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wasserklaenge

Bewertungen

Insgesamt 40 Bewertungen
Bewertung vom 22.08.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

Jella und Yannick sind ein so schönes Paar. Endlich scheint Jella mit ihm jemanden gefunden zu haben, mit dem sich alles richtig anfühlt. Recht schnell ziehen die beiden zusammen, doch dann endet es mit Yannicks Händen an ihrem Hals und Jellas panischer Flucht aus der gemeinsamen Wohnung. Wie konnte es so weit kommen?

Ruth-Maria Thomas Debütroman ist die traurige Geschichte eines Mädchens, das nie gelernt hat für sich und seine Bedürfnisse offen einzustehen. Das mit dem Male Gaze großgeworden ist. Das stark und selbstbewusst wirkt, aber alles dem Willen der Männer unterordnet, weil man das ja so macht, wenn man cool und begehrenswert und beliebt sein will. Es liest sich so tragisch, aber es war auch so normal für diese Zeit.

Wie Jella war auch ich Teenager in den frühen Nullerjahren und ich kann so viel von dem, was Ruth-Maria Thomas beschreibt so gut nachvollziehen! Schön musste Frau sein, aber nicht zu sexy. Schlank und klug und sexuell verfügbar aber bitte im Alltag nicht zu vulgär, es will ja niemand eine „Assibraut“. Trinken musste man, weil das cool war und „richtige Arbeit“ war etwas, das die Männer machen, nicht etwa Studium oder Haushalt. Wie Thomas all diese Dinge ganz natürlich in ihrer Geschichte unterbringt war großartig! Ein Flashback der unangenehmen Art, aber nötig.

Wie sich die ersten kleinen Risse auftun in der Beziehung von Jella und Yannick ist grandios beschrieben. Ich war so wütend auf Yannick und habe Jellas Verzweiflung und Wut so gut verstehen können! Nein, auch Jella ist nicht perfekt, aber es ist so verflucht gut beschrieben, warum das so ist. Thomas schreibt sehr berührend, realistisch, ein bisschen rotzig manchmal aber es passt einfach.

Die schönste Version ist ein trauriger, berührender, dreckiger, ehrlicher Roman, der die Sozialisation der Frau um die Jahrtausendwende auf den Punkt bringt. Ganz großes Kino, dem ich so viele Leser wir möglich wünsche!

Bewertung vom 22.08.2024
Do Re Mi Fa So
Melzer, Tine

Do Re Mi Fa So


gut

Sebastian Saum geht es gut. Er ist erfolgreich als Opernsänger, mit seinem besten Freund Franz teilt er sich das geerbte Elternhaus auf dem Land. Aber direkt nach der Überraschungsparty zu seinem 40 Geburtstag steigt Saum in die Badewanne und kommt nicht mehr heraus. Nackt sinniert er über sein Leben, leidet zunehmend unter Verspannungen wegen des Schlafens in der Badewanne und verpasst die Proben für seine bisher größte Rolle. Franz versorgt ihm mit Essen, doch der Freund ist zunehmend überfordert mit der Situation. Und Saum? Der schafft es einfach nicht raus aus dem kleinen Badezimmer.

Die Idee dieses Romans ist wunderbar skurril. Ein Opernsänger in der Badewanne. Aber das ist tatsächlich auch schon der gesamte Plot. Saums Gedanken zu seiner Vergangenheit, seiner Situation, seinen Wünschen, Freundschaft und der Sinnhaftigkeit seines Lebens sind teils wundervoll formuliert. Man muss genau lesen, es ist ein langsames Buch das sich nicht zum mal eben wegschmöckern eignet.

"Aber Freiwilligkeit ist das Gegenteil von Geborenwerden." - Seite 27

Ich mochte Saums imaginären Kleiderschrank, all die Stoffe, die ihn durch sein Leben begleitet haben. Das Essen, das Franz ihm vorsetzt lässt einem beim Lesen manchmal das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die Freundschaft der beiden klingt wunderbar unkompliziert und wertschätzend. Auch wenn Saum darüber nachdenkt, was er tun will, wen er treffen möchte, wenn er aus der Badewanne herauskommt, das war sehr schön zu lesen. Man wünscht ihm immer dringender, dass er es doch tun soll, aber der letzte Funke zum Aufbruch fehlt.

"Duschen ist allgemein beliebter als Baden, da es zeitsparender ist. [...] Allein die Vorbereitung eines Vollbades kann bis zu zwanzig Minuten in Anspruch nehmen, steht da. Die Vorbereitung zu meinem Bad hat Jahre gedauert." - Seite 39

Saum zweifelt ruhig und beschaulich, denn er kann es sich leisten. In seinem Leben gab es keine größeren Dramen. Nur hier und da eine kleine Andeutung, die aber offenbar keine größeren Wunden hinterlassen hat. Ich fand den Roman stellenweise sehr schön. Tine Melzer hat viele gute Gedanken in dieser Geschichte untergebracht. Aber mir trat es letztlich dann doch ein wenig zu sehr auf der Stelle. Es fehlte ein bisschen der Wow-Effekt abseits der Ausgangssituation. Wer einen ruhigen, klugen Roman mit speziellem Setting lesen möchte, der ist hier aber durchaus richtig!

Bewertung vom 13.08.2024
Schlaglicht
Bullwinkel, Rita

Schlaglicht


ausgezeichnet

Acht junge Boxerinnen treffen beim Daughters of America Cup in Reno, Nevada aufeinander. Sie sind zwischen 15 und 17, manche sind ganz allein gekommen, andere mit Familienmitgliedern. Sie haben wenig gemeinsam, aber sie alle wollen gewinnen. Die eine um ihren Schwestern in nichts nachzustehen, die andere um zu vergessen. Die eine aus Perfektionismus, die andere weil sie das Chaos liebt.
Und genauso präziese wie die Schläge der Mädchen im Ring, beschreibt Rita Bullwinkel das schäbige Gym in Reno, das spärliche Publikum und natürlich die Kämpferinnen selbst.

"Wenn man den Turnierbaum des Daughters of America Cups im Uhrzeigersinn dreht, sieht er aus wie ein Familienstammbaum. Und Andy Taylor wäre Kate Heffers Schwester, durch Heirat oder Blut." - Seite 117

Ich liebe dieses Buch! Ich liebe wie die figuren charakterisiert sind. Ich liebe wie erzählt wird: Stimmungsvoll, hart aber auch zärtlich, ohne ein Wort zu viel. Ich liebe jede Figur. Die Traurigkeit, die Willensstärke, die Anpassungsfähigkeit, die Verrücktheit der Mädchen. Ich liebe, wie das Licht im Gym beschrieben wird, das Desinteresse der Judges, wie spannend die Kämpfe sind, obwohl manchmal gar nicht viel davon beschrieben wird.

"Rose Mueller verlässt den Ring, als würde sie die Linie vom Sandstrand zum Wasser überqueren." - Seite 131

Die klare zauberhafte Sprach zusammen mit den Geschichten der Mädchen ergab eine Mischung, die mich total in ihren Bann gezogen hat. Ich wollte das Buch gar nicht mehr weglegen. Für mich ein absoluter Volltreffer (pun intendet)!

Bewertung vom 05.08.2024
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
Hefter, Martina

Hey guten Morgen, wie geht es dir?


gut

Juno kann nicht schlafen. Zu viele Gedanken schwirren der Performancekünstlerin aus Leipzig im Kopf herum. Einmal natürlich ihr Partner Jupiter: Er ist schwer erkrankt, kann kaum mehr alleine laufen und um seinen schweren Rollstuhl aus dem Altbau zu wuchten braucht es immer die Hilfe von irgendeinem Nachbarn. Auch macht sie sich Gedankem um ihr Alter und ihre Wirkung mit über 50 Jahren, die sie doch so gar nicht spürt. Sternbilder haben es ihr angetan und dann ist da noch Benu: Wie schon des öfteren zuvor wollte sie den Mann, der ihr als Lovescammer schrieb auflaufen lassen aber irgendwie hat sich aus dem Chat eine Art Freundschaft entwickelt. Oder ist er doch hinter ihrem nichtexistenten Geld her?

Dieser Roman klang erstmal nach einer aktuellen und spannenden Geschichte mit besonderen Figuren. Doch leider konnte er mich gar nicht packen. Ich bin mit Juno nicht warm geworden. Sie verheddert sich in ihren Gedanken, die zu nichts führen. Zwischen ihr und Jupiter gibt es extrem wenig Interaktion. Zuneigung oder Liebe sind kaum zu spüren. Beide wirken sehr isoliert. Warum reden sie kaum oder essen nicht mal gemeinsam? Es war mir alles zu distanziert erzählt, Juno zu gewollt "anders als alle anderen". Klar.

Der Lovescammer-Teil des Romams ist kaum Existent, der Klappentext bläst hier etwas auf, was eigentlich nicht da ist. Mir fehlte so etwas Inhalt neben Junos kreisen um ihr Leben und nichtssagenden Chats mit Benu (Warum muss sie die eigentlich geheim halten? Was ist so schlimm daran?). Kurz: Ich habe mich gelangweilt.

Es ist schade, aber das war offenbar einfach nicht das richtige Buch für mich. Ich hoffe, es findet Leser, die mehr mit Juno und ihrem gleichzeitig normalen und doch besonderem Leben anfangen können!

6 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.07.2024
Malibu Orange
Haidacher, Ulrike

Malibu Orange


ausgezeichnet

Anja dachte, sie hätte alles richtig gemacht: Raus aus dem obersteirischen Kaff nach Wien. Den Job in der Krankenpflege. Und klar übernimmt sie alle möglichen Schichten, klar kann sie einspringen. Noch hat sie ja keine Kinder oder andere Verpflichtungen. So macht man das, so hat sie es gelernt. Doch auf einmal kann sie nicht mehr. Ihr Körper macht nicht mehr mit bei der ganzen Belastung und so landet sie wieder im Heimatörtchen, im alten Kinderzimmer, mit Avril Lavigne Postern an der Wand. Peinlich, das Ganze. Aber immerhin sieht Anja jetzt ihre beste Freundin Magda wieder. Die ist immer fröhlich, laut, lustig, viel in der Welt unterwegs und zwischendurch im Ort jobben. Malibu Orange mit Magda im Café Ulli und endlich wieder Quatschen ohne Ende: Das ist es, was Anja jetzt braucht. Doch Magda ist nicht mehr alleine. Plötzlich ist da Volker und plötzlich ist Magda nicht mehr laut und fröhlich, sondern vorsichtig und still und unheimlich schwer zu erreichen. Stimmt da was nicht, oder bildet Anja sich das ein? Ist sie nur verletzt, dass sie nicht mehr die erste Geige spielt im Leben der Freundin ist oder läuft da etwas arg schief? Und was tut man, wenn man ein schlechtes Gefühl hat, aber die Freundin sich partout nicht helfen lassen will?

Dieser Roman hat sich in Nullkommanichts weggeschmökert. Durch den stetigen Gedankenstrom Anjas fliegen die Seiten nur so dahin. Und Spaß macht es, ihr in den Kopf zu schauen! Der leichte Wiener-Schmäh, ihre Wut auf die ganze Welt und die beißende Ironie haben etwas Witziges, das ich sehr genossen habe. Aber auch ihre Zweifel kommen gut rüber: Was mache ich mit meinem Leben, trügt mich mein Gefühl, bin ich zu negativ, was weiß ich überhaupt über meine beste Freundin, bin ich verrückt, übertreibe ich, was soll ich tun?

Ein Beispiel gefällig wie wild, witzig aber auch treffend es in Anjas Kopf abgeht? Bittesehr: "[...] denn Volker kann alles, Volker der naturnahe Held, Volker, der Magda so viel Sicherheit und Stabilität gibt, durch den sie ein anderer Menschen wird, durch den sie aufhört sie zu sein, Volker, der wutentbrannt mit dem Auto rasen muss, aus Strafe, weil Magda vor ihm auch schon gelebt hat, das ist aber auch wirklich eine Sünde, ein Leben vor einem Volker gehabt zu haben, aber nein, das sieht Anja falsch, sie erkennen die Wahrheit nicht, Volker ist Magdas Retter, die Kuh ist näher gekommen, Anja hat zu rennen begonnen, f**k, jetzt will sie auch noch eine Kuh umbringen, [...]"

Malibu Orange ist ein spannender, lustiger und zunehmend trauriger Roman über Freundschaft und die Frage, was man anfängt mit seinem Leben. Dezente Gesellschaftskritik und bitterer Realitätscheck inklusive. Mich hat die Geschichte total abgeholt und ich empfehle sie sehr gerne weiter!

Bewertung vom 24.07.2024
Im Nordwind / Nordwind-Saga Bd.1
Georg, Miriam

Im Nordwind / Nordwind-Saga Bd.1


ausgezeichnet

Anfang der 1900er Jahre lebt Alice in einer winzigen Wohnung im heruntergekommenen Arbeiterviertel Hamburgs. Ihr Ehemann Hank versäuft große Teile ihres und seines Lohns und prügelt seine Frau gerne mal halb tot. Verbote, Eifersucht und Mangel bestimmen ihr Leben, doch für ihre kleine Tochter Rosa will Alice stark sein.

Ganz anders sieht das Leben von John - typisch norddeutsch [jo:n] - Reeven aus. Seiner Familie gehören eine Bank, die Holsten-Brauerei und diverse Herrenhäuser. Er arbeitet engagiert als Anwalt und ist mit einer reizenden Frau verlobt. Bei der Armensprechstunde die er ehrenamtlich gibt, trifft er dann auf Alice. Sie will sich endlich scheiden lassen, doch John kann ihr keine großen Hoffnungen machen. Aber irgendetwas hat diese Frau, die sich trotz der kaum verheilten Spuren von Gewalt in ihrem Gesicht aufrecht hält und hartnäckig seine Hilfe einfordert.

Dieser Roman ist spannend und dramatisch und leidvoll und macht dabei einfach Spaß. Es ist leichte Unterhaltung zum mitfiebern und mitleiden. Das Setting im historischen Hamburg ist gelungen, die Figuren sind lebendig, vielleicht ein wenig schwarz/weiß aber so individuell, dass nie Verwirrung aufkommt. Ein Tick zu viel Leid und Unglück und verbotene Liebe war es mir manchmal. So ganz knapp vorm Augenrollen - aber das ist einfach mein persönlicher Geschmack. Ich habe mich trotzdem absolut gut unterhalten gefühlt.

Nebenbei macht die Geschichte noch deutlich, wie krass wenig Rechte Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts hatten. Wie bei Vergewaltigung oder häuslicher Gewalt die Schuld immer der Frau zugeschoben wurde: Das schwache aber verführerische Geschlecht, das nicht alleine für sich sorgen kann und männliche Führung braucht. Das zu lesen war wirklich hart. Auch wie unmenschlich die Arbeitsbedingungen teilweise waren oder wie anfällig und hilflos gerade die armen Teile der Bevölkerung Krankheiten ausgeliefert waren.

„Im Nordwind“ ist mitreißend geschrieben, ohne Längen, immer passiert etwas. Besonders gegen Ende folgt Unglück auf Unglück auf Unglück aber das macht ja irgendwie den Reiz des Ganzen aus. Und natürlich endet der Roman mit circa einer Million Cliffhangern. Was ist mit Rosa? Werden John und Julius sich für die Familiengeschäfte zusammenraufen können? Wie ist Blanche zu helfen? Wird Margaret schweigen? Und am allerwichtigsten: Was ist in Alice Vergangenheit noch passiert und wie wird ihr Prozess ausgehen?!

Bis Mitte Oktober muss ich nun auf den zweiten Teil der Saga warten – ewig lang zwar, aber das lasse ich mir nicht entgehen!

Bewertung vom 22.07.2024
Kleine Monster
Lind, Jessica

Kleine Monster


sehr gut

Als Pia und Jakob von der Lehrerin ihres siebenjährigen Sohnes Luca zum Gespräch einbestellt werden, können sie es kaum glauben: Es soll einen Vorfall mit einer Klassenkameradin gegeben haben. Natürlich wollen sie Lucas Seite der Geschichte hören. Aber statt sich zu verteidigen macht Luca dicht und lässt niemanden an sich ran.

Jakob geht relativ entspannt mit der Situation um, aber Pia kann gedanklich nicht davon lassen. Sie beobachtet ihren kleinen Sohn mit Argusaugen und fühlt sich dabei immer wieder an ihre freche und rebellische Schwester Romy erinnert. Doch warum haben die beiden keinen Kontakt mehr, wenn Pia so viele wunderbare Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit hat? Und was ist mit Linda, der dritten Schwester, geschehen?

Trotz der eigentliche recht einfachen Geschichte entwickelt sich dieser Roman sehr schnell zum Pageturner. Die Story ist klasse aufgebaut. Aktuelle Ereignisse wechseln mit Erinnerungen Pias an ihre Kindheit. Ich kann aber kaum mehr verraten, weil die Geschichte gerade von den Details lebt, die nach und nach ans Licht kommen.

Jessica Lind schafft es fast, einen davon zu überzeugen, dass Kinder tatsächlich "kleine Monster" sind. Aber ist das so? Oder verrennt sich Pia in etwas?

Mit einem großartigem Gespür für ihre Figuren führt Lind uns schmerzhaft vor Augen, welchen Einfluss die Kindheit auf unsere spätere Entwickling hat. Mein Einziger Kritikpunkt ist, dass es mir irgendwie zu diplomatisch war. Das fand ich gegen Ende schwer erträglich und ein wenig unbefriedigend.

"Kleine Monster" ist definitiv ein Roman, der mit meinen Emotionen gespielt hat! Spannend, stimmungsvoll, authentisch, tieftraurig und manchmal fast gruselig. Lind führt den Leser absolut gekonnt in eine bestimmte Richtung, nur um ihn später wieder alles in Frage zu stellen zu lassen. Klasse!

Bewertung vom 21.06.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


sehr gut

Der Transsibirien-Express ist weltberühmt: Er ist die einzige Verbindung, die den wagemutigen Reisenden von China nach Russland bringt. Mitten durch das gleichwohl faszinierende wie beängstigende Ödland – ein abgesperrter Bereich, in dem die Naturgesetze keine Bedeutung mehr zu haben scheinen. Nach einem Vorfall bei der letzten Durchquerung, die drei Menschen das Leben kostete, stand der Express erst einmal still. Doch nun fährt er wieder.

Mit an Bord sind das „Zugkind“ Weiwei, die an Bord geboren wurde und den Express kennt wie ihre Westentasche. Maria Petrowna tritt die Reise zum ersten Mal an – unter falschem Namen, denn sie will etwas herausfinden. Und auch für den Wissenschaftler Henry Grey ist es die erste Reise mit dem Zug. Er hegt zweifelhafte Pläne, die seine ruinierte Reputation wiederherstellen sollen.

Was für ein Ritt! Ich hätte das Buch am liebsten in einem Rutsch durchgehört. Das „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ verbindet den Charme des 19. Jahrhunderts mit dem abenteuerlichen Charakter einer langen Zugreise. Ein bisschen Fantasy, tolle Figuren und eine ordentliche Portion Geheimnis runden die Geschichte ab.

Hier und da rauschte mir die Geschichte ein bisschen zu schnell über bestimmte Dinge hinweg. Die Abwesenheit der Kapitänin beispielsweise, oder den ominösen Gedächtnisschwund, der Personal und Passagiere der letzten Reise ereilte und für den es keine ausführliche Auflösung gibt. Und auch das Ödland selbst mit seinen Bewohnern und Absurditäten hätte für mich gerne noch ausführlicher beschrieben werden dürfen. Das alles stört aber eigentlich nicht sehr, denn das Buch lebt ja zum Teil auch von seiner Vagheit und dem Mysterium rund um das Ödland.

Der Roman macht richtig viel Spaß und wurde von Nora Schulte toll und stimmungsvoll eingelesen. Für mich war es eine klasse Mischung aus Mord im Orientexpress und Alice im Wunderland, die ich bestimmt noch ein zweites Mal hören werde.

Bewertung vom 12.06.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


weniger gut

Sam und Elena leben mit ihrer schwer kranken Mutter auf den San Juan Islands an der Grenze zu Kanada. Das Geld ist knapp und der Wegfall von Sams Job während der Pandemie hat die Situation nicht gerade leichter gemacht. Sam will am liebsten weit weg, doch ihre Mutter liebt die Insel und möchte an dem Ort sterben, an dem sie schon ihre Kinder geboren hat. Als dann ein Bär auftaucht und eine Schwester in Entzücken und die andere in Panik versetzt brechen Konflikte auf, die vorher im Verborgenen lagen.

Gleich vorweg: Ich bin ziemlich enttäuscht von diesem Buch. In ihrem ersten Roman „Das Verschwinden der Erde“ hat Julia Phillips gekonnt Einblicke in verschiedenste Lebenswelten auf Kamtschatka mit einer spannenden Krimihandlung vermischt. Ich habe Neues gelernt und wurde gut unterhalten. Bei „Cascadia“ war weder das eine noch das andere der Fall. Stattdessen zieht es sich, es passiert nicht viel, es ist stellenweise vorhersehbar. Auch die Beschreibungen der Insel und der Natur blieb hinter meinen Erwartungen zurück.

Inhaltlich geht es um zwei Schwestern, die auf den ersten Blick unzertrennlich scheinen, aber offenbar nie über wirklich wichtige Dinge miteinander reden. Es wird der geringe Altersunterschied der beiden betont, aber in der Realität könnte Sam auch 10 Jahre jünger sein als ihre Schwester Elena. Letztere organisiert und plant alles, hat den Überblick und versucht das Beste aus ihrem Leben zu machen. Vernünftig mit ihrer Schwester zu kommunizieren gehört allerdings nicht dazu. Sam hingegen hängt sich an Versprechen aus Teenagerzeiten auf und misstraut nebenher der ganzen Welt. Ich hätte gedacht, dass ihr sperriger Charakter im Laufe der Geschichte noch eine Entwicklung durchmacht, aber nein. Auch gegen Ende sind alle doof, alle wollen ihr Böses und allen geht es besser als ihr.

Mit ihrer ignoranten und selbstmitleidigen Art hat Sam mich verrückt gemacht. Ja, die Geschichte der Familie ist traurig. Aber mit jemanden Mitleid zu haben, der hinter jedem netten Wort Verrat wittert, fällt mir recht schwer. Elena wirkt auf den ersten Blick zugänglicher, aber ihre plötzliche Wildtierobsession entbehrt jeder Logik.

Trotz der märchenhaften Anklänge und dem (ungenutzten) Entwicklungspotential der Hauptfigur bin ich am Ende ziemlich enttäuscht. Für mich hatte die Lektüre kaum Mehrwert und sorgte mehr für Kopfschütteln als für Begeisterung. Wirklich schade!

Bewertung vom 27.03.2024
That Girl
Santos de Lima, Gabriella

That Girl


sehr gut

Auf Social Media ist Tess Raabe durch einen Rant über frustrierende Dates viral gegangen. Ihrem Kanal, auf dem sie ihre gesunde Ernährung und ihr Sportprogramm teilt, ihr Dankabrkeitstagebuch befüllt und für Meditatiosapps wirbt, folgen seitdem viele begeisterte Fans. Auch ihr Buch über ihr Datingleben hat sie maximal ästhetisch im Café nebenan bei einem Matcha Latte geschrieben. Tess ist durch und durch ein That Girl! Aber im echten Leben läuft es nicht so rund, wie es online aussieht. Sie zweifelt, sie ist traurig, ihr zweites Buchprojekt kommt nicht voran und auch datingtechnisch läuft es nicht rund. Doch dann trifft sie Leo und fasst leise Hoffnung.

Was mir gefallen hat, waren die vielen feministischen Ansätze, die Gabriella Santos de Lima in ihren Roman eingebaut hat. Tess spricht über die Probleme, die sie mit ihrem Körper hat. Aber auch darüber, dass sie weiß, dass das „Problem“ eigentlich nur in ihren Augen besteht und dass sie sich trotz besseren Wissens schämt. Sie spricht über die Unsitte, als Frau in jeder noch so bescheidenen Situation cool zu sein und sich die Wut zu verbieten, weil man nicht als Zicke, als hysterisch oder als verrückt abgestempelt möchte. Es geht um male gaze, Diäten und Konsens.

Ich mochten ebenfalls die Beschreibung der Freundschaften die Tess pflegt und die ehrlichen Auszüge voller Selbstzweifel aus ihrem Buch, die immer wieder von der nervtötenden Lektorin Gesa entschärft wurden. Denn ein That Girl kann sich keine Negativität leisten!

Vielleicht merkt man schon, dass die Liebesbeziehung hier nicht komplett im Vordergrund steht, auch wenn sie natürlich einen großen Teil der Handlung einnimmt. Der Fokus liegt aber auf Tess‘ Entwicklung und die fand ich wirklich gelungen.

Ein wenig mehr Social Media hätte es für mich allerdings sein dürfen. Dafür, dass Tess neben dem Bücherschreiben ihr Geld mit ihrem Social Media-Profil verdient, fiel dieser Teil relativ kurz aus. Hier und da ist mal ein Post von ihr beschrieben, aber es wirkt fast so, als kommen die Likes bei ihr von alleine. Dann fand ich Tess‘ Freundin Cora ein wenig überzeichnet, aber nichtsdestotrotz liebenswert.

Mich hat der Roman positiv überrascht: Kein Kitsch aber viel Kritik an Social Media und Selbstoptimierung. Keine Happy-ever-after-Lovestory, dafür ein realistischer Blick in die Datingwelt der Gen Z. Wenig Klischees, dafür Figuren, die im Laufe der Geschichte wachsen und sich entwickeln. Dazu ein leichter, unterhaltsamer Ton und eine Story ohne Längen. Hübsch!