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Adelebooks
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Bremen

Bewertungen

Insgesamt 118 Bewertungen
Bewertung vom 01.09.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


ausgezeichnet

Bissig, authentisch, lakonisch: eine moderne Selbstfindung zwischen Frausein, Mutterschaft, Judentum, Vergangenheit und Zukunft

Ludmilla, genannt Lou, ist Galeristin in den Dreißigern und Mutter der kleinen Rosa. Ihre Ehe mit dem erfolgreichen Pianisten Sergej ist stabil, wenn auch mittlerweile mehr durch Routine als durch Leidenschaft geprägt, das Sprechen über Gefühle fällt beiden schwer. Als Rosa bei einem Besuch bei einer Freundin, ein Kinderbuch über Anne Frank in die Hände bekommt und glaubt Hitler hätte dieses geschrieben, setzt bei Lou eine zunächst kaum greifbare Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Identität ein, ein Glauben und eine Kultur, die im Hintergrund schon immer das Leben von ihr und ihrer Familie bestimmt haben, nicht zuletzt die schmerzhafte Geschichte und Vergangenheit, jedoch in den Traditionen und der gelebten Praxis weder für sie noch für Sergej und auch nicht in der Erziehung Rosas heute bisher eine signifikante Rolle gespielt haben.

Und so begleiten wir in Juli, August, September mit Lou eine junge Frau, Mutter, Tochter und Ehefrau auf einer Suche, um eine Leerstelle in sich zu füllen, die zunächst nur vage Umrisse zeigt, sie deshalb kaum benennen oder auch nur fassen und sich lange selbst nicht eingestehen kann.

In Lous und Sergejs eigener Kindheit und Erziehung vermischen sich sich sowjetische und postsowjetische Erziehungsmuster, Traditionen und Kultur mit der jüdischen Familiengeschichte und ihren eigenen Traditionen. So wirft Olga Grjasnowa in diesem Roman einen Blick auf die Lebenswege und Lebenswelt speziell russischer Juden und ihrer schmerzhaften Geschichte. Im Gegensatz zum Rest der großen Familie ist Lous Mutter mit ihr nach Deutschland emigriert und nicht nach Israel, was auch in der Familie immer wieder zu Spannungen führt, die sich schließlich in einem großen Familientreffen auf Cran Canaria anlässlich des Geburtstags ihrer hochaltrigen Großtante entladen.

In diesem Kontext bearbeitet die Autorin neben jüdischer Identität und Lebenswegen weitere zentrale Themen, wie Mutterschaft, Fehlgeburten, moderne Beziehungen und ihre Herausforderungen.

Die Erzählung ist in drei Teile gegliedert. In Juli lernen wir Lou, Sergej, Rosa, ihr Familienleben und die Beziehung näher kennen. Im zweiten Teil steht das Familientreffen mit allen Eigenheiten und Eskalationen auf Cran Canaria im Mittelpunkt und Lous erste Einblicke in die Vergangenheit ihrer Großmutter und Großtante. Der letzte Abschnitt führt Lou auf ihrer Suche nach Antworten schließlich nach Israel.

Die ruhige, lakonische, sensible und aufmerksame Art mit der Grjasnowa Lou porträtiert und begleitet hat mich tief an ihrem Lebensweg und ihrer Geschichte teilhaben lassen. Besonders gut gefällt mir der zum Teil fast bissige Schreibstil, mit dem die Autorin gerade auch Besonderheiten und Absurditäten in der Familie wie im Alltag einzufangen weiß. So gelingt ihr ein modernes Porträt einer postsowjetisch-jüdischen Selbstfindung und Familie. Ganz klare Empfehlung!

Bewertung vom 18.08.2024
Alte Eltern
Kitz, Volker

Alte Eltern


ausgezeichnet

Aufwühlend, ehrlich, sachkundig - ein kluges, berührendes Buch über das Lebensende der Eltern und den Umgang damit

In Alte Eltern widmet sich Volker Kitz behutsam und ehrlich einem Thema, das fast alle von uns irgendwann betrifft und gleichzeitig gesellschaftlich zu oft verdrängt wird: dem nahen Lebensende der Eltern.

Mit viel Empathie beschreibt Volker Kitz die fortschreitende Demenz seines Vaters und mit ebenso viel Ehrlichkeit die Gefühle, die dies bei ihm auslöst. Scham, Verzweiflung, Trauer, Wut, aber auch die Momente der Freude und Dankbarkeit, für das was war, und auch was trotz allem noch ist.

Die Beschreibung des Augenblicks und der Begleitung seines kranken Vaters verbindet sich immer wieder mit dem Rückblick auf die Lebensgeschichte des Vaters ebenso wie seine eigene Kindheit mit diesem. Dazu tritt der Blick in die Zukunft und mit ihm die Gedanken und das Bewusstsein der eigenen Vergänglichkeit. Dabei wird rasch deutlich, dass das Thema Verlust nicht erst mit der Erkrankung des Vaters aufscheint. Der frühe, plötzliche Unfalltod der Mutter fast zwei Jahrzehnte zuvor war bereits ein einschneidendes Erlebnis, dessen Erinnerung und auch eine Form der Aufarbeitung in die Zeilen immer wieder mit einfließt.

Mit kurzen gedanklichen Ausflügen u.a. in die Philosophie, Soziologie, Psychologie, Neurowissenschaft und sogar Museumswissenschaft erarbeitet sich Volker Kitz einen Zugang zu diesem schwierigen, weil im wahrsten Sinne des Wortes existentiellen Thema und versucht dabei gleichzeitig sich selbst darin zu verorten, im Erinnern und Loslassen in Familien.

So lernt die Leserin beispielsweise über die verschiedenen Arten des Gedächtnisses, wie etwa das prozessuale Gedächtnis, wenn der Kopf das Konzept den Löffel an den Mund zu führen nicht mehr findet oder die Unendlichkeitsfiktion von Gewohnheiten bei Janosch Schobin. So lehrreich, intuitiv und gut gewählt diese theoretischen Zugänge sind, machen sie doch nur einen Aspekt aus, den dieses Buch so lesenswert macht. Die Zeilen leben und überzeugen viel mehr durch die Introspektion des Autors und der Offenheit mit der er diese teilt. Überzeugt hat mich hier insbesondere die Fähigkeit des Autors auch Schmerzhaftes und fast Unaussprechliches in Worte zu fassen, eine Form dafür zu finden, und sei es nur ein Nebensatz, der die ganze Absurdität einer Situation erfasst, wie etwa die Bemerkungen von Menschen in seinem Umfeld, nach dem Unfalltod seiner Mutter und der fehlenden Möglichkeit sich zu besprechen, auszusprechen, ein letztes Mal - sie könnten das nicht. - Als ob man gefragt würde. - So simpel, so wahr. Wahr ist jedoch auch, dass wir versuchen können, versuchen müssen, mit dem zu arbeiten, was das Leben uns vorsetzt, dem Schönen wie dem Schmerzhaften. Und genau einen solchen Zugang eröffnen die Zeilen des Autors und schaffen so in aller Traurigkeit, etwas Wundervolles und Tröstliches in der absoluten Offenheit und Ehrlichkeit.

Der Autor hat mich mit der Beschreibung seiner Gefühle und Gedankengänge in der schwierigen Erkrankungssituation und dem Tod seines Vaters zum Nachdenken angeregt und unglaublich berührt, das Mitansehen des Abbaus und der Verwirrung des Vaters, der nahende Verlust und schließlich Tod des Elternteils, aber auch die Gedanken und das Erinnern an die Vergangenheit ebenso wie die eigene Vergänglichkeit. All dies verknüpft der Autor mit einer informierten Recherche und Introspektion! Unbedingt Lesen!

Bewertung vom 17.08.2024
Ex-Wife
Parrott, Ursula

Ex-Wife


ausgezeichnet

Wenn die Freiheit von Frauen zu einem Geschenk für Männer wird

Mit nur 24 Jahren ist Patricia Mitte der 1920er verlassene Ehefrau. Ihr Mann Peter hat sie wegen einer neuen Frau, Hilda, verlassen. Obwohl Patricia, genannt Pat, durchaus in einigen Aspekten als emanzipiert gelten kann, sie ist Werbetexterin, pflegt Freundschaften mit Männern etc., setzt die Trennung ihr schwer zu. Dies liegt nur zum Teil daran, dass sie Peter noch immer liebt. Schwer wiegt jedoch auch, dass die vermeintliche Freiheit, die sie als Frau nun genießt, in der noch immer tief patriarchalen Gesellschaftsordnung, keine echte Freiheit ist und sie von den Zwängen einer Ehe, dem Urteil eines Mannes, in die Zwänge der patriarchalen Gesellschaft und dem Urteil vieler Männer manövriert.

Ein Trost und auch eine Form von Rettung ist die Bekanntschaft mit der 5 Jahre älteren Lucia, ebenfalls Ex-Frau, die Pat unter ihre Fittiche nimmt und mit ihr zusammenzieht. So lernt Patricia mehr über ihre neue Rolle als junge hübsche Exfrau in dieser Gesellschaft, ihre Möglichkeiten und besonders ihre Grenzen. Ehe, Kloster, Straße: das sind in Kurzform die begrenzten Möglichkeiten der Frauen dieser Zeit. Der viel beschworenen neuen Freiheit fallen die Frauen eher zum Opfer, als dass sie davon tatsächlich profitieren. Denn dies tun die Männer. Die Macht der Männer und des Patriarchats wirken auf Patricia und ihre Freundinnen weiterhin fort, bei gleichzeitigem Zwang wirtschaftlich für sich zu sorgen in einem patriarchalen, ungerechten Arbeitsleben, ohne wirtschaftliche Sicherheit. Die Männer wiederum müssen keine Stabilität mehr liefern und können sich unverbindlichen Abenteuern ohne Verpflichtungen mit attraktiven jungen Exfrauen hingeben.

Eine echte Emanzipation Patricias von den patriarchalen Vorstellungen findet auch in Patricias Haltung kaum statt. Patricia leidet, beugt sich jedoch den Zwängen und kann sie auch innerlich nicht ablegen. Konsequent bedient sie ihre Rolle als Frau in dieser Gesellschaft, die stets hübsch, kokett, unterhaltsam, sorgend und verfügbar für Männer zu sein hat, egal ob als Ehefrau oder Exfrau. Die Frau als Objekt und Projektion für Schönheit.

Ex Wife ist daher vor allem ein Zeitzeugnis und zeigt in allen Nuancen auf, welchen gesellschaftlichen Zwängen Frauen in dem vermeintlichen Jahrzehnt der Freiheit unterworfen waren. Jenseits der Ehe wartet auf sie keine Freiheit, vielmehr waren sie vogelfrei - auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen von Männern in Wirtschaft und Gesellschaft ausgeliefert ohne die Stabilität und Sicherheit in einer Ehe. Was dies bedeutet, buchstabiert Ursula Parrott in einem unterhaltsamen und nachdenklich machenden Roman anhand von Patricas Geschichte aus. Besonders ihre Gedanken und Gefühle sind sehr nahbar gezeichnet und werden so nachvollziehbar und letztlich zu einem Spiegel der damaligen Gesellschaftsordnung.

Hervorzuheben ist auch das Vorwort und darin die Einordnung des Romans von Mareike Fallwickl.

Ex-Wife ist ein unterhaltsamer, wie nachdenklicher Roman und ein beeindruckendes Zeitzeugnis gleichermaßen. Mit feinem Gespür und großem sprachlichen Talent zeigt Ursula Parrott die Möglichkeiten und Zwänge von Frauen der Upperclass in den USA der 1920er Jahre auf und wirkt dabei in einigen Aspekten erschreckend aktuell! Ein beeindruckender Roman, der zu lange und zu unrecht in Vergessenheit geraten ist. Unbedingt lesen!

Bewertung vom 17.08.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


ausgezeichnet

Auf der Suche nach einer Leerstelle

Seinetwegen beschreibt als autofiktionales Werk die Suche Zora del Buonos nach E.T., dem Verursacher des Autounfalls, bei dem ihr Vater tödlich verletzt wurde. Sie selbst war damals noch ein Säugling, der Vater über den ihre Mutter aus Schmerz und Trauer mit ihr nie vermochte zu sprechen, blieb eine ewige Leerstelle in ihrem Leben, ebenso wie die Umstände, die zu seinem Tod führten. Erst in ihrer zweiten Lebenshälfte, unter dem Eindruck der fortschreitenden Demenz der Mutter wagt sie sich auf die Reise diese Leerstelle zu füllen. Dies ist sowohl wörtlich, als Reise und Suche nach dem Unfallverursacher gemeint, jedoch ebenso im übertragenen Sinne als Reise und Erkundung ihrer selbst, ihrer Vergangenheit und der Beziehung und Haltung zu dem Vater, der eine Leerstelle, aber dessen Fehlen in ihrem Leben auf andere Art immer präsent war, sei es als Halbwaise, als Tochter einer verwitweten Mutter oder als Tochter eines Italieners, jeweils mit entsprechenden Vorurteilen konfrontiert. So kommt die Autorin mit der Recherche nach E.T. auch, und das ist vielleicht viel entscheidender, dem Vater näher, über den nie gesprochen wurde, und damit letztlich auch einem Teil von sich selbst.

Was Seinetwegen für mich jedoch primär ist, ist eine sensible, schonungslos ehrliche Selbsterkundung, die mich sehr an Annie Ernaux erinnert hat. Wie Ernaux erkundet del Buono nicht nur aufmerksam ihre Umwelt und Vergangenheit, sondern entdeckt und legt als „Ethnologin ihrer Selbst“ in der Introspektion ihre Gefühle und Prägung offen und teilt diese mit uns als Leserinnen. Der Ton bleibt dabei nüchtern, sachlich, jedoch keineswegs emotionslos. Es wirkt vielmehr als ob die sachliche Distanz erst ermöglicht, um so tiefer emotional vorzudringen.

In diesem Kontext behandelt die Autorin auf ihrer Reise zusätzlich wichtige Themen, wie den Umgang mit Demenz, Trauer, sowie Vorurteilen und Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, Herkunft und Sexualität.

Besonders machen den Stil des Buchs auch die vielen Assoziationen und Anekdoten, die die Autorin bei ihrer Suche und im täglichen Erleben herstellt und teilt. Nur scheinbar zusammenhangslos erzeugen diese eine Stimmung, verdichten das Bild, und lassen am Erleben der Autorin auf diesem Weg teilhaben.

Seinetwegen ist ein besonderes Buch, auf das man sich stilistisch und inhaltlich einlassen muss, wer das tut, wird mit einem ebenso persönlich-inhaltlich wie literarisch-stilistisch besonderen Lebenserlebnis belohnt!

Bewertung vom 31.07.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


ausgezeichnet

Über eine Liebe, die ihre Zeit sucht

Man sieht sich erzählt die Geschichte von Friederika, genannt Frie, und Robert, die seit ihrer Jugend eine tiefe Freundschaft verbindet. Und zunächst insgeheim ist da auch immer schon mehr, doch es ist das Leben, das immer wieder verhindert, dass aus der Freundschaft die Liebesbeziehung wird, die sie sein könnte. So ist der Roman nicht nur eine Geschichte vom Finden und Verlieren der Liebe, sondern viel mehr als das, eine Geschichte über die Irrungen und Wirrungen des Lebens, die manchmal unseren Weg bestimmen.

Beginnend mit der gemeinsamen Schulzeit als Robert zur 11. Klasse an Fries Schule wechselt, begleitet Julia Karnick Frie und Robert über rund drei Jahrzehnte bis in die Gegenwart. Die Perspektive wechselt hier von Kapitel zu Kapitel zwischen Robert und Frie. Dies finde ich sehr gelungen, da wir so in beide Charaktere einen tiefen Einblick bekommen und die Welt, aber auch die jeweils andere Person mit ihren/seinen Augen sehen.

Für mich ist Man sieht sich kein klassischer Liebesroman, sondern im aller positivsten Sinne insgesamt eher ein Gesellschaftsroman, der durch die Liebesgeschichte eine zusätzliche Ebene und Rahmen gewinnt. Anhand der Lebensgeschichten von Frie und Robert thematisiert die Autorin nicht nur das Entstehen und Scheitern von Beziehungen sondern auch gesellschaftliche und persönliche Problemlagen, wie den Umgang mit schweren Erkrankungen, die Bürden von Alleinerziehenden für Elternteil und Kind, traditionelle und ungesunde, dominante Beziehungsmuster, die Rolle von Frauen in der Gesellschaft und vieles mehr. Das klingt viel, ist es aber nicht, da es ganz natürlich über die sehr authentischen Lebensgeschichten Fries und Roberts und natürlich ihre Liebesgeschichte thematisiert wird. Ein toller Roman, den ich sehr gern uneingeschränkt empfehle!

Bewertung vom 29.07.2024
Vorstandssitzung im Paradies
Paasilinna, Arto

Vorstandssitzung im Paradies


ausgezeichnet

Eine faszinierendes Leseabenteuer zwischen Komödie und Gesellschaftskritik

In Vorstandssitzung im Paradies nimmt uns Arto Paasilinna mit auf ein skurriles, zuweilen komisches und gleichzeitig nicht weniger lehrreiches Leseabenteuer.

Der Ich-Erzähler ist finnischer Journalist auf einer Recherchereise von Japan nach Australien. In dem von der UN gecharterten Flugzeug sind die Mitpassagiere Krankenschwestern, Ärzte und Waldarbeiter aus verschiedenen skandinavischen Ländern, die in unterschiedlichen Regionen auf dem asiatischen Kontinent Entwicklungshilfe leisten sollen. Als das Flugzeug schließlich dramatisch über dem stillen Ozean abstürzt, landen die Überlebenden auf einer Insel im gefühlten Nirgendwo.

Aus dem Kampf ums Überleben, zunächst allein, dann in der Gruppe, wird Tag für Tag mehr ein Einrichten in ein neues Leben mit schließlich einigem Komfort dank dem Erfindungsreichtum und der Zusammenarbeit in der Gemeinschaft. Eine große Rolle spielt hier das allmähliche Finden als Gemeinschaft und die Anpassung an die Natur in dem nicht freiwillig gewählten Paradies.

Die Entwicklung und Weiterentwicklung der Gemeinschaft der Gestrandeten wird sehr gut herausgearbeitet, Ansätze und Entwicklungen der Ideengeschichte werden dabei geschickt integriert, so beispielsweise die Einführung des Geldes als Sündenfall (Rousseau) und daraus abgeleitet der Verbleib im Naturzustand ohne Eigentum, die Entwicklung des Tauschsystems, der Versorgung und letztlich auch eines Strafrechts (auch wenn letzteres zunächst doch sehr archaisch war) und eines kleinen Gesundheitssystems. So begleitet der Autor die Entwicklung eines eigenen Gesellschaftssystems, das sich partizipativ und dem Gemeinwohl verpflichtet, in der Gruppe auf der Insel herausbildet. Dabei wird deutlich, dass es eben dieses System ist, das letztlich das Überleben der Gruppe sichert, die zunehmend kritisch die vermeintlichen Errungenschaften des Westens mit allen Folgen für Mensch und Natur reflektiert.

Der Schreibstil des Autors hat mich direkt begeistert, schnörkellos, eingängig, ein absolut trockener Humor und viel Selbstironie - wer das mag, wird wie ich große Freude an dem Buch haben.

Insgesamt war das Buch für mich eine tolle Mischung aus Komödie und Gesellschaftskritik. In ähnlicher Form kenne ich das beispielsweise auch von Erich Kästner, insofern war es auch interessant für mich einen Autor mit ähnlichem Stil und gesellschaftskritischem Anliegen aus einem skandinavischen Land zu lesen. Eine absolute Empfehlung und für mich die Einladung weitere Bücher des Autors zu entdecken!

Bewertung vom 24.07.2024
Romantic Comedy
Sittenfeld, Curtis

Romantic Comedy


sehr gut

Spritzige, feministisch angehauchte Romcom mit Stil und Witz

Sally ist 36 und Autorin bei der bekanntesten Live Comedy Show des Landes. Sehr zu ihrem Ärger und mit ausreichend feministischer Empörung beobachtet sie in ihrem Umfeld den Umstand, dass es durchaus möglich ist, dass sich erfolgreiche, attraktive weibliche Superstars mit eher durchschnittlichen Männern einlassen, der umgekehrte Fall jedoch nicht eintritt. Diese Überzeugung begleitet sie auch als der Popstar Noah Brewster einen Gastauftritt in der Show hat und sich zwischen den beiden eine seltsame Chemie entwickelt. Sally fühlt etwas und kann doch nicht glauben, dass es Noah genauso gehen soll, denn das wäre völlig gegen die ungeschriebene von ihr beobachtete Regel. Fühlt Noah genauso? Steht Sally sich primär selbst im Weg? Das gilt es auf knapp 400 Seiten in dieser wirklich unterhaltsamen und klugen Romcom herauszufinden.

Die Struktur gliedert sich in drei Kapitel, die sich nicht nur durch die Handlung sondern insbesondere auch den Stil unterscheiden. Während im ersten Kapitel Sallys Perspektive und mit ihr auch die Hintergründe im TV Business und die erste Annäherung im Mittelpunkt stehen, wird im zweiten Kapitel das Kennenlernen zwischen Noah und Sally anhand eines Email Dialogs begleitet. Mich erinnerte Letzteres ein bisschen an Gut gegen Nordwind, auch wenn sich Noah und Sally im Gegensatz dazu schon kennen. Interessant fand ich auch, dass Teil zwei und drei inmitten von Corona-Pandemie und Lockdown spielen, und diese so ganz natürlich in die Handlung eingebunden sind und gleichzeitig diese auch prägen, wie wenn Noah von seiner Infektion berichtet, oder der Isolation als Künstler ohne Auftritte. Dies habe ich als sehr gelungen empfunden!

Sally und Noah sind beides komplexere Figuren, deren Besonderheiten sich erst im Laufe der Zeit entwickeln, wenn sie sich einander öffnen und so auch der Leserin mehr Einblicke in ihre Leben, Haltungen und ihr Denken bieten. Gerade im zweiten Teil gewinnt auch Noahs Perspektive durch den Maildialog einen höheren Stellenwert, der sich durch die sehr offene Kommunikation im dritten Teil fortsetzt.

Interessant fand ich auch die Geschichte in der Geschichte, wenn Sally selbst davon berichtet ein Drehbuch für eine feministische Romcom schreiben zu wollen, und deren Anspruch erläutert.

Etwas negativ ist mir der sehr starke Fokus auf Noahs Aussehen aufgefallen, wie es von Sally bis zum Ende hervorgehoben wird. Hier hätte ich mir noch etwas mehr Entwicklung und Distanz in der Charaktergenese gewünscht.

Der Schreibstil der Autorin gefällt mir ausgesprochen gut, direkt, ehrlich mit spritzigen, klugen Dialogen, fliegt die Leserin durch die Handlung.

Der feministische Anspruch des Romans zeigt sich nicht nur in der Storyline mit einer talentierten, intelligenten Autorin sondern auch immer wieder durch Sallys Haltung und Aussagen, besonders gelungen fand ich hier auch die Anspielungen auf den Sexismus des Präsidenten Trump und die vielen politischen Gags. Insgesamt ist Romantic Comedy eine wirklich gelungene Romcom mit viel Witz, Charm und Anspruch, die sich gut und entspannt an ein paar Urlaubstagen lesen lässt und dabei sehr gut unterhält.

Bewertung vom 23.07.2024
Das Pfauengemälde
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


sehr gut

Eine poetische Reise in eine rumänische Familie und die Vergangenheit des Landes

Ein Brief mit zahlreichen Stempeln reißt die junge Ana aus ihrer Lethargie und Verdrängung, die ihr Leben nach dem Tod des geliebten Vaters Nicu vor zwei Jahren prägt.

Nicus Lebensaufgabe war es das Unrecht und die damit verbundenen Enteignungen im kommunistischen Rumänien, die der Familie angetan wurden, anerkannt zu wissen und das Eigentum der Familie zurückzuerhalten. Prominent sind dabei nicht nur Immobilien sondern auch ein Gemälde, dass ihn seit seiner Kindheit geprägt und tief beeindruckt hat - das Pfauengemälde. Dieses soll mit der Restitution des Familienhauses, dem finalen Gerichtsurteil von dem der Brief berichtet, nun an Ana gehen.

Eher widerwillig macht sich Ana auf den Weg nach Rumänien und damit auch in das Leben ihres verstorbenen Vaters, der Erinnerung an ihre Zeit dort mit ihm, zu ihrer großen Familie und nicht zuletzt auch einem entscheidenden Teil in sich selbst.

Mit viel Liebe und Feingefühl beschreibt die Autorin die Eigenheiten und Gepflogenheiten des Landes, seine Architektur und ganz besonders die Menschen. So legt die Autorin die Lebensrealität und die erstaunliche Anpassung der Menschen an diese offen, beschreibt die wechselvolle und oft schmerzhafte Geschichte des Landes und welche Auswirkungen diese auf Anas Familie und Vorfahren hatte. Anas große, zuweilen liebenswert verrückte Familie mit Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen, ist wundervoll porträtiert und jedes Mitglied zeigt einen Weg wie ein Individuum mit den äußeren Umständen umgehen kann und oft schlicht muss, aber auch wie eine ganze Familie durch diese getrennt werden kann.

In den Erinnerungen Anas an ihren Vater und das Leben mit ihm, thematisiert die Autorin auch immer wieder die Hürden und fehlende Anerkennung, die er trotzt Promotion in Deutschland, erfahren hat. Für die komplexe und bewegte Geschichte des Vaters, und damit auch Anas, war in der normierten deutschen Mehrheitsgesellschaft kein Platz. Dieses Leben im Dazwischen fern der alten Heimat, in der ihm und der Familie so viel Unrecht und Leid angetan wurde, und dem gewählten Exil in Deutschland mit seiner eigenen kleinen Familie, jedoch trotzdem seltsam fremd, ist etwas, das oft unbewusst auch Anas Leben mitbestimmt hat. Eben dieser Zerrissenheit stellt sie sich auf ihrer Reise, die so viel mehr werden wird als die Abholung eines Bildes.

In Ana mischen sich so viele Emotionen, denen zu stellen sie sich lange nicht gewagt hat, Trauer über den Vater, Scham, darüber dass sie ihre rumänische Seite und damit die Geschichte ihres Vaters so lange verdrängt hat, aber auch Verbundenheit, die sie im Kreise ihrer Familie und dem Heimatland ihres Vaters fühlt.

Der Inhalt eines Briefs und seine Folgen bringen Ana so letztlich nicht nur zum rumänischen Teil ihrer Familie, sondern auch näher an ihren Vater und damit auch sich selbst.

Besonders macht diesen Roman insbesondere auch seine Sprache. Langsam, sensibel und mit dem Fokus auf Zwischentöne entwickelt Bidian die Geschichte Anas und ihrer Familie. So entstehen teilweise wunderschöne poetische Bilder, in denen sich die Autorin jedoch für meinen Geschmack auch manchmal verliert, dies zu Lasten der eigentlichen Handlung.

Ein vielversprechendes Debüt, das mich schon freudig weitere Werke der Autorin erwarten lässt!

Bewertung vom 22.07.2024
Mitte des Lebens
Bleisch, Barbara

Mitte des Lebens


ausgezeichnet

Ein kluger, nachdenklicher und einfühlsamer Blick auf die Lebensmitte und ihre Fragen in uns

Barbara Bleisch blickt in die Mitte des Lebens auf eine in Debatte und Wissenschaft oft vernachlässigte Lebensspanne: die Lebensmitte, gefasst als mittlere Lebensphase zwischen ca. Mitte 30 bis Mitte 60. Diese beschreibt sie als Phase des Revue passieren Lassens, Bedauerns, vielleicht auch der Reue, aber gleichzeitig auch der Neuausrichtung, des Stolzes, der Dankbarkeit und Zufriedenheit.

In einem sehr flüssigen und eingängigen Schreibstil wirft die Autorin Fragen auf, ergründet sowohl wissenschaftlich als auch lebenspraktisch und sensibel, die Themen die Menschen in dieser Phase beschäftigen. Dabei bedient sie sich immer wieder Referenzen aus Literatur, Poesie, Theater und natürlich Philosophie, Psychologie und Soziologie, zum einen zur Vermittlung und Herleitung von (theoretischen) Hintergründen, aber oft auch der Veranschaulichung zunächst eher abstrakter Gedanken.

Dies ist über weite Teile wunderbar gelungen und liefert wichtige Denkanstöße. Besonders gut hat mir die Zuspitzung am Ende eines jeden Kapitels gefallen: was können wir ganz lebenspraktisch aus dem Geschriebenen mitnehmen? Hier ergeben sich einige erhellende Gedanken- und Handlungsanstöße.

An einigen Stellen, insbesondere in der ersten Buchhälfte, waren die Ausführungen für mich allerdings zuweilen etwas redundant, wenngleich aufgrund der komplexen und oft auch theoretisch-ideengeschichtlichen Thematik diese Redundanz sicher auch zur Vertiefung der Inhalte dienen kann. Insofern ist dies für mich nichts, was die Qualität des Essays merklich schmälern würde.

Die Mitte des Lebens von Barbara Bleisch ist ein wunderbar kluges und kurzweiliges Buch, das nachhallt und wichtige Denkanstöße zu den Fragen liefert, die Menschen in der Lebensmitte begleiten!

Bewertung vom 16.07.2024
Weil ich an dich glaube - Great and Precious Things
Yarros, Rebecca

Weil ich an dich glaube - Great and Precious Things


gut

Sehr amerikanisch und klischeebeladen

Weil ich an dich glaube erzählt die (Liebes-)Geschichte von Willow und Camden, eingebettet in das beschauliche Alba in Colorado. Die Story setzt ein mit der Rückkehr Camdens von seiner Militärzeit. Vor vielen Jahren hat er seinem Heimatdorf den Rücken gekehrt. Was zuvor, und während dieser Zeit passiert ist, wird erst Stück für Stück freigelegt und jeweils aus den Perspektiven von Willow und Camden erzählt. Beide verbindet durch ihre Familien eine Kindheitsfreundschaft, die Mütter waren beste Freundinnen, Camden und seine Brüder sind mit Willow und ihrer Schwester quasi aufgewachsen. Obwohl Camden und Willow immer eine besondere Beziehung hatten, ist es letztlich der jüngste Bruder Sullivan mit dem sie zusammenkommt, bis dieser jung sein Leben verliert. Dieser Schicksalsschlag schwebt über der Handlung, nicht nur ist Willow die Frau, die er liebt, Witwe seines Bruders, auch fühlt er sich verantwortlich für den Tod seines Bruders. Für die Beziehung zu Willow ergibt sich so ein scheinbar unlösbarer Konflikt für ihn, der dazu führt, dass er sich trotz seiner Gefühle unbedingt von ihr fernhalten möchte.

Der Schicksalsschlag um Sullivan ist nicht der Einzige in der Familie, die Mutter der Daniels Brüder ist früh durch einen Pumaangriff verstorben, der Vater hat nun Alzheimer und kommt immer weniger zurecht. In diese schwierige Familiensituation kehrt Camden nun zurück, will sie lösen, will helfen. Wir ihm dies gelingen? Und wie soll er Willow begegnen? So thematisiert die Autorin um die Liebesgeschichte von Willow und Camden auch sehr ernste Themen wie Alzheimer, Traumata, PTBS, Verlust und Trauer.

Für mich war es das erste Buch der Autorin, auch vor dem Hintergrund des Hypes um ihre Fourth Wings Reihe, der mich neugierig gemacht hat. Leider konnte mich die Story nicht wirklich erreichen. Dies lag zum einen an der Orts- und Themenwahl. Die Autorin porträtiert das Leben in einer amerikanischen Kleinstadt und die Folgen der Armyzugehörigkeit, beides Themen, die sehr weit weg für mich sind und für die es bei einer sachlichen Auseinandersetzung damit wesentlich bessere Literatur für mich gibt. Zum anderen konnte mich jedoch auch der Stil und Spannungsaufbau nicht erreichen. Zu klischeebeladen war für mich die Story, zu platt viele Dialoge, und dadurch keine echte Nähe zu den Protagonistinnen aufbaubar.

Für Fans einfacher Liebesromane mag das Buch interessant sein, auch wenn ich vermute, dass es selbst in diesem Kontext kein echtes Highlight wird. Mich konnte es leider nicht überzeugen.