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MarcoL
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Füssen

Bewertungen

Insgesamt 224 Bewertungen
Bewertung vom 24.02.2025
Komm über den See
Reichart, Elisabeth

Komm über den See


ausgezeichnet

Ein sehr bewegender Roman über das große Schweigen nach der NS-Zeit

Dieser bereits 1988 erschienene Roman, und nun in einer überarbeiteten Neuauflage vorliegend, hat von seiner damaligen Aktualität nichts eingebüßt. Der Aufschrei der Frauen gegen die überbordende Macht der Männer verhallt an der Mauer des Patriarchats wie ein leises Wimmern, kaum zu einem Echo fähig.
Ruth Berger wartet auf einen Brief. Tag für Tag. Ihre Stelle in Wien wurde nicht verlängert, ihr Ansuchen in einer anderen Schule lässt auf sich warten. Die Beobachtung ihres Briefkastens scheint zur Obsession zu werden. Sie zieht sich in ihr Schneckenhaus zurück, weicht allen Konfrontationen und Konversationen aus, bar jeder Stimme. Seit sie denken kann, wurde sie von Männern zum Schweigen verdammt. Es quält sie, und dennoch schafft sie es nicht, auszubrechen.
Der ersehnte Brief kommt endlich an. Sie ignoriert das Getuschel über sie in der Nachbarschaft und zieht nach Gmunden, um für ein Jahr als Lehrerin zu arbeiten. Ihren gelernten Beruf als Dolmetscherin konnte sie nur mit Kleinaufträgen ausüben.
Kaum in Gmunden angekommen, erklärt ihr der Schuldirektor ganz unverblümt, dass sie nur geduldet ist, gefälligst den Mund zu halten hat und nur auf Grund seiner Bekanntschaft mit ihrem ach so tollen Vater die Stelle erhalten hat. Dabei kannte sie ihren Vater gar nicht richtig.
Sie nahm ihre Recherchen über die Widerstandskämpferinnen während der NS-Zeit wieder auf. Aber auch hier trifft sie fast nur auf eine Mauer des Schweigens. Es ist ein Stille halten, das im Prinzip auch ihr innewohnt, und das sie selbst nicht versteht. Erst als sie mit Anna Zach spricht, einer jener starken Frauen, die im Untergrund gegen die Nazis arbeiteten, verändert sich ihr Verständnis, auch wenn die Mauer des Stillschweigens weiterhin nicht bröckelt, und der Schulleiter ihr verbietet, über den Widerstand zu unterrichten.
Der Roman ist aber noch viel mehr als der Kampf einer Frau gegen das Vergessen. Ein Vergessen der unsäglichen Zeit, das Programm geworden ist, in Teilen der Bevölkerung immer noch Programm ist, indoktriniert von den alten Schergen der NS-Zeit.
Eine Entnazifizierung, wie wir alle wissen, fand nicht statt.

S. 150: „Als ich aus dem KZ nach Hause kam und noch reden wollte, bekam ich wieder und wieder zu hören: „So schlimm wird es nicht gewesen sein, sonst säßen Sie ja nicht mehr hier!“ Unter diesen Sätzen lernte ich zu schweigen.“
Diesen Satz muss man sich mal so richtig auf der Zunge zergehen lassen!

Weiter: [Auszug 1945 aus der österreichischen Presse]: „Vergessen wir die letzten sieben Jahre! Gemeinsam in die Zukunft!“ Mit diesem ‚gemeinsam‘ wurden die Ermordeten noch einmal ermordet. Die Mörder sind an der Macht. Sie wussten, was sie taten.“

Der Roman ist eine zu Recht heftige Anprangerung an die Gesellschaft. Vor allem aber auf die Zeit nach dem Krieg, mit allen Versuchen, das Geschehene durch Schweigen und Nichtaussprechen ungeschehen zu machen.
Die Sprachführung ist sehr direkt, wechselt manchmal in einem Absatz von der dritten Person in die erste, was nur die Verwirrtheit und Unentschlossenheit der Protagonistin Ruth Berger, eine Kriegsgeborene, ein Trümmerkind, unterstreicht. Es ist ein starkes Buch. Es ist ein literarischer Aufschrei, auszusprechen, was nicht unterdrückt gehört. Die Männer brechen die Stimme der Frauen, bilden eine Wand. Und ja, während der Lektüre musste ich oftmals an Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ denken, obwohl beide Bücher im formalen Inhalt eigentlich keine Gemeinsamkeiten haben, wohl aber in der tieferen Aussage.

Von mir gibt es eine ganz klare Leseempfehlung. Ein sehr bewegendes, eindringliches Buch, das hoffentlich in seiner Neuauflage viele Leser*innen erreichen wird. Es ist nur zu wünschen. Und noch eins: lest es aufmerksam, und nicht in den fünf Minuten vor dem Schlafengehen, sondern mit der ganzen Kraft der Wahrnehmung.

Bewertung vom 16.02.2025
Jenseits des Ozeans
Klune, T. J.

Jenseits des Ozeans


ausgezeichnet

Ein fantasievoller Roman über das Andersein und das Bestreben nach Inklusion. Herzerwärmend und ergreifend!

Arthur Parnassus ist zurück. Endlich, nach langer Zeit, konnte er wieder auf seine geliebte Insel Marsyas zurückkehren. Mit ihm kommen auch seine Schutzbefohlenen Lucy, Talia, Phee, Chauncey, Theodore, Sal, alles magisch begabte Kinder oder Wesen (Gnome, Elementare, ein amorpher Blobb, etc.) zurück, sowie sein liebvoller Partner Linus Baker. Und David, ein ganz besonderes Kind – ein Jeti, der statt Tränen Eiswürfel weint.
Der Roman ist die Fortsetzung des Buches „Mr. Parnassus' Heim für magisch Begabte“, und steht seinem Vorgänger in nichts nach. Im Gegenteil, die Geschichte ist noch intensiver, noch liebevoller, noch herzerweichender, noch kämpferischer. Und voller eindeutiger Botschaften: auch wenn Schmerz und Verlust tief sitzen, es ist Heilung möglich. Wenn du anders bist, sei stolz darauf. Sei wie du bist und lasse dir von niemand anderem etwas anderes einreden. Besonders darauf zielt der Roman sehr stark ab – auf Inklusion. Eingliederung all jener, die den Standards der Masse nicht entsprechen und einfach anders sind.
Gekonnt, mit vielen fantastischen Details, voller Esprit und Witz erzählt Klune seine Geschichte über die Insel und deren Bewohner. Und vor allem über ihren Kampf, anerkannt zu werden als das was sie sind: besondere Geschöpfe.
Doch die BBMM - Behörde für die Betreuung magischer Minderjähriger – hat andere Pläne, und sieht in Parnassus Arbeit nur einen Störfaktor der geordneten, von Staat indoktrinierten Gesellschaft. Es werden ihm mehr als Prügel zwischen die Beine geworfen. Und er muss sich manchmal ziemlich beherrschen, um nicht in der aufkeimenden Wut wegen all der Ungerechtigkeiten sein Alter Ego – den Phoenix in ihm mit seinen alles verzehrenden Flammen – in die Welt zu lassen. Man könnte es ihm nicht verübeln. Aber er bleibt beharrlich, und mit seinen wunderbaren Geschöpfen auf der Insel, vor allem mit der Inselelementarin Zoe (und wahren Herrscherin des kleinen Reiches) und Lucy, der siebenjährige Sohn des Satans (der Antichrist), planen sie Großartiges.
Die Kinder, so unterschiedlich sie alle sind, halten zusammen, bilden eine verschworene Gemeinschaft. Ob es gelingt?
Es ist ein herrlich zu lesender Roman, spannend erzählt. Auf beinahe spielerische Art kommen die wahren Probleme der Welt zur Sprache: Respekt, Empathie, Vertrauen.
Es kann so schön miteinander sein … könnte …, wenn es nicht im wieder machtgierige Menschen gäbe.
Knapp 500 Seiten verfliegen im Nu. Man kann dabei lachen und weinen, sich ärgern und freuen. Zurück bleibt ein unvergessener Leseeindruck.
In der Danksagung spricht sich der Autor sehr intensiv für die Rechte von queeren und Transmenschen aus. Er macht auch keinen Hehl daraus, was er von J.K Rowling mit ihren Ansichten darüber hält. Es sind ein paar wenige, einfache, aber sehr starke Worte, die Klune an seine Leser*innen und die Gesellschaft richtet. Worte, die ausgeschmückt mit viel Fantasie diesen wunderbaren Roman ergeben haben.
Ganz große Leseempfehlung für dieses Herzensbuch.

Bewertung vom 13.02.2025
Alles was lebt
Schilke, Kristina

Alles was lebt


sehr gut

Elf eindrückliche, unterhaltsame Kapitel über das Thema Leben, gut und einfach erzählt, die zum Nachdenken anregen

Karla erbt von ihren Eltern ein Haus, irgendwo im Bayerischen Wald. Die Ortschaft ist überschaubar, man kennt sich in der Nachbarschaft, hilft untereinander, wenn und wo und wie es geht. Soweit nichts Spektakuläres. Karla hat das Haus so übernommen, wie sie es von ihren verstorbenen Eltern vorgefunden hatte. Die alten Möbel, Nippes und sonstiges Zeug belässt sie zunächst, so wie es ist. Zuerst einmal einleben, nur nicht zu viel auf den Kopf stellen. Apropos Kopfstellen: ein Zimmer im Obergeschoß des Hauses ist so gut wie leer, bis auf eine alte Kommode. Allerdings scheinen die Naturgesetze dort außer Kraft zu sein, zumindest was die Schwerkraft anbelangt. Denn jedes lebende Wesen, das den Raum betritt, schwebt unweigerlich zur Zimmerdecke. Egal ob Mensch oder Maus. Gegenstände lassen sich davon nicht beeindrucken.
Die Autorin erzählt uns in elf Kapitel von Zwischenmenschlichem, vom Leben miteinander, oder auch nebeneinander, von den Alltagsproblemen, mit denen die Menschen so zu kämpfen haben. Sie führt schriftstellerisch mit zarter Feder durch mehrere Genres, ohne es zu übertreiben (bisweilen hätte es für meinen Geschmack ruhig intensiver werden können). Manchmal steht die Liebe im Vordergrund, dann eine kleine Gruselstory. Karla ist der Anknüpfungspunkt in den Kapiteln. Ihr sonderbares Zimmer taucht auch immer wieder auf, mal mehr, mal weniger. Und ob wir das Geheimnis am Ende lüften können? Oder ist es eine Metapher – eine Art Ausflucht von einem sorgenbereitenden Leben, eine kleine schwerelose Auszeit, die wir alle ab und an benötigen?
Das komplexe Thema Leben in all seinen Facetten (also auch dessen Ende) wird auf eine zugängliche und auch einfühlsame Weise zu behandelt, die Charaktere haben „Hand und Fuß“ – wirken authentisch.
Es sind gerne gelesene Episoden, die in einer leichten, lockeren Erzählweise uns nähergebracht werden, und zum Nachdenken anregen, gepaart mit magischem Realismus.

Bewertung vom 09.02.2025
Das Herzflorett
Bodrozic, Marica

Das Herzflorett


ausgezeichnet

Ein sehr bewegender Roman über ein junges Mädchen aus Dalmatien, das allen familiären und politischen Widrigkeiten zum Trotz die Welt der Bücher für sich entdeckt hat.

Ganz vorne weg: Was für ein intensives Buch, das einen mitnimmt, entführt in Pepsis Welt, geprägt mit autofiktionalen Zügen. Schmerzhaft, erschütternd – und in einer so wunderbaren Sprache, die ihresgleichen suchen muss. Ich bin hellauf begeistert, trotz des schweren Inhaltes – und für mich ein weiteres #Jahreslesehighlight

S.12: „Das Dorf, die Wiese, das Surren der Insekten fielen zurück in der Zeit, und die Zeit selbst wurde eine Grenze […] Die Weite des wie hingemalten und tröstenden Himmels war auf eine so entbehrende Weise weg, dass auch das südliche Blau und die Bäume anfangen, Pepsi sehr bald und sehr bitter zu fehlen.“

Pepsi wuchs in Dalmatien auf, meistens getrennt von ihrer Schwester und ihrem Bruder, am Hof ihres Großvaters, und manchmal auch bei einer Tante. Sie wurde als lästiges Anhängsel weitergereicht, lernte früh, was es bedeutete zu hungern, obwohl der Tisch reichlich gedeckt war. Ihre Eltern arbeiteten in Hessen, kamen nur in den Ferien zu spärlichen Besuchen zurück in den Süden. Mit neun Jahren ertrug sie das nicht mehr, schrieb ihren Eltern einen Brief, sie mögen sie zu sich nehmen. Das taten sie auch 1983, mit ihren Geschwistern, und die erste Zeit lebten sie zu fünft in einer Einzimmerwohnung. Der Vater war entweder arbeiten oder betrunken. Die Mutter nahm eine Putzstelle nach der anderen an, Pepsi musste helfen.
Und dennoch schuf sich das Mädchen mit Kraft der neuen Sprache einen eigenen Rückzugsort. Sie bekam ein Lexikon, und begann, all die Wörter und Begriffe zu lernen, versuchte sie zu verstehen. Und sie verstand sie, denn Pepsi war sehr klug. Es war der Startpunkt zu einer innigen Liebe zur Literatur. Sie begriff auch sehr rasch ihre Stellung in der Gesellschaft. Ein Platz, dem sie irgendwann entrinnen wollte. Pepsi war nicht gewollt, weder von ihrer Mutter noch von ihrem Vater, der lieber einen Sohn an ihrer statt gehabt hätte. Beide machten keinen Hehl daraus. Die beschriebenen Szenen der körperlichen und seelischen Gewalt bedürfen beinahe einer Triggerwarnung.

S. 79: „Ihr Bruder war ein richtiges Kind, und Herzmandel (Anm.: ihre Schwester) und Pepsi waren keine richtigen Kinder. Da sie nun mal da waren, ertrug man sie nur, weil man sie ertragen musste.“

Pepsi hatte es, wie gesagt nicht leicht, aber sie war stark, allen Widrigkeiten zum Trotz und arrangierte sich mit ihrem Leben. Sie gab nicht auf, die Worte halfen ihr … mehr wird nicht verraten.

Nur eines noch:
S. 279 „Pepsi baut um sich herum einen Kreis aus Büchern, ihre runde Welt aus diesem kostbaren Papier, und wie ein Insekt aus ihrer Kindheit, ein Rosenkäfer in seinem Element, getragen von der Sommerluft der Freiheit, schwirrt sie von Tasche zu Tasche und holt Buch für Buch heraus und durchdenkt auch die Verwandtschaft der Bücher …“
Was für eine wunderbare Vorstellung das doch ist, sich in einem Turm aus Büchern aufzuhalten. – und die Zeilen schließen auch den Kreis zu erstgenanntem Zitat.

Der Roman aus der Feder der Autorin ist viel mehr als eine Liebeserklärung an das geschriebene Wort. Ich sehe es als einen Aufruf, an seinen Idealen und Zielen festzuhalten; eingepackt, wie schon erwähnt, in eine wunderbare Sprache. Ich bin restlos begeistert, ganz große Leseempfehlung und ein Muss für alle Bücherliebhaber*innen.

Bewertung vom 04.02.2025
In ihrem Haus
van der Wouden, Yael

In ihrem Haus


ausgezeichnet

Eindringliche Erzählung über die Erben des Krieges, verpackt in ein packendes Psychogram einer jungen Frau.

Niederlande 1961. Amsterdam, Zwolle, Den Haag. Seit ihrer Kindheit lebt Isabel im Haus ihrer mittlerweile verstorbenen Mutter. Alles blieb so, wie es war. Nichts wurde verändert, das Haus mutiert zu einem Denkmal für die Verstorbene. Isabels Brüder Louis und Hendrik sind längst ausgezogen, leben ihr eigenes Leben abseits der Familie, die es als solches nicht mehr gibt. Während Hendrik schon länger sein Glück mit Sebastian gefunden hat, kostet Louis das Leben auf seine Weise aus mit wechselnden Liebschaften. Bis Eva auftaucht, ihm gehörig den Kopf verdreht und sie seinen Geschwistern vorstellt.
Isabel bleibt mehr als distanziert, wie immer. Sie hasst Gesellschaft, ist lieber allein, obwohl sie in ihrer Kindheit ein inniges Verhältnis zu Hendrik pflegte. Ihre wenigen sozialen Kontakte beschränken sich auf ihre junge Haushälterin, seltenen Besuchen ihrer Brüder und den Gottesdiensten. Die Avancen von Jonas lässt sie über sich ergehen, aber die Vorstellungen von körperlicher Nähe grauen ihr.
Bis Eva für ein paar Wochen im großen Haus einzieht. Eva ist lebenslustig, neugierig, das Gegenteil von Isabel. Die Distanz ist groß, Isabel verabscheut diese Gesellschaft, doch tief in ihrer Brust brennt noch eines kleines Feuer, bereit, einen Teil ihrer Misanthropie in Asche zu verwandeln. Ob sie es sich eingestehen wird?
Ihr Misstrauen Eva gegenüber spiegelt sich in einer Liste von Habseligkeiten im Haushalt wieder. Und Isabel stellt fest, das nach und nach Teile fehlen. Löffel, ein Messer oder eine Schale. Bis auf das Service mit dem Hasenmuster, das Isabels Mutter so geliebt hatte und immer schon im Haus war. Ein Haus, in das die Kinder während des Krieges einzogen. Fragen, wenn überhaupt, kommen erst später, als Isabel eine Entdeckung macht …
Das Buch lebt von Isabels innerer Zerrissenheit. Seit ihrer Kindheit, als sie in das Haus eingezogen ist, lässt sie ein unbeschreibbares Gefühl nicht mehr los. Sie kopiert in Ermangelung einer Vaterperson ihre Mutter.
Besonders nach einem einschneidenden, sehr harschen Erlebnis an der Haustür, glaubt sie, hart, eisern, sein zu müssen, ihren Mitmenschen keinerlei Gnade oder Mitgefühl gewähren zu können.
Bis Eva kommt – und so vieles auf den Kopf stellt – sehr lesenswert.
Es geht aber um so viel mehr in diesem Buch. Isabels Gefühlsleben ist nur der Rahmen der Geschichte. Der eigentliche Kern ist zwanzig Jahre zurück in der Vergangenheit zu suchen. Mehr kann und will ich dazu nicht sagen – denn auch der Klappentext lässt darüber nichts verlautbaren.
Lest das Buch, es lohnt sich so sehr. Es ist weit mehr als sehr gute Unterhaltung. Es lässt einen Damm über Ungesagtes brechen, fesselt und reißt einen mit. Auch wenn manche Schilderungen im zweiten Teil abdriften mögen, der dritte Teil hat es in sich, flutet die Emotionen und zeigt spätestens hier seine wahren Qualitäten als Pageturner.
Dieser Debütroman von Yael van der Wouden stand nicht umsonst auf der Shortlist des Booker Prize 2024.
Ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 26.01.2025
Stadt der Hunde
de Winter, Leon

Stadt der Hunde


ausgezeichnet

Ein äußerst beeindruckender Roman über Verlust und Läuterung.

Jaap Hollander ist Gehirnchirurg. Und nicht irgendeiner, sondern er zählt zu den besten der Welt. Wenn nicht gar der Beste. In seinen jungen Jahren wurde sein Aussehen mit Al Pacino verglichen – ein Umstand, der ihm gefiel, und er auch auszunützen wusste. Er ließ keine Möglichkeit aus, seinen Trieben Folge zu leisten. Denn schließlich waren ja all die Ärztinnen und Krankenschwestern an nichts anderem interessiert, als mit ihm in der Kiste zu landen, damit deren Karriere auch einen Sprung nach vorne machte. Klingt sehr misogyn, ist es auch, macht den Herrn nicht gerade zu einem Sympathieträger.
Die Ehe von Jaap mit Nicole ist nicht gerade zum Vorzeigen. Er kümmert sich kaum um Frau und Tochter Lea.
Lea, kaum erwachsen, wollte zum Judentum konvertieren. In diesem Zuge durfte sie auf Einladung der jüdischen Gemeinde nach Israel. Zusammen mit ihrem Freund Joshua reiste sie in die Wüste Negev zum Ramon-Krater. Während heftiger Regenfälle verschwanden dort beide spurlos. Ob Unfall, Entführung, Mord oder freiwilliges Verschwinden, konnte niemals herausgefunden werden.
Jaap und Nicole reisten sofort an den Unglücksort. Auch Joshuas Eltern waren anwesend. Das machten sie dann zu jedem Jahrestag des Verschwindens. Besonders Jaap wollte sich damit nicht abfinden, dass seine Tochter tot war. Allmählich begann er begreifen, dass ihm damals seine Karriere weit wichtiger war als seine Familie. Sehr viele Jahre nach Leas Verschwinden war die Ehe zerbrochen. Seinen Trieben blieb Jaap treu, auch wenn er sich mittlerweile mit blauen Pillen helfen musste, und das schwarze Al Pacino Haar einer Glatze gewichen ist.
Er beginnt, immer mehr und mehr Zeit in Israel zu verbringen. Als Pensionist versäumte er in Amsterdam in seinem großen Haus nichts. Da erreichte ihn ein Hilferuf der besonderen Art…
Mittlerweile finanziell unabhängig beauftragt er Archäologen, den Krater vollständig zu erforschen. Er wollte Spuren seiner Tochter finden, koste es, was es wolle. Da übereilt ihn ein weiterer Schicksalschlag.
Jaaps Realität beginnt zu verschwimmen zwischen… mehr wird jetzt wirklich nicht mehr verraten. Bitte unbedingt selber lesen.
Auch was es mit den titelgebenden Hunden auf sich hat, wäre jetzt nur gespoilert.
Leon de Winter erzählt diese Geschichte in einer sehr fesselnden Art. Die Sprache ist direkt, schnörkellos, kommt schnell auf den Punkt. Er versteht es, präzise Bilder zu schreiben. Sie rücken an die Leser*innen heran, als wäre man mitten drin und direkter Augenzeuge der Geschehnisse. Die vielen Fachtermini rund um die Gehirnchirurgie sind, soweit ich das beurteilen kann, sehr gewissenhaft recherchiert.
Die ganze Geschichte beschreibt den Wandel des misogynen, selbstverliebten Gottes in Weiß zu einem geläuterten alten Mann, dessen biologische Uhr, wie bei Menschen es nun mal so ist, auch nicht aus Gold ist, und das Ticken manchmal zu holpern beginnt.
Der Umgang mit Verlust ist ein zentrales Thema. Eine andere Botschaft mag sein, dass man sich mit Geld vieles, aber nicht alles kaufen kann. Es ist nebenbei eine Liebeserklärung an die Stadt Tel Aviv – und das Land Israel. Letztendlich schlägt der Autor auch einen Bogen zu den politischen Geschehnissen, wenn auch nur am Rande.
Was mich allerdings etwas irritiert hat, ist die (lüsterne) Sicht auf Frauen. Ich kann nicht immer zuordnen, ob diese Sexualisierungen gekonnt provokant zu verstehen sind.
Nichts desto trotz ist der Roman eine sehr intensive Geschichte, der indirekt viele Gesellschaftsthemen anspricht, dem Lesefluss aber keinen Abbruch tun.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen (großen) Eindruck hinterlassenden Roman, in dem die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Traum manchmal verschwimmen.

Bewertung vom 22.01.2025
Haltlos
Nisi, Sarah

Haltlos


ausgezeichnet

Ein Psychothriller der Spitzenklasse! Fesselnde Spannung von Anfang bis Ende!

Das war wieder ein Thriller der Extraklasse von Sarah Nisi . Ich war von ihren ersten beiden Romanen schon schwer begeistert, und dieser schließt nahtlos an.

Emily steht mit Liv am Bahnsteig einer Londoner U-Bahn Station. Mehr weiß Emily nicht mehr, nur, dass Liv vor den Zug gefallen ist und dabei starb. Das ist nun drei Monate her, und Emily leidet immer noch an massiven Gedächtnisverlust. Dissoziative Amnesie. Der Vorfall ereignete sich in einem toten Winkel, die Überwachungskameras konnten nichts aufzeichnen, Zeugen gab es keine. Was bleibt ist die Unsicherheit. Ein Schubser? Ein Unfall? Selbstmord? Oder war es gar Emily selbst?
Drei Monate nach dem Vorfall zieht Emily in Livs Appartement, um es auf Wunsch ihrer Mutter aufzulösen. Sie begegnet dabei dem Nachbar Shakes, eine dubiose Gestalt. Er scheint eine Rolle im Fall gespielt zu haben. Sie trifft auch auf ihren Ex Alex, ein Polizist, der ebenfalls im Londoner Barbican Komplex wohnt und Shakes kennt. Er warnt sie vor ihm. Shakes hat eine dunkle Vergangenheit – war kriminell und musste für eine Zeit ins Gefängnis. Erfahrungen, die ihn stark prägten.
Während Emily versucht, in Livs Leben aufzuräumen, kommen kleine Splitter an Gedächtnisstützen daher. Eine seltsame Botschaft auf einem Stück Papier taucht auf, und dann auch Livs Tagebücher. Diese fördern schockierende Nachrichten für Emily zu Tage, aber ihre Erinnerungen an jenen schicksalhaften Tag bleiben im Dunkeln.
Sie bleibt nicht länger untätig und versucht auf eigene Faust, die Wahrheit zu finden. Und begibt sich selbst in große Gefahr.
Die Autorin erzählt abwechselnd aus Emilys und Shakes Sicht die Entwicklung der Dinge. Das Tagebuch dürfen wir lesen, und ein unbekannter Patient erhält ein paar Kapitel.
Das Bild des großen Ganzen, das sich am Schluss ergibt, hat bis zuletzt Lücken, Sarah Nisi spielt mit uns geschickt Katz und Maus – all die Wissenslücken verschließen sich nur sehr langsam auf eine äußerst spannende Art und Weise. Und oft hinterlassen die Kapitel nur weitere Fragzeichen.
Ganz große Leseempfehlung für diesen sehr spannenden Psychothriller.

Bewertung vom 19.01.2025
Die Glühbirnendiebe
Ró¿ycki, Tomasz

Die Glühbirnendiebe


sehr gut

Ein amüsantes Sammelsurium an Erlebnissen aus einem polnischen Wohnblock aus der Sicht eines Jungen.

Der junge Tadeusz wohnt mit seiner Familie in einem riesigen Wohnblock, mit zig Stockwerken und unzähligen Wohnungen, gegossen aus Beton. Wahre „Meisterleistungen“ der sowjetisch geprägten Ingenieurskunst, errichtet im guten Sinne des verfallenden Kommunismus‘. Sarkasmus off.
Endlose Flure verbinden die Flügel miteinander, für Tadeusz scheinen sie einer Weltreise nahe zu kommen. Besonders der Korridor im Dachboden, von welchem Türen in schier unüberschaubaren Mengen abgehen, und meistens nur Depots sind für Putzeimer oder sonstigen Utensilien.
Die Familie des Jungen lebt ziemlich weit oben. Dreht unten jemand das Wasser auf, so heißt es erst mal Ebbe. Zuwenig Wasserdruck von den genossenschaftlichen Einrichtungen. Oder auch mal zu wenig Strom.
Am Namenstag seines Vaters (der wie immer groß und pompös gefeiert wird, und alle Nachbarn vorbei kommen) möge Tadeusz doch zu Stefan gehen, um den Kaffee mahlen zu lassen, den sie unter abenteuerlichen und mühsamen, stundenlangen Anstehen ergattert haben. Denn man geht nicht einfach so in den Supermarkt und kauft was man möchte. Nein, es gibt Ausgabekarten, das Angebot divers. Mal Toilettenpapier im Überfluss, Lebensmittel auf das Gramm genau rationiert, selten Kaffee, noch seltener Kubanische Bananen. Erst stehen die Kinder an, die dafür sogar schulfrei bekommen, dann nehmen die Mütter, sobald sie den Haushalt erledigt haben, deren Plätze in der Schlange ein. Es sind tagesfüllende, familienzusammenschweißende Tätigkeiten. Die Gedanken treiben nur um ein Thema: bekommen wir überhaupt noch was oder heißt es just genau vor uns: Sorry, alles weg.
Und während Tadeusz über den langen, meist dunklen Korridor geht, denn die Glühbirnen dort haben nie lange bestand und wechseln sehr schnell die Besitzer, erzählt er uns viel über das Leben im Block. Von den Nachbarn, seine Wickel mit anderen Jungen, natürlich von seiner Familie oder den beiden Töchtern von Stefan, Bermuda und Barrakuda mit Namen.

Der ganze Roman ist ein dichtgedrängtes Sammelsurium aus Erinnerungen und Erlebnissen, wie sie nun mal in so einer Anhäufung menschlichen Daseins vorkommen.
Mit Blicken über die Dachkante in Schule und nahe Seen. Außerdem, so Tadeusz, wenn man gute Sicht hat und genau schaut, kann man wirklich sehr weit sehen. Nach Süden zum Beispiel nach Libyen, oder gar noch weiter. Oder in die andere Richtungen über die Stadtgrenzen sehr weit hinaus.

Der Autor packt hier sehr dicht und konzentriert unzählige Erlebnisse und Schilderungen in diesen Roman, gespickt mit leisen Anspielungen auf den Kommunismus, stets mit einem Augenzwinkern und viel Humor, manchmal bitterböse.
Der Roman ist sehr unterhaltsam, benötigt aber auf Grund der hohen Dichte von Berichten viel Konzentration – mit anderen Worten: er liest sich nicht so einfach weg. Manchmal muss man innehalten, verdauen, bis man den mit Informationen gefüllten Kessel leer hat. Dennoch, oder vielleicht gerade deswegen, bleibt ein Bild vom Leben im Wohnsilo hängen, das nicht nur einen dunklen Korridor zeigt mit einem Jungen, der eine Blechdose mit Kaffee in den Händen hat und vor unsichtbaren Verfolgern flüchtet, oder einer zunehmend ausschweifenden Familienfeier mit einer Mutter, sich todesmutig auf einen anderen Balkon schwingt, sondern auch ein Abbild der Gesellschaft, und dieses sich hinter der Netzhaut einbrennt.
Gerne gelesen, viel geschmunzelt. Darum: Leseempfehlung für ein kleines literarisches Abenteuer.

Bewertung vom 16.01.2025
HEXE
Fagan, Jenni

HEXE


ausgezeichnet

Basierend auf den Hexenprozessen von 1590 in North Berwick schlägt die Autorin gekonnt eine Brücke in die Gegenwart. Der feministische Kampf ist noch längst nicht zu Ende gefochten. Sehr große Leseempfehlung!

Iris, ein Medium, reist am 1. August 2021 zurück in die Vergangenheit. Mittels Séancen und Astralreisen trifft sie auf Geillis Duncan, die am 4. Dezember 1591 durch den Strang in Edinburgh an der High Street hingerichtet wurde.
Iris verwandelt sich in einen Raben, nimmt Kontakt mit der fünfzehnjährigen Geillis auf, und teilt mit ihr die letzten bangen Stunden vor ihrer Hinrichtung.
Der Hintergrund sind die Hexenprozesse von North Berwick, die zwischen 70 und 200 Menschen das Leben gekostet hatten. Es seien alles Hexen gewesen. Sie sind für die absurdesten Sachen (wie damals so üblich) verurteilt worden. Unter schlimmer Folter gesteht man ja schließlich irgendwann alles. Ausgehend für diesen Wahnsinn war ein Hexenprozess in Kopenhagen. Anna Koldings wurde angeklagt, durch Hexerei verhindert zu haben, dass Prinzessin Anna nicht direkt zur Hochzeit mit König Jakob VI. nach Schottland reisen konnte. Der schottische König Jakob VI (ziemlich geistig umnachtet) nahm diese Gedanken mit Freuden auf, und mittels David Seaton wurde eine Verbindung zu Geillis Duncan geschlagen.
Geillis war seit zwei Jahren Hausmädchen bei Seaton – verrichtete alle aufgebürdeten Arbeiten. Sie wurde instrumentalisiert, um die reiche Euphame MacCalzean zu denunzieren, damit deren Ehemann ihr Geld erben kann. Als offiziellen Grund werden den Frauen Hexereien angelastet, so hätten sie doch ebenfalls Stürme über die Nordsee geschickt. Ein Widerrufen des unter Folter herausgepressten Geständnisses brachte nichts mehr, erst recht nicht vor dem Pfarrer, der vor der Hinrichtung voller Ekel mit Geillis in Ausübung seiner Pflicht (und nicht freiwillig) sprach.
Iris will Geillis in ihren letzten Stunden beistehen. Und sie auch nochmals ermutigen, die Wahrheit vor dem geifernden Pöbel bei der Hinrichtung hinauszuposaunen, denn der Kampf um Wahrheit und Gleichstellung wird nicht (nie?) enden.
Auch in 500 Jahren erinnert man sich noch an sie, an ihren mutigen Kampf. Und auch in 500 Jahren kämpfen die Frauen immer noch um Gerechtigkeit. Denn die Männer sind nach wie vor Verhinderer der Gleichstellung.

S. 48: „Vorsicht, was die Motive der Männer angeht. Macht einen Buckel! Es ist ein großes Unglück für eine Frau groß zu sein […] Keine hohen Absätze! Das Klick-Klack-Klick ist ein Morsezeichen für Vergewaltiger. Es bedeutet, dass ihr Urteil nachsichtig sein wird. Oder es gar keines gibt. Wenn sie nicht Stöckelschuhe getragen hätte. Wenn sie nicht durch den Park gegangen wäre. Wenn sie abends doch zu Hause geblieben wäre.“

Das Buch arbeitet sehr gekonnt die historischen Begebenheiten rund um die Hexenprozesse auf, und schlägt eine Brücke in die heutige Zeit. Vieles hat sich nicht geändert. Die Männer sind nach wie vor misogyne Täter, können mehr oder weniger tun und lassen was sie wollen. Bewährt seit Tausenden von Jahren, denn laut Kirche sind ja die Frauen an allem Übel der Welt schuld.

S. 47: „Wie können Frauen die Wahrheit sagen, wo wir doch den Garten Eden zerstört und anfällig für Betrug und Böses sind? […] Nimm ihr das Einzige, was sie hat – ihre Stimme, ihren Geist. Nimm es. Zermahle es zu etwas Pestartigem. […] Macht ist nicht etwas, das Frauen leicht zugestanden wird – wenn überhaupt … ganz zu schweigen davon, diese dann auch auszuüben.
Nicht nach dem Gesetz!
Die Kirche sagt Nein.“

Der Kampf der Obrigkeit, des Adels, des Klerus‘, Frauen zu unterdrücken, ist seit Äonen ein fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Die Autorin schafft es mit diesem gerade mal 140 Seiten starken, sehr augenfreundlich gesetztem Buch, auf viele Missstände hinzuweisen. Sie verknüpft diese sehr gut mit den historischen Ansätzen, lässt abwechselnd Geillis und Iris zu Wort kommen.
Die Hexenverfolgungen mögen abgenommen haben, aber sie leben auch heute noch in einer anderen Art und Weise weiter. Das Buch ist ein feministischer Aufschrei um Gerechtigkeit.
Eine Triggerwarnung möchte ich noch ausgeben: Die beschriebenen Folterszenen, oder die multiplen Vergewaltigungen von Geillis, sind harter Tobak.
Aber die Realität ist nicht wirklich besser.
Für diesen Roman gebe ich eine sehr große Leseempfehlung! Lest es! Besonders ihr Männer, die immer noch glauben, Frauen seien Freiwild und minderwertige Menschen.

Bewertung vom 12.01.2025
Übung
Brown, Rosalind

Übung


ausgezeichnet

Klug inszenierter Zwiespalt zwischen Prokrastination und den aufgelegten Pflichten, wunderbar in die literarische Welt eingepackt.

Annabel ist 21 Jahre jung, studiert in Oxford Englische Literaturwissenschaften, und muss einen Essay über Shakespeares Sonette zu schreiben.
Es ist ein Sonntag im Januar des Jahres 2009, bis zum nächsten Morgen sollte ihre Arbeit beendet sein. Die Zeit drückt, rückt vor. Aber noch ist ja etwas vom Tag übrig. Prokrastination in Bestform. So vieles gäbe es zu tun (oder nicht), an so viele Dinge zu denken, wie zum Beispiel an ihren Freund, einen Arzt, 15 Jahre älter als sie. Und was sie das nächste Wochenende wohl machen sollen.
Der ganze Roman spielt an diesem einen Tag. Wir begleiten Annabel bei all ihren Vorrichtungen des Tages, sei es das Aufbrühen von Tee, oder auch die Vorgänge der körperlichen Ausscheidungen. Ich habe noch nie erlebt, wie poetisch das beschrieben werden kann.
Die Protagonistin schleppt sich durch den kalten Wintertag, geht spazieren, trägt ihre Aufgabe vor sich her. Sie nimmt uns mit in ihren Gedanken rund um die Welt von Sonette im Allgemeinen und Speziellen, huldigt natürlich das Genie von Shakespeare. Und, wie darf es auch anders sein, versucht sie, Parallelen aus der Welt der Sonette zu ihrem eigenen Leben, insbesondere Liebesleben, zu suchen. Oftmals mit dabei: ihre Fernbeziehung, ihr Lover, die Gedanken an den Sex mit ihm, die aufkeimende Lust gepaart mit dem Drang, diese selbst zu stillen.
Nur am Rande streifen ein paar Kommilitoninnen ihren Tag, zeugen in doppelter Weise von der Einsamkeit der Gedanken.
Der Roman wird zu einem bis ins kleinste Detail beschriebenen, reflektierenden Mix aus der gestellten Aufgabe und den Ablenkungen des Tages. Sie spielt in ihrem Kopf so oft es geht fiktive Szenen zwischen zwei Männern durch. Dem GELEHRTEN und dem VERFÜHRER. Annäherungsversuche, Abweisungen. Werden sie zusammen das Unausweichliche tun? Oder nicht? Scheu? Scham? Vernunft? Laisser-faire? Die Gedankenspiele sind eine wunderbare Metapher, die die Autorin geschickt einbaut, um den inneren Zwist von Annabel darzustellen. Den Verlockungen des Nichts-Tuns nachgehen oder doch Vernunft annehmen.
Wer jetzt auch noch an Virginia Woolf und ihrem Mr. Dalloway denkt, dessen Geschichte auch nur an einem Tag stattfindet und von Gedankenspielen durchtränkt ist, liegt richtig. Auch Woolfs Werk spielt im Roman neben der tragenden Hommage an Shakespeare eine Rolle.
So komplex das sich nun alles anhören mag, so schnell verschlingt man diesen Roman. Die Sprache ist wunderbar gehalten, semi-poetisch, in einem rasanten Erzählstil, der kaum Zeit zum Atmen lässt. Rosalind Browns Sprache entwickelt einen besonderen Sog. So schnell kann man gar nicht umblättern, als das man wissen möchte, wie sich der Tag von Annabel entwickelt. Und ob sie es dann noch schafft, den Essay zu verfassen oder nicht.
Detailreich, den Spiegel vorsetzend, denn wie oft ertappen wir uns selbst beim Müßiggang und lassen die Zeit beim süßen Nichtstun verrauschen.
Wunderbar geschrieben, ohne Tabus, herrlich übersetzt. Ein kleines literarisches Juwel! Absolute Leseempfehlung.