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booktower
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Rodgau

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Insgesamt 63 Bewertungen
Bewertung vom 17.04.2024
Unter dem Moor
Weber, Tanja

Unter dem Moor


ausgezeichnet

Schon am Anfang der Geschichte taucht man ein in Tanja Webers intensiven Schreibstil. Dass in dieser Erzählung Dinge geschehen werden, die nicht leicht sind, erspürt man schon zwischen den Zeilen. Die Autorin beschreibt Gefühle detailliert - Ninas ausgebrannten Zustand durch ihre Arbeit in der Charité sowie die innere Leere, die sich in ihre Ehe eingeschlichen hat. Sie sucht Ruhe und plant eine Auszeit von ihrem Beruf, doch das Gespräch bringt sie dazu, zu kündigen. Ihr Ehemann unterstützt sie in ihrem Entschluss. Gleichzeitig wird ihr Mann für drei Monate nach Toronto berufen. Dann suchen Kollegen ihres Ehemanns aus Kanada eine Wohnung in Berlin für einige Zeit. Nina bucht eine Auszeit in einer ruhigen Gegend und fährt ans Stettiner Haff, während die Kollegen in ihrer Wohnung bleiben. Ihre Begleiterin wird ihre neue Hündin Ayla aus Rumänien sein, vermittelt von ihrer Freundin Berit. Nina wünschte sich eine Seelenhündin, eine Begleiterin für ihren ausgebrannten Zustand. Seit der ersten Begegnung mit Ayla fühlt sie leider die erwünschte Seelenverbindung zu ihr nicht.
Eine spannende Reise beginnt – von Berlin nach Mecklenburg-Vorpommern in eine hoch geschichtsträchtige Gegend – das Stettiner Haff. Die Gegend ist waldreich und hat eine Verbindung zur Ostsee. Eine Reise beginnt - Rückblicke in die Nazizeit und später in die DDR vor 1989 gehören dazu, völlig unerwartet für Nina. Diese Rückblicke helfen dabei, das, was Nina während ihres Aufenthalts erlebt, in Beziehung zu setzen. Sie macht erstaunliche Funde auf ihren Streifzügen durch die dichten Wälder, die uns tief in die Vergangenheit blicken lassen. Wir lesen vom Landjahr der jungen Mädchen 1936. Sie müssen die von Hitler konzipierte Ideologie - einen Volkskörper der Gemeinsamkeit zu schaffen - mit allen Härten erleben und sich auf dem Gutsherrensitz der von Wetzlaffs durchschlagen. Auch trifft sie Menschen, über deren Vorfahren wir in den Rückschauen lesen. Die Zeiten nach dem Dritten Reich in der DDR betrachten wir. Und auch die die Zeit nach 1989, als wir Frauen und Männer wieder antreffen, von denen wir im Lauf der Geschichte lange nichts hörten.
Tanja Weber hat eine einzigartige, aufwühlende Geschichte komponiert. Kunstvoll zusammengestellt. Immer wieder erleben wir unerwartete Wendungen, die im Zusammenhang stehen mit dem, was wir vorher gelesen haben.
Hier ist eine Geschichte, die einen lange nicht los lässt. Ich wünsche ihr viele Leser und Leserinnen. So wie die Autorin uns am Ende der Geschichte mit wunderbaren Worten dankt, so danke auch ich ihr für diese Bilder aus vergangenen Zeiten. Manche davon reichen hinein bis in unser Leben von heute.

Bewertung vom 12.04.2024
Das Mondscheincafé Bd.1
Mochizuki, Mai

Das Mondscheincafé Bd.1


ausgezeichnet

Allein der Einband ist etwas ganz Besonders. Wenn man über ihn streicht merkt man, dass der Mond, die Fenster des Cafés – ein ausgemusterter Eisenbahnwagen – der Titel und der Ständer vor dem Café etwas erhabener sind, als die übrige Fläche. Es ist schönes Gefühl, über den Einband zu streichen.
In ausführlich gestalteten Kapiteln begleiten wir Menschen, oft aus der Unterhaltungsbranche, durch ihr Leben. Sie treffen an verschiedenen Tagen zusammen, sie verabreden sich für einen Kaffee, sie gehen spazieren in einem der herrlichen Parks in Kyoto. Bei Vollmond können sie sich urplötzlich in einem außergewöhnlichen Café widerfinden. Es scheint, als ob sie schon erwartet werden – von menschengroßen, wunderschönen und klugen Katzen. Schildpattkatzen, Perserkatzen, einer Tuxedo Katze, einer Singapura. Die Katzen hören den Gesprächen zu und helfen ihren Gästen, sich selber besser zu verstehen. Einfühlsam erklären sie ihnen faszinierendes Wissen über die Planeten und die Rolle, die sie im menschlichen Leben spielen können. Dabei bedienen sie sich modernster Technologie: mit Hilfe einer ganz besonderen Taschenuhr können sie die individuellen Horoskope riesig in den Himmel projizieren.
Die Gäste bestellen nichts, ihnen werden köstliche Gerichte serviert, die genau auf ihre Persönlichkeiten zugeschnitten sind.
Oft geht es um Liebe, um Selbstbehauptung, um Anerkennung. Da ist die Drehbuchschreiberin Mizuki. Sie war einst berühmt und erfolgreich, doch inzwischen lassen Aufträge von denen sie leben könnte, auf sich warten. Von einer berühmten und überall beliebten Schauspielerin kommen private Dinge ans Licht, die dem Publikum nicht gefallen. Ihr Absturz in der Öffentlichkeit ist gewiss. Sie ist verzweifelt. Wird sie Rettung finden? Alle Gäste erhalten eine Lebensberatung auf der Basis der uralten Wissenschaft Astrologie. Alle erleben, dass sie sich plötzlich auf ihrer Bank im Park von Kyoto widerfinden wenn sie das Café verlassen wollen. Sie sind nun klüger und fühlen sich gestärkt, ihr Leben nach ihren Wünschen zu gestalten.
In Japan werden Katzen allgemein geschätzt und in Ehren gehalten. In manchen Schreinen werden sie als heilige Tiere verehrt. Diese Geschichte werden alle genießen, die über Astrologie neues Wissen erlernen möchten und sich auch schon lange mit diesem Gebiet beschäftigen. Für Japan Fans wird sie ein Genuss sein – über japanisches Leben und von den Verbindungen unter Kollegen und Freunden erzählt Mochizuki lebendig und höchst unterhaltsam.

Bewertung vom 10.04.2024
Wo die Asche blüht
Que Mai, Nguyen, Phan

Wo die Asche blüht


ausgezeichnet

Dieser Roman ist eine Geschichte die man nicht mehr aus der Hand legen möchte, nachdem man sie begonnen hat. Sie enthält Ereignisse von Schicksalen ganz verschiedener Leben von Menschen. Sie ist voller Spannung und - bis zuletzt - unerwarteter Wendungen. Die Autorin knüpft diese zu einem vielfarbigen Teppich voller Bilder. Wie sie eine Verbindung zwischen diesen Menschen herstellt, ist meisterhaft. Das zentrale Thema ist der Vietnam Krieg und das Schicksal der Tausenden Kriegswaisen aus Verbindungen von Amerikanern und Vietnamesinnen - den Amerasiern. In ihnen verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart – sie müssen sich behaupten und Entscheidungen gegenüberstehen, die während des Krieges getroffen wurden und in ihr Leben einschnitten – Entscheidungen, die sie dazu zwingen, tief in ihr Inneres zu blicken und Gemeinsamkeiten über Generationen, Abstammung, Kultur und Sprache hinweg zu finden.
Auf dem Land leben Trang und ihre jüngere Schwester Quynh mit ihren Eltern bevor der Krieg begann. Beide hatten sich ein tugendhaftes Leben voller Wissen gewünscht…Wie ungerecht, dass der Krieg ihnen die Aussicht auf eine bessere Ausbildung genommen hatte…Dazu kommt die Not der Eltern, die ihr Hab und Gut an gierige Geldverleiher verpfändet hatten. Eine Freundin, Han, zeigt den Schwestern die Rettung, wie sie ihren Eltern helfen können, ihr Geld zurück zu bekommen: sie gehen nach Saigon um dort zu arbeiten. Das war 1969.
Wir lernen Phong kennen, einen der Amerasier. Er sucht verzweifelt nach Antworten, die seine unbekannte Vergangenheit erleuchten könnten. Die Nonne Schwester Nha, seine Stütze, sein Halt, die ihn aufgezogen hat und nun schwerkrank ist, lässt ihn nach ihrem Tod allein in einer feindlichen Welt zurück. Wird er seinen Weg finden?
Der Kriegsveteran Dan und seine Frau Linda aus Seattle besuchen Vietnam im Jahr 2016. Dan hat eine dunkle Vergangenheit, die er seit Jahrzehnten vor seiner Frau Linda verbirgt. Inmitten der Schrecklichkeit des Krieges – in täglicher Todesnähe – erblühte eine Liebe zwischen Trang und Dan. Nun versucht Dan, seine Spuren von damals aufzuspüren.
In poetischer Sprache, hier ein Beispiel: …sie blickte auf einen Bambushain, an dem sie entlangfuhren. Die eleganten Halme standen da wie in Meditation versunken, als könnte Gewalt ihnen niemals etwas anhaben. Ein Schwarm Störche stieg auf, und ihre Flügel malten Gedichte an den Himmel – lesen wir hier ergreifende Zeugnisse einer Zeit, die nie vergessen sein wird und dazu verankert bleibt in den nachfolgenden Generationen aller derjenigen, die Zeugen dieser Ereignisse waren.

Bewertung vom 31.03.2024
Und Großvater atmete mit den Wellen
Teige, Trude

Und Großvater atmete mit den Wellen


ausgezeichnet

Es ist die Enkelin Juni, die uns von dieser zutiefst bewegenden Geschichte erzählt. Die Geschichte ihres Großvaters, seinem Bruder und seinen Freunden.
Es herrscht Krieg. 1943 vor der Küste von Java im Indischen Ozean wird ein norwegisches Handelsschiff angegriffen. Auch die Brüder Sverre und Konrad sind an Bord. Konrad sieht im Licht der Raketen wie die „Anitra“ explodiert, als er auf den Rand des Rettungsbootes sitzt. Bei diesem Angriff wird er von seinem Bruder Sverre getrennt. Mit seinem Freund Jakob irrt Konrad siebzehn Tage in einem Rettungsboot auf dem Meer, bis Fischer das Boot finden. Konrad wird in ein Krankenhaus gebracht, dort trifft er die Krankenschwester Sigrid, seine große Liebe.
Trude Teige erzählt in diesem bewegenden Roman die Geschichte norwegischer Frauen, Männer und Kinder die im Laufe des Zweiten Weltkriegs in japanischen Gefangenenlagern auf Java interniert waren.
Diese Chronik, denn das ist sie auch, liest sich wie ein Hohelied auf Freundschaft, Liebe, Durchhaltevermögen von Menschen in den schlimmsten Situationen - die immer noch weiter versuchen, irgendwie mit den Gegebenheiten zurecht zu kommen. Sie wirft ein Licht auf die Tragödie von jeglichen Kriegen, die jeden Menschen, der wie auch immer darin verwickelt ist, aufs Allertiefste fordert. Gleichzeitig zeigt sie uns wieder, dass Aufopferung verbunden mit Liebe es möglich macht, Herausforderungen zu begegnen, die einfach unmöglich zu bewältigen scheinen.
Trude Teige schreibt darüber wie Menschen die Kraft aufbringen, sich trotz aller Mühsale, oft in Todesnähe, weiter zu behaupten. In einer klaren doch gefühlvollen Sprache erzählt sie, wie es ihren Protagonisten ergeht. Die Vorstellung, dass all dies von ihr Geschilderte so oder nur wenig abweichend geschehen ist und jetzt, in unserer Gegenwart, ähnlich wieder geschieht, lässt einen schaudern. Man fragt, was eigentlich Menschsein ausmacht, auf einer Skala von zutiefst Schrecklichem bis zum größten Wunder darüber, was alles menschenmöglich ist, um das Furchtbare zu überwinden.
Dieser bewegende Roman ist die Fortsetzung von „Und Großmutter tanzte im Regen“. Er ist ein Stück wichtige Zeitgeschichte, die viele Fragen aufwirft, nicht zuletzt die, wie Menschen es schaffen, mit Traumata zu leben - auch diese zu verarbeiten. Sie reichen weit und weiter in neue Generationen hinein.

Bewertung vom 10.03.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Die Geschichte beginnt in Kamerun – einem Kamerun, das von Deutschen besetzt und regiert wird. Das eine der vielen Kolonien Afrikas war, die von westeuropäischen Mächten vereinnahmt wurden. Solche Besetzungen wurden immer mit dem Euphemismus „Schutzherrschaft“ benannt, „protectorate“ unter englischen Eindringlingen, „protectorat“ von Franzosen. Ausbeutung, Gesetzlosigkeit, Unterdrückung, Schändung von unschuldigen Leben, Vergewaltigung von afrikanischen Frauen, Brandmale auf Handrücken zu Tausenden waren die Folgen. Die Verbindungen zur Gegenwart sind noch sehr präsent. All das und noch viel mehr lesen wir, als das Leben von Issa sich vor uns entfaltet. Wir lernen Issas Leben in ihrer Familie in Kamerun und Deutschland kennen. Bis zur letzten Seite fesselt uns diese Geschichte so sehr, dass man immer weiter lesen möchte. Dieses Leben entfaltet sich in Rückblicken. Sie beginnen 1903.
Issa fliegt aus Deutschland nach Douala. Während des Fluges erinnert sie sich an ihre Mutter, als diese ihren Vater begraben ließ und diese Erinnerungen lassen uns die komplizierten Strukturen der afrikanischen Gebräuche erahnen. Das Cover zeigt eine moderne afrikanische Frau die uns mutig entgegen blickt. Der Schreibstil erinnert an die poetische und bildreiche Sprache, die alle Geschichten und Romane aus afrikanischer „Feder“ prägt und das Leseerlebnis verstärkt und bereichert. Eine Legende aus der Welt der Elefanten, die eine Brücke zu den Menschen schlägt, wird uns erzählt und befeuert unsere Vorstellungskraft. In der Folge lesen wir weitere Geschichten, die uns die Welt des traditionellen Kameruns näher bringt. Die wichtigste Person ist Issa, ihre Reise dient nicht nur der Selbstfindung sondern auch der Vorbereitung auf die Geburt und darauf, dass diese leicht für sie wird und sie ein gesundes Kind zur Welt bringen kann. Sie wird in Rituale eintauchen, die ihr weiteres Leben, ihr Verhältnis zu ihrer Mutter und deren Vorfahrinnen sowie das Leben des Ungeborenen für immer zum Guten beeinflussen wird. Von 1903 bis in die Gegenwart lesen wir eine Geschichte von Familien – in Kamerun und Deutschland. Dieses Buch ist eine Schatzkiste - angefüllt mit Begebenheiten, die in dieser Zeitspanne geschehen sind. Die unzählige Leben beinhalten, auch die von denen wir nicht lesen, die uns aber betreffen, je tiefer wir in diese Geschichte eindringen. Wir lesen von Geschehnissen, die so wie hier noch nicht erzählt wurden. Wir erkennen, wie das äußere Leben das Innere von Menschen berühren, beeinflussen und bedrängen konnte, ohne dass diese Menschen es sich gewünscht hätten oder voraussehen konnten, was mit ihnen geschehen wird. Diese Ereignisse sind unvergessen und reichen bis in unsere Gegenwart. Der erste Weltkrieg 1914 – 1918, auch „Der große Krieg“, „The Great War“ genannt, beeinflusst die damalige Kolonie Kamerun zutiefst. Zu lesen, welches unermessliche Leid er über unschuldige Menschen bringt und in die Familiengeschichte Issas eingreift, ist bestürzend. Das Vorsatzpapier des Buches zeigt eine sehr anschauliche Karte, die alle Schauplätze erfasst und die Nachbarländer Kameruns – Nigeria, Tschad und die Zentralafrikanische Republik – mit einbezieht. Nicht nur spannende Unterhaltung in höchstem Maß, sondern auch die Themen Weltgeschichte, Diskriminierung, Verständnis zwischen Völkern, Sozialgeschichte – letztere auch deren Versäumnisse an den Menschen - wird hier dargestellt. Ich wünsche diesem Buch weite Verbreitung und Übersetzungen.

Bewertung vom 03.03.2024
Annas Lied
Koppel, Benjamin

Annas Lied


ausgezeichnet

Wer diese Geschichte zu lesen beginnt ist innerhalb von wenigen Seiten eingesponnen in diese lebendige jüdische Familie in Kopenhagen. Wir sind im Jahr 1929 und erleben die Wohnungsnot in Kopenhagen und wie Familien sich helfen, in einer kleinen beengten Wohnung noch eine Familie, die bald ein Baby erwartet, aufzunehmen. Diese Juden empfinden sich als Dänen, nachdem sie schon über zwanzig Jahre in Dänemark leben, sprechen aber teilweise jiddisch. Neue Verwandte werden in der beengten Wohnung der sechsköpfigen Familie aufgenommen. Darum zieht Hannah zu ihren Eltern ins Schlafzimmer.
Ihr Vater Jitzhak, ein begabter Schneider, fährt mit seinem Fahrrad Waren aus. Wir erleben, wie er in einer Versammlung, die gegen Juden wettert, halt macht um zuzuhören und angegriffen wird. Ein Polizist rettet ihn und warnt ihn, sich in solche Situationen zu begeben. »Tja, es war jedenfalls nicht sonderlich klug von Ihnen, sich unter diese Versammlung von Bauerntrampeln und Aasgeiern zu mischen«, erklärt der Polizist und wies mit dem Kopf in die Richtung, in der die Männer verschwunden waren. Damit ist die Atmosphäre schon klar, die in diesem Roman die Trope ist: Judenfeindlichkeit.
Wir begleiten die Geschichte dieser Familie durch sieben immer turbulente Jahrzehnte.
Wir werden Zeuge jüdischen Lebens, wie es damals geschah. Die Eheleute Bruche und Jitzhak. Ihre drei Jungen und Hannah. Konflikte sind vorprogrammiert – die Jungen wollen Däninnen heiraten und keine Jüdinnen – ein Sakrileg für orthodoxe Juden. Die alte Schule besagte, „dass man natürlich die Befehle der Thora, des Talmuds und der eigenen Eltern zu befolgen hatte…“ Für die Mutter Bruche eine Katastrophe, wenn dies nicht beachtet wird, für den Vater Jitzhak auch, aber er ist der stillere Teil dieser Ehe, während wir von Bruche Temperamentsausbrüche erleben, die ihresgleichen suchen. Die Brüder aber können sich immer durchsetzen, nur Hannah muss sich anpassen – ihr bleibt eine arrangierte Ehe mit einem französischen Juden, Francois, nicht erspart. Aber vorher darf sie ihre große Liebe mit Aksel heimlich erleben – eine Liebe die sie ihr ganzes Leben lang begleiten wird – ein großes Geschenk in ihrer dann unglücklichen Ehe in Paris, die sie erträgt – Mädchen und Frauen ertragen eben. Ihr Gegenpol zu dieser Einstellung ist die Freundin Elisabeth, eine Dänin, sie und Hannah sind von Kindheit an befreundet. Sie wünscht sich für Hannah, dass sie Francois verlässt – vergeblich.
Dieser wunderbare Roman ist so erfüllt von wahren Schicksalen, Begebenheiten, Gefühlen und Erlebnissen, die in einer Rezension nicht zur Sprache kommen können. Aber das wichtigste und warum wir in diesem Roman so sehr in allen Facetten – wunderbaren und zutiefst traurigen – mitfühlen, ist die Sprache. Benjamin Koppel ist Musiker und so ist seine Sprache: nicht nur ist diese Geschichte großartig komponiert, wie gute Geschichten es sein müssen sondern eben bildhaft und immer illustrativ, vollkommen in allen Beschreibungen der Begebenheiten und Charakteristiken der Personen – allen erwähnten und es sind noch viel mehr. Dazu kommt der Hintergrund der Kriegszeiten und geschichtlichen Ereignissen, die immer wieder so erschütternd wirken, obwohl sie ja bekannt sind. Diese eindrucksvolle Geschichte ist ein Juwel und wird nicht umsonst als „Überraschungsbestseller aus Dänemark“ bezeichnet. Es geht nicht zuletzt auch um Hoffnung und Mut in den schwärzesten Zeiten und die tröstende Kraft der Musik. Wir lesen eine bedeutende und zutiefst bewegende Geschichte des letzten Jahrhunderts bis heute.

Bewertung vom 13.02.2024
Nostalgia Siciliana
Di Stefano, Patrizia

Nostalgia Siciliana


ausgezeichnet

Tita gestaltet Titelentwürfe für neue Bücher und führt ein erfüllendes Leben in Berlin, außerdem hat sie freie Hand in ihrer Arbeit. Doch die Nachricht vom Tod ihres Onkels in Sizilien, ein Bruder ihres früh verstorbenen Vaters, hat einschneidende Konsequenzen für Titas Leben.
Die Geschichte beginnt mit Titas Kindheitserinnerungen. Sie erzählt liebevoll und detailreich von den Reisen der Familie nach Ragusa auf den Familienbesitz Magní bei Ragusa. Wie von einem unsichtbaren Faden zieht es sie nun dorthin. Sie kann sich ihren Gefühlen, ihrer Sehnsucht nicht verschließen. Seit über zwei Jahrzehnten hat sie Sizilien nicht mehr besucht.
Die Geschichte erzählt sie in Rückblicken auf die Kindheit ihres Vaters Gianni und abwechselnd mit der Jetztzeit ihres Besuches. Er ist hochbegabt und schließt das Priesterseminar mit der Matura ab. Doch tief in sich fühlt er, dass es für ihn nicht richtig ist, ein Priesterleben zu führen. In diese Zeit seiner Zweifel fällt die Zeit des Anwerbens in Deutschland von italienischen Gastarbeitern, wie es die Touristen in Sizilien erzählen. So beschließt Gianni nach Deutschland zu gehen um dort sein Glück zu versuchen. Nach schweren Anfängen - ein Fremder zu sein, deutsche Feindseligkeit zu spüren, hart zu arbeiten für wenig Geld und die Heimat zu vermissen, fasst er Fuß, heiratet eine Deutsche und wird zum erfolgreichen Unternehmer mit Restaurantgründungen und der Einführung der italienischen Küche, beginnend mit der inzwischen überall beliebten Pizza. Mit dieser Pizza beginnt eine Zusammenarbeit mit der Firma Dr. Oetker.
Nach Titas Ankunft in Magní fühlt es sich für uns Leser so an, als ob wir zusammen mit Tita durch die Räume gehen und das Anwesen in allen Einzelheiten besichtigen. Diese intensiven Erinnerungen wechseln Kapitelweise ab mit Titas derzeitigem Leben in Berlin, das sie zusammen mit der Vergangenheit und dem Leben ihres verstorbenen Vaters reflektiert. Was uns aus den Seiten entgegenfliegt ist pure, tief empfundene Nostalgie. Ihr Schreibstil ist farbig, ich nenne ihn eine olfaktorische Sinfonie. Gerüche der italienischen Küche mischen sich mit der landschaftlichen Schönheit Siziliens. Erinnerungen, die großartig beschrieben werden und uns die Seele Siziliens und der Menschen nachempfinden lassen, vermittelt der Text dieses Lebensberichtes, der einen wichtigen Teil der deutschen Geschichte enthält, denn er schließt deutsche Geschichte der Moderne ein – wie die Ankunft der italienischen „Gastarbeiter“ wie sie genannt wurden. Diese „Gastarbeiter“ veränderten die deutsche Gastronomie und andere Lebensbereiche in Deutschland nachhaltig, denken wir nur an die Berufe, in denen sie eingesetzt wurden, weil nach dem 2. Weltkrieg Manpower fehlte. Eine Geschichte, die einen gleich in den Bann zieht während des Lesens, weil sie voller Leben steckt. Sie hat mich von der ersten Seite an begeistert. Es lohnt sich, diese Geschichte über eine Familie und zwei Völker zu lesen und vieles zu erfahren, dass wir bisher nicht kannten.

Bewertung vom 18.12.2023
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


ausgezeichnet

Schon zu Anfang möchte ich sagen: „Die Verletzlichen“ ist eines der wenigen Bücher, die ich gleich wieder gern nochmals von vorne an lesen möchte. Es enthält so viel Spannendes und Ungewöhnliches. Es ist ein Roman, aber einer, der genau das enthält, was einen Roman ausmacht: Viele verschiedene Arten der Literatur nämlich. Teilweise liest er sich wie ein Essay. Später wird einem klar, dass die Zeit in der die Handlung spielt die der Pandemie ist.
Es fängt schon ganz besonders an. Allein der Einband – wir erkennen einen umgekehrter Papagei – einen Ara namens Eureka - und ein rosa Blumenbouquet. Stellt Eureka vielleicht die Welt auf den Kopf? Nunez Beobachtungen sind so vielfältig und besonders, dass das Lesen ihrer Texte zu einem reinen Vergnügen wird. Sie streut Beispiele aus der Literatur ein: Charles Dickens, Oscar Wilde, Rilke, Sylvia Plath- ihre vielfältigen, wie es scheint, unerschöpflichen - Beobachtungen und Statements faszinieren. Ihre Beobachtungen schon am Anfang, die Aufzählungen von Blumen, deren Farben und deren Bedeutung – warum bringt man Hortensien mit Altern in Verbindung am Beispiel von Madonna, die beleidigt war, als ihr ein Verehrer eine Hortensie überreichte – sind einfach faszinierend. Der Text erscheint so. als ob Erinnerungen an die Kindheit, an Schulkameraden, an ihre Mutter, an Lehrer und Lehrerinnen aneinandergereiht werden. Man findet sich wieder in diesen sensiblen Beschreibungen der vielen Charaktere. Wie belanglos hingeworfen erscheinen die Sätze, doch sie haben einen tiefen Sinn, den man erkennt, je mehr man weiterliest. Nunez Betrachtungen enthalten philosophisches wie z. B. die Ausführungen über Blumen und ihre Namen: Ist es Zufall, dass die Namen von Blumen auch immer wunderschöne Wörter sind? Rose. Veilchen. Lilie. So attraktive Namen, dass die Menschen sie ihren Töchtern geben. Jasmin. Iris.
Dieser Text liest sich sehr spannend und ungewöhnlich.
Ihre Beziehung mit Eureka ist so wunderbar beschrieben, dass es anrührt. Man möchte diesen hellgrünen Papagei kennenlernen. Nicht nur das, man erfährt sehr viel darüber, wie es sich anfühlt, sich auf Tiere einzulassen, von ihnen zu lernen und zu beginnen, sie zu lieben.
Ich finde Nunez‘ Erzählweise ideal. Sie spricht für den kurzen Roman. „Der traditionelle Roman hat seinen Platz als wichtigstes Genre unserer Zeit verloren“, schreibt sie. Gerade die Einschübe, die Reflektionen über so viele Themen flicht sie wie zufällig ein, springt von einem zum anderen Thema und doch gehört alles zusammen. So wie sie scharfsinnig die Themen behandelt und über sie spricht, ist es vielleicht sogar besser, als eine ganze zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Was sie selbst aber in diesem großartigen Text tut.

Bewertung vom 28.11.2023
Kaltblütige Lügen / Die San-Diego-Reihe Bd.1
Rose, Karen

Kaltblütige Lügen / Die San-Diego-Reihe Bd.1


ausgezeichnet

…sowie Verwicklungen und Rätsel auf allerhöchstem Niveau zeigt uns Karen Rose in ihrem fünfundzwanzigsten Krimi Thriller. Bei Krimi Liebhabern ist Karen Rose keine Unbekannte – im Gegenteil, hochverehrt und immer wieder mit Hochspannung erwartet werden ihre Werke. Detective Katherine „Kit“ McKerrick und ihr Partner können nicht zur Ruhe kommen (welche Detectives können das schon?). Hier jedoch reichen die Fälle der ungeklärten Morde an jungen Mädchen Jahre zurück. Die neuen Verbrechen reißen einfach nicht ab – immer sind es junge Mädchen – blond, zierlich und wie man liest, zu vertrauensselig. Allerdings werden sie auf so perfide, raffinierte Weise geködert und hinters Licht geführt, dass man nachvollziehen kann, wie so junge, moderne und ambitionierte Mädchen durch Versprechungen ihrer Wünsche und Ziele in die Todesfalle tappen. Das Team in San Diego ist Tag und Nacht unterwegs auf der Suche nach Lösungen. Kit und ihr Partner Bas, sowie ihr Chef Navarro sind ein Super Team voller Erfahrung. Wir lernen Kits Hintergrund näher kennen, sie ist persönlich betroffen, da ihre Schwester Wren auch auf diese Weise – Strangulierung und Beerdigung an unbekannten Plätzen, vorzugsweise in Parks – umkam. Kit ist schwer traumatisiert, in Therapie und sucht rastlos nach Lösungen. Zum Glück unterstützt ihre Schwester Akiko sie. Zusammen mit Kits Pudel Snickerdoodle leben sie auf einem Boot. Auf 534 Seiten folgen wir den Bemühungen des Teams der Detectives der San Diego Police - SDPD. Außerdem treten auf Psychologen und Anwälte, Schuldirektoren, Ehefrauen, Schüler und Schülerinnen und viele andere Nebenfiguren. Die Wendungen und Ereignisse in dieser Geschichte überraschen ununterbrochen. Modernste Hilfsmittel bei den Ermittlungen erleben wir – z. B. KI und Bodenradaruntersuchungen. Lesen dieses Krimis ist wie ein Wettlauf zusammen mit den handelnden Personen, um endlich herauszufinden, wie all diese schrecklichen Ereignisse geschehen konnten und vor allem schnell den Mörder zu finden. Die Angst, dass er immer weiter mordet und noch mehr unschuldige junge Mädchen von ihm zuerst vergewaltigt und auf perfideste Weise ermordet werden ist so präsent, dass die Tage und Nächte des Teams einem Alptraum gleichen. Soviel sei verraten: Rose hält die Spannung, die uns atemlos macht und erst auf den allerletzten Seiten erleben wir die Lösung, an der wir seiten- und stundenlang gerätselt haben.

Bewertung vom 29.10.2023
Nebenan ist doch weit weg
Bones, Antje

Nebenan ist doch weit weg


ausgezeichnet

Die Geschichte eines Umzugs. So intensiv, wie Kinder einen Ortswechsel erleben. Das Heimweh an das Zurückgelassene beginnt schon beim Packen. Die zwölfjährige Edith erzählt ihre Eindrücke. Sie schreibt Tagebuch. Sie erzählt das ganze Drama, wenn umgezogen wird und zwar, weil die Eltern es wollen und nicht die Kinder. Die neue Heimat wird Krakau in Polen sein. Ihre Gedanken erleben wir intensiv, über das neue fremde Zuhause, Erkunden der Nachbarschaft und die Umgebung, den Schulwechsel. „So vieles ist fremd für mich. Ich bin fremd“, schreibt sie. So ganz allmählich – mit dem Beginn der Schulzeit – wird es besser. Sie fährt mit dem Bus, entdeckt Krakau. Freundet sich an mit Milena. Eine Freundschaft beginnt. Hilfreich sind auch ihre Klassenlehrerin und andere Lehrer. Erstaunlich, wie viele Menschen Deutsch sprechen, entdeckt sie, es wird auch als Schulfach gelehrt, so wie Englisch und Französisch. Sie macht sich viele Gedanken über Vorurteile: mit ihrer Hündin Lina macht sie Spaziergänge im Feld, Äpfel leuchten und gern würde sie einen pflücken, aber „ich traue mich nicht, einen Apfel vom Baum zu pflücken. Es könnte ich ja jemand sehen - und dann heißt es vielleicht: Die Deutsche klaut Äpfel.“
Sie erkundet mit den Klassenkameraden Milena und Antek Krakau, sie besuchen den Flohmarkt in Kasiemierz, dem früheren jüdischen Viertel und treffen dort den wunderbaren Buchhändler Jerzy Singer. Diese Geschichte eines Einlebens birgt noch ein Geheimnis - wobei Jerzy den Kindern hilft, das Rätsel im Haus von Ediths Eltern zu lüften. Das Mysterium dort, das tief in die Vergangenheit führt, liest sich faszinierend und im höchsten Maße anrührend. Die Schreibweise, Wechsel des Erzählens mit Ediths Tagebucheinträgen kommt dem Thema sehr entgegen. Dieses Buch von Antje Bones ist ein Juwel in der Jugendliteratur, das ich den Erwachsenen zu lesen wünsche, die diese Literatur lieben. Die Illustrationen von Michael Ssyszka tragen zur Freude des Lesens und Entdeckens bei.