäre ein Name, der tatsächlich zu googeln wäre). Ich hätte türkische Familie geschrieben, wenn nicht ein Erzählfaden immer von der kurdischen Abstammung handeln würde.

Im Unterschied zur Nordsee habe ich bei Migranten so gewisse Vorurteile, die alle auch bedient werden. Der Vater, der in der Fabrik hart arbeitet. Wenn er nach Hause kommt, lässt er sich von seiner Frau wie ein Pascha bedienen. Der Sohn, der die Arbeit wegen Autoritätsproblemen hinschmeißt und tatsächlich im Gebrauchtwagenhandel tätig wird. Zur Beerdigung seines Vaters wird ein Fahrstil beschrieben, den wir alle vor Augen haben. Der andere Sohn bleibt blasser.

Wie die Profirezensenten auch geschrieben haben, sind die Frauen stärker. Sevda, die Älteste, durfte die Schule nicht besuchen und schafft es doch im norddeutschen Salzhagen (bessere Name, wenn ich nicht immer an Stadthagen denken müsste) ein Restaurant von einer Italienerin zu übernehmen. Natürlich hat sie ihrem Ehemann, der die Arbeit der Ehefrau nicht duldet und als Säufer und Obdachloser endet, den Laufpass gegeben. Dass ihre Wohnung in Salzhagen noch wegen eines Anschlages brennt und sie zwischenzeitlich zu den Eltern zurückziehen muss, darf natürlich nicht fehlen.

Da ist die zweite Tochter Peri konsequenter. Als begabte Schülerin schafft sie locker das Abitur und sammelt im Studium die Männer wie Briefmarken. An eine Hochzeit ist bei ihr nicht zu denken.
Im letzten Abschnitt wird die Mutter in der „du-Form“ beschrieben. Die „ich-Form“ würde auch nicht passen, weil Sevda ihr berechtigte Vorwürfe macht, die nur so der Leserin nahe gebracht werden.


Auch wenn ich jetzt vom fünften Kind der Familie nicht spoilern will, so hat mir die Erzähltechnik der Autorin sehr gefallen. Wie sie häufiger bei der einen Figur etwas andeutet, das erst später auserzählt wird. Die vielen Vorurteile zwingen mich aber dazu, einen Stern abzuziehen. Ich halte dieses Buch dennoch für das Beste, was ich bisher von der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelesen habe und werde weitere Romane der Autorin lesen. 4 Sterne

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.02.2023
Pornographie
Gombrowicz, Witold

Pornographie


weniger gut

Aus der Zeit gefallen

Selten habe ich ein Buch gelesen, dessen Titel so wenig passte wie bei diesem. Es handelt von vielen jungen Menschen, genauer gesagt drei Pärchen, die im katholischen Nachkriegspolen nur wenig von dem dürfen, was sie wollen. Sie diskutieren über Religion und als man denkt, es könne so nicht weitergehen, liegt auf einmal ein Toter auf dem Boden.
So wird aus der Geschichte im zweiten Teil ein zugegeben nur mäßiger Krimi.


Ich verstehe nicht, warum Pornographie dem deutschen Leser wieder vor Augen geführt wird. Es hat keinen neuen Mehrwert. Ich verstehe auch den Titel nicht und wenn ich nicht im Urlaub gewesen wäre, hätte ich dieses Werk beiseite gelegt, so gibt es für mein tapferes Durchhalten bis zum Ende 2 Sterne.