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Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 08.11.2023
Winter in Vorderasien
Schwarzenbach, Annemarie

Winter in Vorderasien


ausgezeichnet

Unwiederbringlich
Den Namen Annemarie Schwarzbach las ich zum ersten Mal vor Jahrzehnten, als Teenager, in dem Memoiren von Klaus Mann. Viele Jahre später dann über ihre Reise mit Ella Maillart nach Afghanistan. Und nochmals Jahre später „Das glückliche Tal“ und nun die glückliche Fügung des „Winters in Vorderasien“.
Das wunderbare kleine Buch des Lenos Verlages verführt mich schon durch das Coverfoto: nostalgisches „Damals“. Heute düst man nach Wilhelm Busch „1,2,3 - im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit“ durch die Weltgegenden, zur Selbstfindung, zum Abhaken von aufgelisteten Must-see-Gebäuden und Landschaften. Um so erfreulicher, dass es damals anders war (und es sicher auch heute noch einige Anders-Reisende gibt), offline zu reisen.
Reisende-Frauen-Pendants für Vorderasien oder wie wir die Gegend heute bezeichnen: Naher/ Mittlerer Osten waren Freya Starck und Gertrude Bell. Letztere entpuppte sich dann nicht nur als faszinierte Forscherin, sondern mischte auch im politischen Poker der Briten tatkräftig mit, prädestiniert durch ihre Kenntnisse von Land, Menschen, von Arabisch und Farsi (sie übersetzte Hafis ins Englische). Mutige, unkonventionelle Frauen wie Annemarie Schwarzenbach, aber auch alle monetär gut gepolstert, was dem Reisen natürlich größere Gestaltungsmöglichkeiten gibt.
Annemarie Schwarzenbach schreibt ihr Tagebuch in einem mitreißenden, „mitreisenden“ Stil, teilweise fast rhythmisch und es gelingt ihr, die sich ständig wandelnden Landschaften, die Natur, die mannigfaltigen Gerüche, Farben und Laute und natürlich die Menschen authentisch und „sehbar, riechbar, fühlbar“ zu machen.
Allein das Cover reizt zum Aufblättern, Lesen und Versinken in einer einer längst versunkenen Welt. Eine Pferdebahn, wobei die Autorin selbst zum Teil mit dem Zug – Orient- und Taurus- Express und im Auto mit Fahrer und meist in Gesellschaft reist.
Das Tagebuch beginnt im Oktober 1933, mit dem Erstziel Istanbul. Die Stadt an der Grenze zwischen Orient und Okzident, Europa und Asien, und diese Grenze spiegelt sich wider in der Architektur und in den Menschen, die diese Stadt bewohnen und bewohnten: eine Mixtur der ganz besonderen Art.
Wir sind mit ihr in Ankara, Kayseri und Konya, in Aleppo, in Beirut und in Jerusalem. In Bagdad, Babylon und den irakischen schiitischen Heiligen Städten wie Kerbela und Nadschaf, zu denen es Totenreisen gibt, früher wochenlang in Karawanen, um die Toten hier zu begraben, in Kufa und in Teheran, in Schiras bis hin zu den Ufern des Kaspischen Meeres, wo sie sich auf einem rotbeflaggten russischen Dampfer nach Baku einschifft.
Sie schreibt von uralten Orten, von noch ungezähmter Natur, von einem Leben ohne Kalender und Ehrgeiz.Von der großen Stille der anatolischen Weite. Von Städten wie Aleppo, eine Grenz- und Handelsstadt mit Türken, Arabern, Armeniern, Juden, Kaufleuten aus Japan und Russland, afrikanischen und französischen Soldaten. Von Beirut mit seinen milden Wintern und den Zedern- Bergen des Libanon im Rücken. Vom Irak mit mehr Schiiten als Sunniten, was sich Jahrzehnte später zur Formierung des IS auswirkt. Von Jerusalem und Palästina mit einer heute nich mehr passenden Aussage: „Kein Land ausser Palästina kann den Gedanken des jüdischen Volkes tragen: daneben scheint die arabische Problematik gering.“ Von den Mohnfeldern auf dem Reiseweg, schon Harun al Raschid soll Karl dem Großen ein Klümpchen Opium geschenkt haben. Über die Iraner, dem dichterischen Volk zwischen Genusssucht, Verfeinerung der Kunst und Realitätsflucht. Von den Märtyrern Ali und Hussein, deren Leid aber keine verklärende Erhöhung wie im Christentum bedurfte.
Sie schreibt von zwischenmenschliche Begegnungen: dem jungen spanischen Juden mit jugoslawischem Pass, von Jaques, einem Libanesen mit griechischen Wurzeln, von Hüseyin, ihrem türkische Lieder schmetternden Fahrer, von Fawas al Schaalan, Enkel eines Beduinenscheichs und von dem „verwahrlosten Kind“ mit dem Mongolengesicht und langen Affenarmen, das geschlagen schwarzäugige Tränen weinte

Winter in Vorderasien Annemarie Schwarzenbach
Immer wieder eingestreute Reflexionen: über die Kreuzzüge und Kreuzritter, die nomadische Welt, die sich in Auflösung befindet und über das Planen, das Unterwegssein, dem ständigen Aufbruch und den Wiederholungen eines normalen Lebens.
Annemarie Schwarzenbach hat eine unwiederbringliche Welt bereist und beschrieben, die durch geopolitische Eingriffe von außen diese Gegenden in Nationen umformte und gewaltige Umwäl- zungen mit sich brachte: die Auswirkungen sind bis heute spürbar und erlebbar.
„Winter in Vorderasien“ ist ein Kleinod der Reiseliteratur, wir reisen lesend in einer Zeitmaschine.
In der Mitte des Buches befinden sich 96 Schwarzweiß-Photos, die diese vergangene Zeit perfekt widerspiegeln und sehr an die Istanbul-Photos von Ara Güler erinnern.

Bewertung vom 20.10.2023
Feuerlilie
Cadonau, Gianna Olinda

Feuerlilie


ausgezeichnet

Die Macht der Türen.
Allein die lebensläufigen Verquickungen der Autorin, geboren in Goa, in rätoromanischer Sprache, einer Minderheitensprache der Schweiz, Prosa und Lyrik schreibend, geben ihrem Debütroman eine besondere Würze.
Beim Lesen begibt man sich in eine Art Niemandsland, das von Türen, offenen und geschlossenen, beherrscht wird. Man wird hineingezogen in dieses Niemandsland, in innere Landschaften.
Kàlmàn, Vera und ihre Schwester Sophia sind die Handelnden/Nicht-Handelnden dieses kleinen Romans, in dem Vergangenheit und Gegenwart sehr präsent sind und die Zukunft sich zaghaft bildet.
Vera ist aus der Stadt in das familiäre Haus in einem kleinen Bergdorf gekommen, um hier in der Abgeschiedenheit ihre Arbeit über romanische Literatur, zusammengefasst in einem Artikel ,zu vollenden. Am Bahnhof trifft sie auf Kàlmàn, der mit ihr aus dem Zug steigt und hier fremd ist. Auch er besitzt ein Haus, das er jedoch zuvor noch nie gesehen oder betreten hat. Es ist ihm von einem Offizier vererbt worden: einen namenlosen Mann, der Kàlmàn mit seinen Blicken verfolgte, ängstigte, der alles sah, die Ketten an den Zellenwänden, die Gerätschaften zum Aufbrechen der Körper. Der eine laute Drillstimme hatte und eine ganz leise, als er ihn, Kàlmàn , wegbrachte. Er selbst wurde nie von ihm berührt, aber seine Blicke waren wie Finger, „Augenfinger“.
Vera tastet sich langsam und behutsam an Kàlmàn heran, an sein Leben, seine Ängste. Sie kann nur ahnen, woher er kommt, aus einer Konflikt- und Kriegsregion, in der seit über 70 Jahren Gren- zen gezogen und verschoben werden, in der es Kindersoldaten, Vertriebene, Verschwundene gab, in der Alte, Frauen und Kinder erschossen und ganze Dörfer angezündet wurden, wo Menschen nur noch Statisten und Zahlen in der Statistik der zahlreichen NGOs waren. Kàlmàn war schon einige Jahre im Land, im Auffanglager, in Kliniken, in einer Wohngemeinschaft mit Betreuern und Therapeuten. Er lernte Deutsch und er lernte das Leben. Vera ist sich bewusst, dass sie nur ange- lesene Bruchstücke kennt, die sein Leben, seine innere Version der Gefängnisse und der Folter, prägten.
Fast beängstigend ist Cadonaus Schilderung der zwanghaften Beklemmungen und Phobien Kàlmàns. Draußen vor der Tür, drinnen hinter der Tür, da lauern sie, die Traumata durch Krieg, Gefangenschaft und Folter, die Geister und die Erinnerungen. Türen, durch sie hindurchzugehen, nicht wieder herauszukommen, die geschlossenen, die offenen, die angelehnten Türen. Das Erinnern, was sich hinter ihnen verbirgt. Die Türen aus den Angeln heben. Aber die Macht der Türen und dem Dahinter schwindet.
Ein Prozeß der Befreiung und eine behutsame Auflösung setzen ein durch die ruhige Gegenwart Veras, die einfach nur da ist, die nichts fordert, die nah ist, die ihm ein Stück Angekommensein gibt: ich kenne diesen Ort ein wenig, ich kenne Vera und ihr Haus, den Wirt des Gasthofes, die Verkäuferin. Dazu gehört auch der Besuch von Sophia, Veras Schwester, deren Krankheit mit der Suche nach DER Tür begann, für sie müssen die Türen auf und zu gehen, damit die Geister nach Hause finden können, sie träumt von einem weiten leeren Land ohne Türen. Und so bildet sich ein Dreieck der Zusammen-gehörigkeit.
Ich habe dieses Buch wie in einem Sog gelesen, berührt von der zarten Annäherung zweier Menschen, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Vera, mitten im Leben stehend, Kàlmàn sich ins Lebens zurücktastend. Es ist eine verstörende Lektüre, die mich mitunter ratlos zurückließ, versuchend, die angedeuteten traumatischen Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzufassen. Cadonaus Stil ist schnörkellos, ohne romantisches Klimbim und zugleich von menschlicher Tiefe.
Wir alle leben mit Türen - den inneren und den realen. Den offenen und den geschlossenen. Hinter manchen verbergen wir unsere Verletzungen und unsere Traurigkeit, manche öffnen wir weit für das Leben. Auf dass wir nicht „Draußen vor der Tür“ stehen und das Leben im Hier und Jetzt versäumen.
Wir müssen die Anderen unter uns erkennen und umarmen und auch uns selbst als Andere verstehen: wir sind für die Anderen in unserer Mitte verantwortlich. (Emmanuel Levinas).

Bewertung vom 24.09.2023
Amazonia
Deville, Patrick

Amazonia


ausgezeichnet

Ungeordnete Annalen eines Weltenwanderers.

Die Lektüre eines Deville’schen Buches ist immer wieder wie ein Tauchgang in die Tiefen von Geschichte und Kultur, von Geschichten und Anekdoten.
In seinem neuesten Buch öffnet er abermals seine Homme de lettres-Schatulle und reist mit uns durch Amazonien, ein Gebiet fast so groß wie Australien mit dem längsten Fluss der Erde mit über 1000 großen Nebenflüssen. Es ist die grüne Lunge unserer Erde, die bedroht ist von Hab- und Machtgierigen, denen weder Fauna und Flora noch die indigenen Menschen und Ihre Lebensweise etwas bedeuten.

Deville spannt Bögen durch Zeit und Raum wie ein Zen-Bogenschütze und verbindet die Schicksale von Abenteurern, Entdeckern, Eroberern, Königen, Politikern, Schriftstellern, Forschern und Dichtern: Menschen, die ihr Umfeld, ihre Umwelt, die Welt prägten und beeinflussten. Wir reisen mit ihm durch die Jahrhunderte – von den Inkas zu Pizarro und Cortes zu Aguirre und Fitzcarraldo, von Darwin zu Pasteur zu Alexander von Humboldt, von Bolivar zu den Sandinisten, von den Sklaven zu den Latifundisten. Von den indigenen Einwohnern zu der weißen Herrscherklasse. Gold, Kautschuk, Holz und Kaffee weisen uns den Weg der Ausbeuter durch das grüne Labyrinth der Wasserwege, des Regen-waldes. Seine literarischen Weggefährten: von Thoreau zu Rimbaud zu Cendrars zu Lévi-Strauss. All diese „Who is who“-Nebenflüsse verbinden sich zu einem großen Strom.

Kern dieses neuen Buches seines Abrakadabra-Projektes ist die Beziehung zwischen Vätern und Söhnen. Er reist diesmal nicht allein durch Länder und Zeiten, sondern in Begleitung von Pierre, seinem Sohn. Pierre ist Fotograf, Musiker und ebenso wie der Vater ein besessener Notizbuchschreiber. Mal sind sie sich nah, mal gibt es Fremdheit und Distanz zwischen ihnen. Ein natürliches Phänomen der Vater- und Sohnesschaft, besonders auf beengtem Raum.
Vater- und Sohnesliebe sind archetypische Verknüpfungen: schon Montaigne stellte fest, „dass dem kleinen Samentropfen, aus dem wir hervorgehen, nicht alleine Gestalt, sondern auch die Denkweise und Neigungen unserer Väter eingeprägt sind“.
Allerdings – wo bleiben die Denkweisen und Neigungen der Mutter? Da war Montaigne wohl nicht ganz auf der feministischen Höhe….

Deville ist ein Kosmopolit, ein Welt-Erfahrener, ein Welt-Erfahrender, er ist kein Voyeur, sondern ein Lotse, der Verbindungen über Kontinente und Zeiten opulent zu schildern weiß.
Er ist eben kein „In 80 Tagen um die Welt“-Reisender wie die heutigen Instagrammer, die bei ihren Stippvisiten glauben, „Land und Leute“ kennengelernt zu haben.


Für mich ist jedes Buch von Patrick Deville wie ein Torso, den ich selbst lebendig werden lassen muss. Indem ich wie er tauche, eintauche in den globalen Kreislauf von Wissen und Bildung.
Für dieses enzyklopädische Wimmelbuch ein großes Dankeschön.

Bewertung vom 22.08.2023
Im Fallen lernt die Feder fliegen
Al Shahmani, Usama

Im Fallen lernt die Feder fliegen


ausgezeichnet

Federn und Wurzeln
Usama Al Shahmani ist Iraker und lebt nach seiner Flucht in der Schweiz.
Er kennt also die Szenerie seines Romans aus eigenem Erleben, auch wenn die zwei Schwestern, Aida und Nosche, natürlich ganz andere Lebensläufe und Charaktere haben.
Die jüngere der Schwestern, Aida, beschreibt in der Ich-Form ihr gemeinsames Leben und ihr alleiniges Leben nach dem Unfalltod ihrer Schwester – ein Leben, das von einem Flüchtlingslager in Ghom im Iran in die Schweiz, in den Irak und zurück in die Schweiz führt.
Es ist ein zerrissenes Leben, ein Leben der Entwurzelung und der Entfremdung, einer Entfremdung auch von den eigenen Eltern, die trotz mehrjährigen Aufenthaltes in der Schweiz dort nie Fuß gefasst haben, nicht Fuß fassen wollten und ihr Dorf im Irak glorifizierten. Für sie war eine Rückkehr mit den beiden Mädchen der einzige Weg ihre vermeintliche Identität zu erhalten. Doch für Aida und Nosche waren der Irak und besonders das Dorf keine Heimat, dort gab es keine Geborgenheit für sie, keine Zugehörigkeit, dort gab es Zwang und Anpassung an die traditionellen Verhaltensweisen eines orientalischen Dorfes.
Daran änderte auch die neue politische Lage im Land nichts: der Diktator war fort, die Amerikaner waren im Land und durch deren sog. „Nation Buildung“ wuchsen die Gräben im Land, wurde die Kluft zwischen den Schiiten und den Sunniten immer heftiger, so dass letztendlich daraus eine neue Unterdrückung entstand, die des IS.
Für beide Mädchen war die Situation im Dorf unerträglich, inakzeptabel, besonders wenn man zuvor viele Jahre eine andere Gesellschaftsform erlebt hatte, die natürlich auch Diskriminierungen kannte, aber doch Wege offen hielt zur Selbstbestimmung, zu persönlicher Freiheit, zur Schaffung eines eigenen Selbstbildes.
So planten sie mutig mit Hilfe eines väterlichen irakischen Freundes aus der Schweiz ihre Flucht über Istanbul, das übliche Procedere mit gefälschten Pässen und Identitäten, mit intensiven Befragungen im Sehnsuchtsland Schweiz, in dem sie ihre Zukunft sahen. Bedauerlicherweise hatte die Ältere, Nosche, einen tödlichen Fahrradunfall und wurde auf Wunsch der Eltern, die sich nach der Flucht der Mädchen getrennt hatten, in den Irak überführt und dort im Familiengrab bestattet.
Aida jedoch gelingt ihr Schweizer Leben, sie bekam gültige Aufenthaltspapiere, eine Lehrstelle und später einen Job in einer universitären Bibliothek. Sie hatte einen Schweizer Freund und man könnte also behaupten, sie sei voll integriert. Aber was ist Integration? Sie ist wie eine Waage und eine Wiege zugleich. Zuviel Faktoren der unterschiedlichen Kulturen müssen aufgesogen, abgestoßen, ausgeglichen werden, so dass eben diese Integration nicht allen gelingt. Viele fühlen sich entwurzelt und Entwurzelung ist lt. Simone Weil eine gefährliche Komponente der menschlichen Gesellschaft.
Aida ist und bleibt Irakerin und ist doch zugleich Schweizerin. Ist also nicht aus einem Guss wie die meisten ihrer neuen Landsleute, die behäbig vor sich hin leben, im immer gleichen Rhythmus. Vielleicht liegt es an der Zweisprachigkeit, der vertrauten arabische Muttersprache, die verknüpft ist mit dem so fremden Vaterland. Der Autor schreibt einen schönen Satz zur Sprache: Muttersprache – die Mutter, das erste Zuhause, in dem das Herz schlägt.
Al Shahmani gelingt es eindrucksvoll, uns ein anderes Leben zu präsentieren, eines, dass wir uns aus zweiter Hand erlesen, und dass uns die innere Zerrissenheit von geflüchteten Menschen sehr nahe bringt. Vielleicht sollten wir diese Nähe zulassen und in unseren immer noch sicheren Alltag integrieren.
„Jeder Mensch braucht vielfache Wurzeln. Fast sein gesamtes moralisches, intellektuelles und spirituelles Leben muss er durch jene Lebensräume vermittelt bekommen, zu denen er von Natur aus gehört“. (Simone Weil).

Bewertung vom 17.07.2023
Saat des Verderbens (eBook, ePUB)
Mussa, Sabri

Saat des Verderbens (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Schuld und Sühne
Dieser Roman 1973 erschienene Roman, in Deutschland allerdings erst sehr spät publiziert, ist ein Klassiker der modernen arabischen Literatur, der viele Themen miteinander kombiniert.
Es ist ein eigentümerlicher Roman.
Da ist die ewige Wüste mit ihrer Faszination der Weite und der Leere. Da sind die Bewohner der Wüste, die Beduinen, die seit Urzeiten dort heimisch und mit ihr mythisch verbunden ́ sind.
Und dann sind da die Neuankömmlinge, angezogen von den unterirdischen Geheimnissen der angrenzenden Berge: Europäer und einheimische Emporkömmlinge, die sich gern als Elite sehen. Jeder möchte auf seine Weise seinen Teil an Reichtum und Ruhm abschöpfen.
Und dann ist da die menschliche Gier: Gier nach Geld und Macht, nach Titeln und nach Sex. Eine uralte Gier und ein uraltes Spiel.
Sabri Mussa verbindet gekonnt die urzeitlichen Mythen mit einer Prise Mystik und dem Fortschritt: Die Moderne präsentiert sich nicht nur durch die Technik, sondern auch durch das Planende, durch die Unterwerfung der Natur, ihre Schändung und die entsprechenden umweltlichen Konflikte.
Und natürlich gibt es auch liebe-volle Zutaten: Vater-Tochter-Liebe, erotische Liebe und Freundes- Liebe. Und weniger liebliche Zutaten: Geilheit, Orgien und die „Opfergabe“ jungfräulicher Töchter an den Monarchen, dessen Namen nicht erwähnt wird, der aber eindeutig König Faruk ist.
Höchst persönliche Dramen werden überspitzt in einer für mich oft zu melodramatisch überfrachteten Sprache präsentiert. Und doch geht eine gewisse Faszination von diesem Roman aus, für mich jedoch weniger wegen der Hauptprotagonisten, sondern eher wegen Nebenfiguren und Szenen wie Issâ und seine Sorgensaat, die zu Setzlingen unterdrückter Wut und Zorn wurden, und dessen Sohn Abschor, der Beischlaf einer Nixe coram publico durch Adrabbo, die getrockneten Fisch fressenden Kamele der Krischâb, Den Naturbeschreibungen „wenn die Wüste sich im ersten Schimmer entschleiert, zwischen Frühlicht und Morgendämmerung, zwischen Silber und Gold, vollkommenes Glück“. Den uralten Vorfahren des Stammes der Bega Koka Lanka, der sich in einen Fels verwandelt hatte, zu dem sie pilgern und ihre Nöte und Sorgen vortragen.
All die anderen Mitwirkenden in diesem Drama sind irgendwie austauschbar, denn sie alle sind vereint durch ähnliche Motive. Bis auf Nicola, den Suchenden, der in der Wüste Heimat sah, der sie aber zugleich durch seine Bergbaupläne schändete, Nicola, der frei sein wollte, aber Opfer inzestuöser Albträume wurde. Der einer Fata Morgana erlag, der Fata Morgana von Heimat und Freiheit und Liebe.
Gekonnt hat Mussa das klassische menschliche Thema von Schuld und Sühne mit der existenziellen menschlichen Einsamkeit mit der Einsamkeit einer einzigartigen Landschaft verbunden.
Empfehlenswert für Leserinnen und Leser, die sich für die tieferen Schichten der inneren Bergwerke der menschlichen Seele interessieren und ihre Archetypen, für die Diskrepanz zwischen Natur, Umwelt und technischem Fortschritt.

Bewertung vom 09.06.2023
Das Buch vom Verschwinden
Azem, Ibtisam

Das Buch vom Verschwinden


ausgezeichnet

Es war einmal und es war nicht.
Das ist der Beginn vieler Märchen aus dem Orient bis hin zur Seidenstraße. Und so stellt auch dieser fiktive Roman die Frage: geschah es oder geschah es nicht?
Hauptdarsteller sind neben den beiden männlichen Figuren Ariel, dem Israeli, und Alaa, dem israelischen Palästinenser, und dessen Großmutter Tata mit ihren Erinnerungen vor allem die beiden politischen Katastrophen, die diese Landschaft und ihre Menschen heimsuchten.
Die Shoah und die Nakba.
Meisterhaft verwebt die Autorin die Geschichte und die Geschichten beider Völker mit dem gleichen Stammvater, Abraham, die also eigentlich Brüder oder zumindest Cousins sind, deren Sprache ähnliche linguistische Wurzeln hat.
Eine emotional aufrüttelnde Lektüre, die aber auch dazu animieren sollte, die Geschichte der einen wie der anderen Seite zu erforschen und auch zu hinterfragen. Es gibt genug kritische Sachbücher gerade zum Status des Staates Israel, an dessen Entstehung die Europäer und die Deutschen im Besonderen direkt oder indirekt beteiligt waren. Immer wieder wird der Opferstatus ausgespielt und der daraus resultierende Narzissmus des Siegers: Wir sind die Guten, unsere Armee handelt immer moralisch und human, wir sind die einzige Demokratie im Nahen Osten. Wir sind die Modernität und sie sind rückständig und gewaltbereit.
Das spurlose plötzliche Verschwinden der arabischen Bevölkerung in Israel stellt alle vor ein Rätsel. Wieso konnten sie lautlos, ohne Vorzeichen, verschwinden? Wieso wusste der Sicherheitsdienst nichts davon? War es womöglich eine inszenierte Verschwörung?. Aber von wem und mit welchem Ziel? Klar ist, dass das Verschwinden rein praktische Probleme aufwirft: Keine Busfahrer mehr, keine Müllmänner, keine Krankenschwestern. Und neben kritischen, hinterfragenden Stimmen scheint doch Freude und Jubel im Land zu herrschen.“ Endlich sind wir sie los. Endlich gehört das Heilige Land uns. Endlich sind Judäa und Samaria (das Westjordanland) gesäubert“. Sogleich werden Namen von Straßenschildern und Landkarten gelöscht. Die leer stehenden Häuser werden zu einem günstigen Preis angeboten (schon mal gehört, gelesen!?).
All diese politisch aktuellen Nervenfasern verbinden sich mit kartografierten Erinnerungen von Alaa und seiner Großmutter Tata, die im Jahr der Vertreibung im Land blieb und zuerst hinter Stacheldraht eingepfercht war. Für Tata sind Erinnerungen Lebenselixier - Erinnerungen an Menschen, Namen, Häuser, Straßen. Und Alaa stellt immer wieder fest, dass „sie“ , die Israelis, ihm, dem Palästinenser, nie zuhören, nie fragen, wie es ihnen, den Palästinensern, geht, was sie fühlen, was sie hoffen. Ein empathieloses geheucheltes Interesse für die Quotenaraber,
Das passt zu der Aussage in Alberto Memmis Buch „Die Kolonisatoren und die Kolonisierten“: Die Kolonisierten seien keine Subjekte, sondern lediglich Objekte.
Meisterhaft spielt Ibtisam Atem auf der Klaviatur zwischen Satire und Magie. Und lässt die Leser allein mit der Frage: was wäre wenn.....
Es ist ein mutiges Buch, unbedingt lesenswert, anregend zu Sekundärliteratur, um alle Facetten dieses Konflikts zu erfassen, Vielfalt ist gefragt, keine Einfalt. Denn:
Es gibt keine neuen Geschichten, wohl aber neue Ohren für die alten (A.A. Waberi)

Bewertung vom 24.05.2023
Die Hebamme
Hoem, Edvard

Die Hebamme


ausgezeichnet

Die Vierfaltigkeit – leben, lieben, leiden, sterben.
Das ist der Inhalt dieses großartigen biographischen Romans, mit dem der norwegische Schriftsteller seiner Ururgroßmutter Marta Kristine ein Denkmal setzt.
Anschaulich beschreibt er das Leben im 18./19. Jahrhundert an den norwegischen Fjorden, in abgelegenen Ortschaften, in kleinen Gemeinschaften von Bauern und „Häuslern“, eng mit der Natur, den Jahreszeiten und kirchlichen Festen verbunden.
Es ist eine Hommage an eine starke, eigenwillige, unzeitgemäße Frau, die mit Leidenschaft ihrer inneren Berufung folgt, die die Mühsalen des Lebens kennt und meistert - die Freude, die Liebe, das Leid, den Tod. Es ist eine Reverenz an ein arbeitsreiches, kinderreiches und auch erfülltes Leben.
Marta Kristine hatte eine glückliche Kindheit, ganz im Rhythmus der Natur. Sie war schon früh sehr wissbegierig und alles speichernd, auch das Ungesagte. Eine Erinnerung aus ihrer Kindheit: ein von der Zeit und den Winden verblichener Frauenschädel, mit wenigenHaarsträhnen, gut sichtbar aufgespießt: ihr Schädel sollte als Abschreckung dienen, weil sie ihr neugeborenes Kind getötet hatte.
Pastor Stubben war ihr Mentor, er war es auch, der den Gedanken Hebamme zu werden in ihr verankerte.
Norwegen erlebte eine harte Zeit und Hans, Marta Kristines Freund seit der Schulzeit, ging zum Heer. In ihr gärte Ruhelosigkeit, fort zu etwas Größerem als ihrem jetzigen Leben. Fortgehen kam nicht in Frage, aber Bleiben auch nicht.
Sie erhielt den 1. Brief ihres Lebens, von Hans. Ob sie seiner Jugend Freude und seines Alters Trost werden wolle. Darauf hatte sie gewartet, doch sie war inzwischen schwanger von einem anderen. Hans verstummte, als er ihr sie sah und verschwand abermals zum Heer. Zwischen Norwegen und Schweden kam es zum Krieg, Hans wurde verletzt, aber viele seiner Kameraden fanden einen grausamen bajonettstichigen Tod. Wie alle Kriege: nutz- und sinnlos.
Pastor Stubben half, ihren Traum zu verwirklichen. Er besorgte ihr ein Buch, das für sie ein Tor zu neuen Welten öffnete: zur Geburtswissenschaft und zum Reichtum der Sprache. Und es
kam der 2. Brief ihres Lebens, abermals von Hans: die guten alten Zeiten seien vorbei, jetzt kämen die guten neuen Zeiten. Aber nur mit ihr als seiner Frau.
Sie heirateten. Er ließ sie hochschwanger ziehen zu einer Ausbildung in der Kleinstadt. Sie sah Frauen in ihrer Vielfalt und erkannte, dass die Frauen überall und immer ganz besonderen Belastungen ausgesetzt waren.
Durch ein Stipendium bekam sie die Möglichkeit in Christiania die offizielle Hebammenschule zu besuchen. Dort lernte sie alle Feinheiten ihres Berufs. Im Juni 1822 machte sie sich zu Fuß auf den Heimweg. Aus ihr war eine erwachsene Frau geworden. Hans und sie waren beide verändert. Er unterlag extremen Gemütsschwankungen: voller Tatendrang und fröhlich, dann tagelang wie erstarrt.
Er wurde als Korporal entlassen, wollte Fischer werden, kaufte eine Geige, doch es gelang ihm nie, melodische Töne zu spielen. Keine Arbeit gelang ihm wirklich gut. Er ließ die Hofarbeit schleifen, grübelte, war niedergeschlagen, schwermütig, dann wieder überschäumend voller Pläne. Bei wurde Neurasthenie diagnostiziert, eine Erbkrankheit. Ihnen wurde geraten, keine Kinder mehr zu bekommen. Aber sie konnten nicht voneinander lassen: Marta Kristine wurde insgesamt 11 mal schwanger.
Die Zeit verrann: ein Tag nach dem anderen, ein Monat nach dem anderen, ein Jahr nach dem anderen. Hans konnte ihr endlich von seinen Traumata erzählen, die aufgeschlitzten Körper der Nahkämpfe waren seine Schreckensbilder.
Er verstarb plötzlich und Marta Kristine wusste nicht, wie ihr Leben weiter gehen sollte. Sie lebte nur von ihrem Hebammenlohn, aber sie war nicht bereit, sich dem gnadenlosen Schicksal zu beugen.
1877 starb sie, zuvor hatte sie eine Rechnung ihres Lebens aufgemacht, das aus Stärke und Demut bestand. Als ob ihr Leben ein kurzer Sommertag gewesen wäre. Marta Kristen überlebte Hans um 37 Jahre.

Ein wunderbarer biographischer Roman, der uns Leserinnen und Lesern bewusst macht, wie gut wir im Hier und Jetzt leben ohne die harte Arbeit in und mit der Natur. Aber in anderen Gegenden dieser Welt sieht es nach wie vor ähnlich aus wie im 18./19. norwegischen Jahrhundert. Aber es gibt heute mehr starke, bewusste Frauen, die sich zur Wehr setzen, die ihre Rechte einfordern. Die Visionen haben für eine andere Welt, für eine bessere Welt, für eine gemeinsame Welt über Grenzen hinweg.
Irgendwo las ich, Gebären sei der Anfang der Welt. Ja, jedes geborene Kind ist der Anfang einer neuen Welt. Und Marta Kristine hat ihren Teil dazu beigetragen.
Auf dass Frauen UND Männer für die Zukunft Visionen für eine neue bessere gemeinsame Welt haben.

Bewertung vom 12.04.2023
Mai
Shree, Geetanjali

Mai


ausgezeichnet

Der Käfig sucht einen Vogel. Kafka

Der Roman ist eine Familiengeschichte, eine coming of Age-Geschichte der Geschwister Sunaina und Subodh. Es ist eine konfliktbeladene Geschichte, die drei Generationen umfasst und eine psychologische Studie. Eine Studie, speziell der indischen Gesellschaft mit ihren Traditionen und fest gefügten Regeln, die selbst das familiäre Leben,„Das Innen und das Draußen“, als absolute Verhaltensnorm regeln.

Die Hauptperson ist Mai, Ehefrau, Schwiegertochter und Mutter, deren devotes stilles Wesen die Kinder immer wieder herausfordert. Je älter sie werden, um so mehr haben sie den Drang, ihre Mutter zu befreien. Aus dem Gefängnis der untertänigen Schwiegertochter, der dem Ehemann gefälligen Ehefrau. Aus dem Gefängnis der Parda: einer räumlichen Abschottung der Frauen, verbunden mit Verschleierung. Das bringen wir europäischen Durchschnittsmenschen nur mit dem Islam in Verbindung und echauffieren uns darüber.


Sunaina berichtet in Ich-Form von ihrem Kampf für die Freiheit der Mutter und auch für ihre eigene und die ihres Bruders.
Sie wollen ihre Mutter befreien, beschützen, sie retten, aber immer wieder schwingt etwas Unergründliches auf in Mai. Trotz ihrer gebeugten Haltung, ihres gesenkten Kopfes mit zur Erde gewandtem Blick, ihres Schweigens und Nicht-Aufbegehrens bewahrt sie eine hoheitsvolle Würde und Kraft. Will sie überhaupt befreit werden? Ist der Goldene Käfig für sie eine Art Refugium?
Die Geschwister gehen immer nur von ihren eigenen Ansichten, Erfahrungen, Bedürfnissen aus und übertragen sie auf ihre Mutter, sie sind egozentrisch, denn nie fragen sie sich, was für ein Leben ihre Mutter vor der Heirat geführt hat.

Die von Shree gezeichneten Charaktere erscheinen mir in ihren Verhaltensweisen fremd, zu einem anderen Kosmos gehörend. Obwohl es ähnliche Konstellationen, nur in etwas anderer Verpackung, natürlich auch bei uns gab und sicher auch noch gibt. Gerade in „höheren“ Kreisen, in denen Abstammung, Familienehre und Traditionen noch eine gewichtige Rolle spielen.

Da ist die selbstgefällige herrschsüchtige Großmutter, die elf Kinder gebar, von denen nur ein Sohn und eine Tochter überlebten. Der Sohn wird wie ein Prinzgemahl vergöttert
Da ist der jähzornige, despotische und feudalistische Großvater. Da ist der Vater, der wie der Großvater, vage angedeutet, eine außereheliche Liaison hat. Der nicht sehr gesprächig ist, sich zurückhält, wenn die Großmutter gegen Mai stichelt. Er wird Schüler eines Baba und zieht sich in sich selbst zurück. Alle Weisheit hat für ihn ihren Ursprung im Hinduismus.
Großeltern wie Eltern leben im gleichen Haus, aber in getrennten Räumen – getrennte Leben.
Mai lebt mit den Kindern in einem Zimmer, nur nachts begibt sie sich zu ihrem Ehemann. Ab und zu nimmt er sie mit in die Außenwelt.

Sunaina und Subodh - ein fast symbiotisches Wir. Dieses Wir wollte die Mutter aus den Handschellen lösen, das Netz der Gefangenschaft entwirren und dieses Wir glaubte fest daran, dass Mais Leben erst mit ihnen begonnen hatte. Sie waren arrogant und hielten sich für bedeutsam und ihre jugendliche Energie für einzigartig. Sie sahen immer nur den Schatten und hörten nur die Stille. Aber Schatten und Stille habe ihre eigenen Gesetze und Ursprünge.
Das Wir löste sich auf und sie gingen eigene Wege – Subodh nach England, Sunaina malte und zog wieder nach Hause, nachdem der Vater erkrankt war. Das Haus, dem sie immer entfliehen wollte, wurde zu einer Mixtur aus Sicherheit und Wohlbehagen und war doch gleichzeitig erstickend
Als Mai so still starb, wie sie gelebt hatte, entdeckten die Geschwister, dass sie den Wesenskern ihrer Mutter nie erfasst hatten. Sie hatte ihre eigene Würde und Lebensfülle, ihr eigenes Ich. Sie hatten sie zu einem Nichts reduziert, weil sie nur die individuelle Selbstverwirklichung ihrer eigenen Vorstellungen als hehres Ziel gesehen hatten.

Erst zum Schluss erkennt Sunaina, dass es immer zwei Wahrheiten gibt. Die Medaille und ihre Kehrseite. Auch ihre Ängste wie ihre Mutter zu werden. „Ich schaue in den Spiegel und sehe meine Mutter. (Nancy Friday)


Ein Roman, der über die Beurteilung von anderen Menschen nachdenken lässt, der intensiv und subtil viele psychologische Facetten anspricht, indem er lebendig den obsessiven Kampf der Kinder für die Freiheit und die sie enttäuschende Verweigerung der Mutter, diese Freiheit anzunehmen, schildert. Ihre Freiheiten sind nicht kompatibel.

Der Roman entführt uns in das indische Alltagsleben einer feudalistischen Gesellschaft und in die Vielfalt der indische Küche. Animiert zum Restaurantbesuch oder zum selber ausprobieren.
Aber vor allem zum Nachforschen über die traditionelle und moderne Rollen der Frauen im heutigen Indien, dem Subkontinent mit fast 1,5 Milliarden Menschen, mit einer komplexen Geschichte, einem rasanten wirtschaftlichen Wachstum und einer wichtigen Rolle im weltpolitischen Machtpoker.

Bewertung vom 22.03.2023
Nomade
Juretzka, Jörg

Nomade


sehr gut

Die Wüste er-fahren. Ohne Fata Morganas.

Ich lese selten Kriminalromane, bei diesem haben mich Titel und Innenleben gereizt.

Für mich ist der vorliegende Roman weniger ein Kriminalroman als eine eine „on the Road“-Story, garniert mit kriminellen Einsprengseln.

Der Stil ist handfest, „handwerklich“. Ohne Hochgeistiges oder tiefenpsychologische Exzesse. Die schnoddrig-rotzigen Sprachfetzen gefallen mir nicht, sollen sie witzig sein, modern?

Es gibt drei nicht-humane Protagonisten, die ausführlich beschrieben werden.
Der Truck mit seinen Malaisen – eine kurze Automechaniker-Einführung, so dass man glaubt, selbst dünenauf dünenab alles im Griff zu haben
Die Wüste als immer vorhandene Kulisse in allen Farb-Schattierungen mit all ihren Schönheiten und Unwägbarkeiten wie Sandstürmen, Wasserfluten, Dünen und Ergs
Und Bella, die wachsame, eigensinnige, treue Hündin, die Mensch-Gefährtin in allen Lebenslagen.

Die anderen Protagonisten sind:
Jamilah, eine verwöhnte instagrammierte somalische Göre mit einem frisch entbundenen Säugling, einzige Überlebende eines Flüchtlingstrucks. Sie sorgt für mörderische ehrenrührige Verwicklungen.
Oumou, die in Tamanrasset auftaucht, auch sie Mutter eines Säuglings, Lehrerin aus Mali, Christin, vom Volk der Dogon.
Roots, ein jamaikanisch-äthiopischer Rasta-Zwerg mit seinem Skateboard,
Mombassa, ein behäbiger Kongolese mit der Undurchsichtigkeit eines Söldner-Maklers.
Abdel Medelci, der Zollchef Südalgeriens.
Ein älterer Afghane, unberechenbarer Räuberhäuptling mit seinen schieß- und mordlustigen, dumpfbackigen Jungs.
Gigi, der Cabriofahrer, ein Mann schwarz wie die Nacht, eine Art Vermittler zwischen Zuhältern und ihren „Pferdchen“
Und last not least die Touristen: regenbogenbunte, tätowierte Neo-Hippies mit ihren Knöpfen im Ohr und ihren Smartphone-Selfies. Und die Trautes-Heim-auf-Reisen-Mobiler.


Hauptdarsteller ist Kristof Kryszinski, ein Ex-Kriminalist, der sich in der Wüste von seinem gestressten Leben, von den Menschen, von Europa erholen will. Ein Selbstfindungs-Trip mit vielen Momenten der Entspannung, Tee oder Wodka trinkend, Opium rauschend….Aber auch ein Trip mit der Mission, vermisste oder verunglückte Personen aufzuspüren. Was ihm oft gelingt, oft aber misslingt. Warum tat er das? Weil nur Wüste ohne Kick und ohne detektivischen Spürsinn – wer waren die Opfer, wer waren die Täter? Woher? Warum? – dann doch zu eingleisig, zu einfarbig wurde.

Auf der Suche nach einem Ehepaar, das auf archäologischer Spurensuche unterwegs war, entdeckte er zwei tote Briten. Früher half man sich in der Wüste, wenn man verletzt oder ohne Wasser war, heute ist nahende Hilfe oft ein Todesurteil. Bewaffnete Banden treiben ihr räuberisches Unwesen, denn die westlichen Unterwegsler sind meist gut ausgestattet mit höchstpreisigen Dingen, sie selbst ein fettes Lösegeld wert.
Bei den Briten entdeckte er, gut versteckt, eine Portion Opium, zu wenig für professionellen Handel, zu viel für den Eigenbedarf. Wahrscheinlich wollten sie, unbedarft und naiv, das lauschige Gift irgendwo verticken, um ihre Reise zu finanzieren.
Und dann die Internet-Pseudo-Promis, Michel und Mikkel: „ein perfektes Paar, das in perfekter Umgebung bei perfektem Wetter sein perfektes Dasein öffentlich machte. Die hier in der Wüste ihre 3. Hochzeit perfekt inszenieren wollten.


In dem leicht lesbaren Roman ist neben der Schilderung der wüsten Fahrten, der handelnden und nicht handelnden Personen auch einiges an Kritik versteckt. Die 2 Klassen-Gesellschaft: westliche Vermisste werden oft durch politischen Druck sogar mit Hubschraubern gesucht, all die versandeten Afrikaner auf dem Weg ins Gelobte Land waren nicht einmal einen Gedanken wert.
So waren auch sie eine wunderbare Einnahmequelle für die Schlepper und Schleuser, denn die kassierten im voraus und hatten ihr Geld schon sicher im Safe, egal, was dann möglicherweise unterwegs passieren mochte. Niemand schrieb Schlagzeilen, es gab keine internationalen Demonstrationen für diese hilflosen Opfer. Und selbst wenn sie es irgendwohin schafften – nun ja, als aufgeklärte Leser wissen wir, wie ihre Geschichten enden.
Für die ansässigen Bewohner sind die westlichen Wüstenfahrer ein Volk von Verrückten. Sich freiwillig der gnadenlosen Wüstennatur auszuliefern, in einer „Blechschachtel“ vor sich hin zu leben, wo die doch zu Hause alles haben: fließendes Wasser, einen Arzt und einen Supermarkt in der Nähe und sogar Geld vom Staat.

All diese Irrungen und Verwirrungen sind plastisch und lebensecht beschrieben. Und es gibt sogar ein offenes Happy-End. Eine Lektüre, die ich durchaus avec plaisir gelesen habe.
Dieses Vergnügen sollten Sie sich auch gönnen, besonders wenn Sie wüstenaffin sind. Und vielleicht danach die Wüste nicht nur mitfahrend, sondern mitgehend erlebend. Wie Otl Aicher.
"Die Wüste ist eine Denklandschaft. Man geht nicht nur zwischen Dünen umher, man macht Gedankengänge. Es verändern sich die Gedankenhorizonte."

Bewertung vom 07.03.2023
Seebeben
Pereira de Almeida, Djaimilia

Seebeben


ausgezeichnet

Vom Leben und Sterben.
Der Autorin Djaimilia Pereira de Almeida ist wieder ein kleines Meisterwerk gelungen. Ein Meisterwerk der Sprache und der Empathie mit einem „Fremdling“. Wechselnd in der Ich-Form und der 3. Person das Leben des schwarzen alten Mannes Boa Morte da Silva aus Angola wie einen Fächer vor uns ausbreitend, einen Spannungsbogen schaffend.


Boa Morte mäandert in Selbstreflexionen und Briefen an seine Tochter Aurora durch sein Leben. Das Leben eines Vergessenen, eines Heimatlosen, der sich in den Straßen Lissabons, im Viertel Chiado seinen Lebensunterhalt als Parkplatzwächter verdient. Es ist die Geschichte eines Mannes,der sich der kolonialen portugiesischen Armee verpflichtete. In der Hoffnung, ein anerkannter Portugiese zu werden. Er hat getötet: die eigenen Blutsbrüder und Landsleute, wahllos. Ein Kamerad starb in seinen Armen.“Ich habe ihn sterben lassen, um mich selbst zu retten.“ Alles im Namen des „Vaterlandes“. Seine Frau, mit dem Baby auf dem Rücken, hat ihn verlassen. Sie hatte ihn gewarnt: „Du wirst nie Portugiese sein, die Weißen haben dich benutzt, wie sie uns alle benutzt haben.“ Er hätte sie getötet, wenn nicht ein Nachbar dazwischen gegangen wäre. Er sah sie nie wieder.
1979 seine „Heimkehr“ in das nie gesehene „Vaterland".

Sein vergangenes und sein jetziges Leben spulen sich wie ein Film durch seine Gedanken.
Nun schreibt er das Drehbuch seines Lebens. Er fühlt sich von der Stadt geschwängert, wenn er mit vorgewölbtem Nabelbruch-Bauch durch die Straßen Lissabons streift: Chiado. Rua Nova do Almada, Rua do Loreto.Rua do Alecrim, Largo de Camões und immer wieder António Maria Cardoso. Buchläden, Restaurants, Bäckereien, Menschen im Laufschritt. Keiner beachtet ihn. Aber er registriert offenen Auges seine Stadt, die Veränderungen, die Menschen und ihre Gleichgültigkeit. Ein Fremder, in einem fremden Land, in einem fremden Leben und doch gibt es Lebewesen, die ihm nah sind, denen er nah ist.
Fatinha, ein Mädchen, schwarz wie er, aus Sáo Tomé und Príncipe, das an einer Straßenbahnhaltestelle der Linie 28 lebt. Sie ist erst 20, hat Diabetes, redet wirres Zeug, ist ungekämmt und riecht ungewaschen, ist dick von Wein und Bier. Sie nennt ihn ihren Prinzen und die Haltestelle ihren Palast, in den sie manchmal imaginierte Gäste einlädt.
Vando, ein junger Drogensüchtiger, für den er wie ein Vater ist, der sich mit Boa Morte einen Gemüsegarten außerhalb der Stadt aufbaut. Freude am Sprießen und Gedeihen der Pflanzen, Gott vollbringt in der Dunkelheit des Beetes seine Wunder. Hoffnung auf ein bisschen Extrageld durch Verkauf auf dem Markt.
Dona Idalina, die ihm ein Zimmer überlässt und das Gartenstück, sie hat vier Hühner besorgt. Sie feiern, mit Gitarrenmusik und Tanz, sie haben frische Eier.
Senhor Prestes, der sich um die Gestrandeten, aus dem Gesundheitswesen Gefallenen kümmert.
Und dann - ja, dann ist da Jardel, Jardel da Silva. Der wie ein Wunder an seiner Seite auftaucht und sein treuester Gefährte wird. Eine symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Hund. Durch ihn fühlt er sich lebendig. Jardel ist sein Lebensretter.
Und dann seine Tochter Aurora: nah und fern zugleich. „Wenn ich Dir schreibe, lebst Du, bin ich lebendig“. Er wäre gern mit ihr Seite an Seite gegangen.

Boa Morte sieht sich selbst als Mann ohne Gepäck, dessen Heimat der Chiado ist. „Niemand sieht uns, die Gestrandeten, niemand will uns sehen, aber wir sehen einander.“ Seine Briefe an die Tochter, von der er nicht einmal die Adresse weiß, sind ein Stück Lebensgeständnis über das Hier und Jetzt, über das Vergangene, sind durchtränkt mit Saudade, des lusitanischen Weltschmerzes, der Wehmut und auch der Sehnsucht.



Boa Morte ist ein stiller Beobachter: die Farben der Mäntel, der Autos und der Markisen. Das Gelb der Sonnenschirme, goldenes Nachmittagslicht auf Marmorfassaden, leuchtendes Lila einer Plastiktüte. Er nimmt die Geräusche der Großstadt in sich auf: das Kreischen der Möwen, das Läuten der Kirchenglocken, das Gebimmel der Straßenbahnen, das metallische Geräusch von Kaffeelöffeln aus einem Café, ein Schlaflied aus einem Fenster.

Wir werden Zeugen seines Abschiednehmens. Er möchte nur ein Symbol auf seinem Grabstein: seine Schritte als Fußabdruck, die seine Wanderungen versinnbildlichen. Seine Wanderungen durch das Leben, durch den Chiado. Er übergibt Fatinha seine Briefe an die Tochter, aber der Wind wehte sie fort. Er geht in die Metro und verschwindet in der Menge.

„Wenn ein Mensch stirbt, stirbt eine Bibliothek.“ Boa Morte (der gute Tod) sah sich selbst als zerrissene, als geplünderte Bibliothek.

Ein kleiner Roman, der die Menschen sensibel und mitfühlend portraitiert, poetisch und prosaisch zugleich, der voller Schmerz und Reue ist und doch von Hoffnungsschimmern, von menschlicher Würde durchwoben ist.

Ein zartes behutsames Werk, das zart und behutsam gelesen werden muss.
Man möchte den nächsten „Nachtzug nach Lissabon“ nehmen, um auf den Wegen des Chiado den Schritten Boa Morte da Silvas zu folgen.