Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Ingrid von buchsichten.de
Wohnort: 
Erkelenz

Bewertungen

Insgesamt 355 Bewertungen
Bewertung vom 11.03.2025
Dunkle Momente
Hoven, Elisa

Dunkle Momente


sehr gut

Elisa Hoven verbindet in ihrem Roman „Dunkle Momente“ Straftaten, die an realen Fällen angelehnt sind, mit der fiktiven Geschichte der Protagonistin Eva Herbergen. Die Protagonistin ist seit über dreißig Jahren Strafverteidigerin, als die sie auch in jedem der im Buch vorgestellten neun Verbrechen fungiert. Mit Leidenschaft widmet sie sich der Verteidigung, um für ihre Mandantin oder ihren Mandanten einen Freispruch oder ein möglichst geringes Strafmaß zu erwirken. Dabei ist es nicht einfach, sich für jemanden einzusetzen, den nach eigener Meinung vermutlich schuldig ist.

Die Autorin ist Professorin für Strafrecht und Richterin an einem Verfassungsgerichtshof. Durch ihre genaue Kenntnis der auf die beschriebenen Straftaten angewendeten Gesetze wirken diese authentisch. Sie hat Fälle ausgewählt, die in besonderem Maße berührend sind oder von der Rechtsprechung her überraschen. Von einigen hat man eventuell in den Nachrichten gehört oder durch Social Media erfahren. Sie handeln von Kindersoldaten und Kannibalismus. Es geht aber auch um alltäglichere Vergehen, wenn beispielsweise eine Frau das Kind ihres Geliebten bestraft und ungeahnte Folgen sie zur Täterin machen oder ein Einbrecher selbst zum Opfer wird.

Eva Herbergen als Hauptfigur des Romans bleibt als Charakter recht blass. Ihre Rolle dient fast nur als Bindeglied zwischen den Fällen. Dennoch gelingt es der Autorin durch ihre Protagonistin Fragen der Moral aufzuwerfen und zu verdeutlichen, wie gering der Unterschied zwischen Verantwortung und Schuldlosigkeit vom Gesetz her ist. Sind Handeln auf Befehl und Unwissenheit strafmildernd? Kann ein unbescholtenes Leben mit vielen Wohltaten sich gegen ein einziges Verbrechen aufwiegen lassen? Gelingt es stets, hinter die Fassade zu schauen? Elisa Hoven lässt dem Lesenden die Möglichkeit, sich selbst mit dem Begriff der Gerechtigkeit auseinanderzusetzen. Manchmal ist ein einzelnes Wort des Gesetzestextes entscheidend für das Urteil.

Es zeigt sich jedoch auch immer wieder, dass Menschen Fehler machen. Die Protagonistin bedauert eine ihrer Entscheidungen, die zwar bereits jahrelang zurückliegt, deren Folgen sie aber nicht vergessen kann. Schon auf den ersten Seiten des Buchs nennt sie den Namen des damals Angeklagten. Auf die Vorstellung des Falls muss man bis zum Ende hin warten, was eine hintergründige Spannung aufkommen lässt. Ein dunkler Moment im Leben kann eines Menschen von seinem angedachten Weg abbringen.

Die von Elisa Hoven in ihrem Roman „Dunkle Momente“ beschriebenen Taten, die teils an den Rand des Erträglichen gehen, bringen den Lesenden zum Nachdenken, sie beunruhigen und hallen lange nach. Gerne empfehle ich den Roman weiter.

Bewertung vom 03.03.2025
Der große Riss (eBook, ePUB)
Henríquez, Cristina

Der große Riss (eBook, ePUB)


sehr gut

Der Roman „Der große Riss“ von der US-Amerikanerin Cristina Henriquez basiert auf dem Bau des Panamakanals als Hintergrundthema. Mit dem Titel wird aber nicht die Tatsache angesprochen, dass die künstliche Wasserstraße das Land förmlich zweigeteilt hat. Vielmehr ist hiermit die Spaltung der Gesellschaft in Hinsicht auf Status, Hautfarbe, Sprache und Geschlecht während des Baus am Kanal gemeint. Die Autorin hat dazu einige Figuren geschaffen, die sie geschickt zueinander in Verbindung bringt, um die gesellschaftlichen Verhältnisse zur damaligen Zeit zu verdeutlichen.

Francisco ist ein älterer Fischer, der seinen Beruf aus Überzeugung ausübt und mit seinem erwachsenen Sohn Omar an der pazifischen Küste lebt. Omar hat entschieden, sich als Arbeiter am Kanalbau zu beteiligen, was bei seinem Vater auf Unverständnis stößt. Die 16-jährige Ada aus Barbados hat ohne das Wissen ihrer Mutter Lucille ein Postschiff an die Atlantikküste bestiegen. In Panama möchte sie sich eine Arbeit suchen, um genügend Geld für eine dringend benötigte Operation ihrer Schwester Millicent zu verdienen.

Eine Weile vor Ada sind bereits John und Marian Oswald aus Tennessee in Panama eingetroffen. Während John einem Ruf als Erforscher der Malaria gefolgt ist, hatte die studierte Botanikerin Marian während ihrer Ehe nie die Möglichkeit in ihrem Beruf zu arbeiten. Das ändert sich auch in der neuen Heimat nicht. Die Frau des Fischhändlers Joaquín, an den Francisco seine Ware liefert, stammt aus der Stadt Gatún, das dem Kanal weichen und ans gegenüberliegende Ufer umgesiedelt werden soll. An der Seite seiner Frau versucht er die Öffentlichkeit auf die Sorgen der Einwohner aufmerksam zu machen.

Die Protagonistinnen und Protagonisten erleben Freud und Leid in teils parallel ablaufenden Handlungen, die mit Ausnahme des Epilogs im Jahr 1907 spielen. Die Autorin bringt zum Ausdruck, dass Francisco frei in seiner Tätigkeit als Fischer ist, wohingegen sich Omar den Ansprüchen eines Vorarbeiter in Bezug auf die Arbeitsleistung zu beugen hat. Allein aufgrund der Nuancen der Hautfarbe wird die Arbeiterschaft in diejenigen aufgesplittet, die in Silber oder in Gold entlohnt werden. In den Geschäften sind entsprechende Bereiche abgetrennt und auch bei der medizinischen Versorgung gibt es eine entsprechende Aufteilung.

Anhand von Marian stellt die Cristina Henriquez die typische Rolle einer Frau in der gehobenen Gesellschaft dar. Dahingegen hat die gewerbslose Frau des Fischhändlers einen größeren Handlungsspielraum, wobei dieser durch die große Zuneigung ihres Ehemanns nicht nur geduldet, sondern auch unterstützt wird. Die Geschichte erzählt wenig vom Fortschritt der Arbeiten am Kanal. Stattdessen erweitert die Autorin die auf wenigen Monaten basierende Handlung durch die Erzählung der Schicksale ihrer Figuren, bei denen sie über Landesgrenzen hinweg auf deren Vergangenheit schaut.

Cristina Henriquez erzählt in ihrem Roman „Der große Riss“, in dem es gefühlt ständig regnet, von den Menschen, die auf verschiedene Weise durch den Bau des Panamakanals betroffen waren. Anhand der Charaktere spiegelt sie Licht und Schatten des gesellschaftlichen Klimas wider, zeigt aber ebenso ein Stück des Alltags der Personen mit Höhen und Tiefen. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

Bewertung vom 03.03.2025
Mickey und Arlo
Dick, Morgan

Mickey und Arlo


sehr gut

Michelle Morris, die Mickey gerufen wird, ist 33 Jahre alt und Vorschullehrerin. Nachdem sich ihre Eltern vor langer Zeit getrennt haben, hat sie den Mädchennamen ihrer Mutter angenommen. Charlotte Kowalski, genannt Arlo, ist 25 Jahre alt und Psychologin. Die beiden sind Halbschwestern, ohne dass sie sich je kennengelernt haben. In ihrem Debütroman „Mickey und Arlo“ macht die Kanadierin Morgan Dick sie zu ihren Protagonistinnen. Die Covergestaltung in Rotorange mit grün ist lebhaft und verströmt Freude und Energie. Die zwei Frauen neben der Tür drücken Abweisung aus. Beides spiegelt die Charakteristik des Romans in Teilen wider.

Als der Vater von Mickey und Arlo stirbt, überbringt der Anwalt Tom Samson als Erbverwalter der älteren Tochter die Nachricht, dass sie mehrere Millionen Dollar erhalten wird. Daran ist die Bedingung gebunden, dass sie sieben Psychotherapiestunden absolviert. Damit möchte der Vater sicherstellen, dass Mickey ihre Probleme aufarbeitet, die er dadurch entstanden glaubt, dass er die Familie verlassen hat. Mickey sucht sich eine Praxis und beginnt ihre Therapie bei der dort angestellten Arlo. Die Frauen wissen zu Beginn der Behandlungsstunden nicht, dass sie verwandt sind. Im Gegensatz zu ihrer Schwester erbt die Psychologin kein Geld, obwohl sie ihren Vater aufopferungsvoll bis zum Ende gepflegt hat. Beiden ist nicht bewusst, dass jede von ihnen viel größere Sorgen hat als das Ableben des Vaters.

Morgan Dick schlägt in ihrem Roman zunächst heitere Töne an, wenn Mickey darüber nachdenkt, ob und wann sie Alkohol konsumieren kann. Eine bestimmte Begebenheit in der Vorschule, in der sie unterrichtet, bringt ihr berufliche Probleme ein. Sie hält sich für emotional gefestigt genug, um damit allein klarzukommen, denn sie glaubt, dass sie von früheren Therapien immer noch profitiert. Auch Arlo hat Sorgen im Beruf. Genau wie ihre Schwester weigert sie sich, Hilfe zu suchen, um den Konflikt aufzuarbeiten, weil sie sich durch ihre Ausbildung für belastbar hält.

In der Erzählung kommt es immer wieder zu amüsanten Situationen, die auch mal über die Strenge schlagen. Demgegenüber stehen die schmerzlichen Empfindungen der Schwestern, die jedoch zunehmend selbst reflektieren und sich für die Meinung von anderen öffnen. Obwohl beide den Tod des Vaters auf verschiedene Weise verarbeiten, lernen sie im Laufe dieses Prozesses schöne als auch belastende Erinnerungen zuzulassen.

„Mickey und Arlo“ von Morgan Dick ist ein Roman, der sich mit Tiefgang dem Thema des Alkoholismus widmet. Genauso wie es oft in der Realität geschieht, wird das Problem immer wieder überspielt. Gleichzeitig zeigt die Geschichte die unterschiedlichen Möglichkeiten, sich mit der Verarbeitung des Tods einer nahestehenden Person auseinanderzusetzen. Dennoch gibt die Autorin durch vergnügliche Momente den Schilderungen eine gewisse Leichtigkeit. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 17.02.2025
Wenn wir lächeln
Unterlehberg, Mascha

Wenn wir lächeln


sehr gut

Jara und Anto sind sechszehn Jahre alt. Sie stehen auf einer Brücke, die über die Ruhr führt. Anto schleudert einen Baseballschläger ins Wasser, dann springt sie hinterher. Jara bleibt zurück und ist unschlüssig, was sie tun soll. Ausgehend von dieser Szene erzählt Mascha Unterlehberg in ihrem ersten Roman von der engen Freundschaft der beiden Teenager in den Nullerjahren.

Kennengelernt haben sich Jara und Anto beim Fußballspielen mit den Jungen. Wenig später sind sie unzertrennlich, doch ihre Lebenswelten sind unterschiedlich. Antos Mutter ist wohlhabend und selten zu Hause, während Jara in bescheideneren Verhältnissen aufwächst. Doch Geld spielt nie eine Rolle in ihrer Beziehung. Was sie haben möchten und nicht bezahlen wollen oder können, stehlen sie einfach. Sie tauschen Kleidung, rauchen, kiffen, trinken Alkohol und übernachten gemeinsam. Zusammen ziehen sie durch die Stadt und machen sie unsicher, manchmal im wahrsten Sinne des Wortes.

Jara erzählt die Geschichte aus ihrer Perspektive, wodurch ihre Gefühle greifbarer werden. Sie hat zahlreiche Fantasien, in denen sich ihre Ängste widerspiegeln. In bestimmten Situationen malen ihre Gedanken sich das Schlimmstmögliche aus. Das geschieht im Alltag, aber wenn männliche Personen in der Nähe sind, dann steigert sich ihr Imaginieren ins Beängstigende, basierend auf verstörenden Erfahrungen. Sie ist voller Wut, die Anto mit ihr teilt. Das, was sie gemeinsam beim Ausgehen erleben, schweißt die Freundinnen zusammen. Ihr Zusammenhalt und die gegenseitige Rückendeckung geben ihnen Sicherheit. Doch unterschwellig sind Neid und Geheimnisse vorhanden.

Was nur bloße Vorstellung ist und was Realität, bleibt beim Lesen an manchen Stellen ungewiss. Durch Mascha Unterlehbergs ungewöhnlichen Schreibstil wird dies unterstrichen. Sie verzichtet auf Anführungszeichen und beginnt ein Wort mit einem Großbuchstaben nach einem Umbruch, auch wenn die vorherige Zeile mit einem Komma der wörtlichen Rede endete. Doppelten Umbrüche markieren entweder die Fortsetzung der Szene oder eine gedankliche Rückkehr zu einem prägenden Punkt in ihrer Freundschaft wie beispielsweise zu jener beängstigenden Situation auf der Brücke.

„Wenn wir lächeln“ von Mascha Unterlehberg ist ein eindringlich geschriebener Roman in einem eigenwilligen Stil über eine Jugendfreundschaft in den Nullerjahren. Sie ist ein Rückhalt gegen Übergrifflichkeiten und unterstützt eine Suche danach, wie weit die eigenen Grenzen überschritten werden können. Eine Geschichte, die bewegt und nachdenklich stimmt.

Bewertung vom 10.02.2025
Klapper
Prödel, Kurt

Klapper


sehr gut

In seinem Debütroman „Klapper“ nimmt Kurt Prödel den Lesenden mit in das Jahr 2011, als seine Titelfigur die neue Klassenkameradin Vivi-Marie kennenlernt, die sich „Bär“ nennen lässt. Jahre später, im Frühjahr 2025, sitzt Klapper, der mit bürgerlichem Namen Thomas heißt, vor seinem Rechner. Er möchte den Wert seiner virtuellen Waffen eines Computerspiels überprüfen, das er früher häufig gespielt hat. Dabei fällt ihm das Profilbild einer Mitspielerin auf. Es gehört zum Account von Bär unter dem der Vermerk steht, dass die Gamerin seit mehr als dreizehn Jahren offline ist. Für mich als Leserin stellte sich die Frage, welcher Umstand dazu geführt hat.

Klapper ist ein Außenseiter in seiner Klasse. Er ist ein Nerd, der die gesamten Schulferien in seinem Zimmer vor dem PC verbringt. Seinen Spitznamen verdankt er den deutlich hörbaren Klickgeräuschen seiner Gelenke, was ihn häufig zum Ziel von Spottversen macht. Das ändert sich, als Bär sich im Unterricht neben ihn setzt und sich bei einer Auseinandersetzung mit einem Mitschüler auf seine Seite schlägt.

Mit seinen Eltern wohnt Thomas in einem Neubaugebiet am Rande einer Kleinstadt im Westen Deutschlands. Vivi-Marie hingegen lebt in einer wohlhabenderen Gegend. In ihrem Zimmer unter dem Dach widmet sie sich genauso leidenschaftlich wie Thomas dem Gaming. Sie ist groß und kräftig. Im Vergleich zu Klapper ist sie kommunikationsfreudiger und integriert sich rasch in die Klassengemeinschaft. Sie bemüht sich, ihn aus seiner Zurückgezogenheit herauszuholen.

Die Erzählung wechselt zwischen zwei Zeitebenen, wobei die Gegenwart in nur wenigen Szenen beleuchtet wird. Sowohl Klapper als auch Bär sind gut konstruierte, interessante Hauptfiguren. Bei Vivi-Marie fehlte mir aber manchmal eine genauere Erklärung für ihre Ansichten, wodurch ich ihre Handlungen nicht immer nachvollziehen konnte.

Die Beschreibung des Geschehens erscheint aus dem Leben gegriffen. Fast jeder Lesende, der zu Beginn der 2010er Jahre aufgewachsen ist, kennt vermutlich jemanden wie Klapper. Ich konnte mich gut in ihn und sein Umfeld einfühlen. Am Ende der Geschichte überrascht der Roman mit einer unerwarteten Wendung.

In seinem Roman „Klapper“ erzählt Kurt Prödel von einer Freundschaft zweier Computerfreaks, die dabei sind, sich selbst zu finden. Vor allem der Schluss sorgt dafür, dass die Geschichte nachhallt. Gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 05.02.2025
Halbe Leben
Gregor, Susanne

Halbe Leben


ausgezeichnet

Zwei Frauen befinden sich auf einer Wanderung. An einer steilen Böschung stürzt eine von ihnen ab und verstirbt im Krankenwagen. So beginnt der Roman „Halbe Leben“ von Susanne Gregor. Der Anfang lässt eine hintergründige Spannung aufkommen. Als Leserin fragte ich mich, ob ein Motiv für ein Verbrechen vorliegt, ob es ein Unfall war oder die Tote den Schritt in den Abgrund bewusst gesetzt hat.

Eine der beiden Frauen auf der Wanderung ist die in Österreich im Kremstal lebende Klara. Sie ist von Beruf Architektin, verheiratet und hat eine elfjährige Tochter. Ihre Mutter Irene bewohnt nach einem Schlaganfall eine Einliegerwohnung im ersten Stock ihres Hauses. Weil Klara mit der Betreuung überfordert ist, beschließt sie sich an eine Agentur zu wenden, die ihr die Pflegerin Paulina und den Pfleger Radek vermittelt. Im ständigen Wechsel von vierzehn Tagen kümmern die beiden sich fortan um Irene.

Paulina war ebenfalls bei dem Wanderausflug dabei. Sie ist gelernte Krankenschwester, geschieden und lebt mit ihren zwei Söhnen in Slowenien. Mit ihrer Arbeit im Nachbarland kann sie mehr verdienen als auf einer Krankenstation in der Heimat. Ihre Schwiegermutter kümmert sich um die Jungen, während sie ihrem Beruf nachgeht. Im Laufe der Zeit merkt sie, dass ihre „halben Leben“ gemeinsam kein ganzes mehr ergeben.

Die Pflege von Irene durch Paulina erscheint zunächst als eine gute Lösung für beide Frauen. Die Slowenin ist bei Klaras Familie beliebter als Radek, weil sie in größerem Maße auf Irenes Wünsche eingeht. Nachdem Klara durch die Unterstützung deutlich entlastet wird, kann sie sich beruflich wieder mehr engagieren. Gelegentlich bitten sie und ihr Mann die Pflegerin um eine zusätzliche Gefälligkeit und entgelten sie dafür gut.

Paulina kommt der Bitte ihrer Arbeitgeberin um eine weitere Hilfeleistung scheinbar willig entgegen. Es kostet sie aber wertvolle Zeit, die sie nicht mit ihren Kindern verbringen kann. Um ihr Problem zu kommunizieren, fehlen ihr die Worte. Klara hingegen besitzt nicht genügend Einfühlungsvermögen, sich in die Gefühlswelt der Pflegekraft einzudenken. Sie erahnt nicht den Bedarf der Söhne Paulinas an Zuwendung durch ihre Mutter, obwohl sie doch selbst eine Tochter hat.

Weder Klaras Mann, der über genügend Freiräume verfügt, noch Paulinas geschiedener Mann bieten der Slowenin Unterstützung dabei, ihrer Tätigkeit als Pflegerin nachzukommen. Sowohl Klara wie auch Paulina können auf ihre je eigene Weise nicht die Anerkennung finden, die sie gerne hätten. Ungesagte Worte und der innere Zwiespalt beider Frauen führen zu einer zunehmend gereizten Stimmung in deren Umfeld. Bis in die Nebenfiguren hinein sind die handelnden Personen gut ausgearbeitet.

Im Roman „Halbe Leben“ thematisiert Susanne Gregor die Care-Arbeit. Sie nimmt sich speziell der Situation von ausländischen Pflegekräften an, die jeweils für einen gewissen Zeitraum beim Betreuungsbedürftigen wohnen. Ihre Geschichte überzeugt durch eine realitätsnahe Darstellung, stimmt nachdenklich und bleibt im Gedächtnis. Sehr gerne vergebe ich für diese bewegende Erzählung eine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 14.01.2025
Wackelkontakt
Haas, Wolf

Wackelkontakt


ausgezeichnet

Der Trauerredner Franz Escher wartet in seiner Wiener Wohnung auf den Elektriker, denn eine Steckdose in der Küche hat einen Wackelkontakt. In der Jetztzeit greift er zu seinem bereits begonnenen Buch, um das Warten mit Lesen zu überbrücken. Seit längerer Zeit nimmt er nur noch Geschichten zur Hand, in denen das organisierte Verbrechen agiert. Im aktuellen Roman sitzt der 22-jährige Protagonist Elio Russo im Jahr 2002 in Südkalabrien in einer Hochsicherheitszelle. Er wird bald ein neues Leben in einem Zeugenschutzprogramm beginnen. Es wird ihn über die Schweiz nach Duisburg und zu weiteren Städten führen. Von seinem Zellengenossen hat er ein Buch geschenkt bekommen, mit dem er sich die Zeit vertreibt. Es handelt von einer Person, die Escher heißt und auf den Elektriker wartet.

Wolf Haas hat mit „Wackelkontakt“ einen Roman geschrieben, der dem Titel alle Ehre macht. Die Geschichte bewegt sich auf zwei Erzählebenen ohne sichtbare Abgrenzungen hin und her. Sobald eine der Figuren zum Buch greift, wechselt das Szenario. Die Übergänge sind fließend, jedoch mit Cliffhangern. Mitunter erfolgen sie unerwartet und rasch. Die Benennung des Protagonisten Escher erfolgte mit Bezug auf den gleichnamigen niederländischen Künstler, der in seinen Bildern mit Perspektiven spielt. Bekannt wurde er beispielsweise für die Darstellung einer endlosen Treppe. Ähnlich kann sich der Lesende die Fiktion des Autors vorstellen.

Von Beginn an wird eine hintergründige Spannung in beiden Handlungssträngen aufgebaut. Einerseits durch ein Fehlverhalten, andererseits durch Familiengeheimnisse. Als Leserin hat mich die Erzählung fasziniert, sodass es mir schwerfiel, das Buch aus der Hand zu legen. Es untergliedert sich in die beiden Teile „Off“ und „On“. Der zweite Part beginnt, als eine Heimlichkeit aufgedeckt wird. Der Autor bedient sich einiger amüsanter Sprachspielereien. Escher ist einfühlsam, lebt aber recht zurückgezogen. Überlegungen beider Protagonisten zu ihrem früheren oder aktuellen Verhalten zu Familienangehörigen und ArbeitskollegInnen stimmen nachdenklich. Schuldgefühle wollen bewältigt werden. Es wirft sich die Frage auf, ob Fehlverhalten wieder gutzumachen ist.

In seinem Roman „Wackelkontakt“ spielt Wolf Haas mit erzählerischen Perspektiven und schafft dadurch ein einmaliges Werk. Er verwebt das Geschehen rund um zwei interessant gestalteten Protagonisten durch die Sollbruchstelle des Lesens. Einige unerwartete Wendungen sorgen für einen Lesesog, der zu einem Ende führt, das Fragen klärt und für einen überraschenden Abschluss sorgt. Sehr gerne vergebe ich eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 21.11.2024
Hercule Poirots Weihnachten / Agatha Christie Classics Bd.3
Christie, Agatha;Bottier, Isabelle

Hercule Poirots Weihnachten / Agatha Christie Classics Bd.3


ausgezeichnet

Der Klassiker der berühmten Krimiautorin Agatha Christie „Hercule Poirots Weihnachten“ ist im Verlag Carlsen Comics als Graphic Novel für Erwachsene erschienen. Das Szenario wurde von Isabelle Bottier gestaltet, während Callixte die Zeichnungen erstellt hat. Bisher habe ich den zugrundeliegenden Roman nicht gelesen, so dass ich die Handlung nicht vergleichen kann. Auf dem Vorsatz des Buchs wird eine schön in Szene gesetzte Übersicht mit den Handlungsorten der verschiedenen Hercule Poirots Krimis der erfolgreichen, längst verstorbenen britischen Schriftstellerin gegeben. Die vorliegende Geschichte spielt im Herrenhaus Gorston Hall im englischen Longdale.

Der betagte Unternehmer Simeon Lee lässt kurz vor Weihnachten seine Familie zusammenkommen. Es versammeln sich der älteste Sohn George mit seiner verschwenderischen Angetrauten, der unterwürfige Alfred mit seiner Frau, der seiner Mutter nachtrauernde David mit Ehefrau Hilda sowie den bisher des Hauses verbannten Harry. Hinzu gesellen sich noch die allseits bisher unbekannte Enkelin des Hausherrn, deren Mutter inzwischen in Spanien verstorbenen ist und der Sohn eines Geschäftsfreunds von Simeon Lee. Einige Zeit, nachdem der Unternehmer verkündet hat, dass er sein Testament ändern werde, wird er in seinem Zimmer ermordet aufgefunden. Die Tür ist von innen verschlossen. Zwischen umgestürzten Möbeln findet die Enkelin ein Stück Gummi, das zu einem wichtigen Beweisstück wird.

Der Krimi spielt an wenigen Tagen in einem begrenzten Umfeld. Jeder der Anwesenden, einschließlich des alterssichtigen Butlers und eines zufällig anwesenden Polizeibeamten könnte einen Grund gehabt haben, dem despotischen Simeon Lee das Leben zu nehmen. Hercule Poirots wird nur deshalb hinzugerufen, weil er einem guten Freund einen Gefallen tun möchte. Die Titelfigur beobachtet, achtet auf Details und spricht mit den Anwesenden, so wie man es auch aus anderen Fällen von ihm kennt. Obwohl die Illustrationen nur jeweils einen statischen Moment wiedergeben können, spiegeln sich im Minenspiel und den dargestellten Gesten die Gefühle der Personen wider, so dass Wut, Entrüstung, Erstaunen und Erschrecken klar zu erkennen sind. Im Finale versammelt sich der erweiterte Kreis der Familie. Der belgische Privatdetektiv bringt seine Argumente überzeugend vor. Während es in der kriminellen Handlung bereits Wendungen gab, sorgt das Ende mit der Entlarvung des Täters für eine besondere Überraschung.

Als Leserin verfolgte ich die Missgunst der Familienmitglieder und sammelte die vorgebrachten Motive ebenso wie die Alibis für das Verbrechen. Auf diese Weise konnte ich miträtseln, wer die Tat verübt hat. Gerne empfehle ich diese umgearbeitete, gekürzte Fassung des Krimiklassikers an Lesende von Kriminalromanen weiter.

Bewertung vom 18.11.2024
Spellshop
Durst, Sarah Beth

Spellshop


ausgezeichnet

Ein gemütlich aussehendes Häuschen mit altem Baumbestand und eine fliegende Katze auf einer endlos erscheinenden Treppe: das Cover des Buchs „Spellshop“ von der US-Amerikanerin Sarah Beth Durst ist einnehmend. Doch nicht nur der Auftritt nach außen hin ist magisch, sondern ebenfalls die Geschichte. Zurecht lautet der Untertitel „Vom Zauber der kleinen Dinge“. Beim Lesen des Titels fragte ich mich als Leserin unwillkürlich, welche Zauber in dem süßen Haus wohl angeboten würden und welche Person diese verkauft. Ob er, sie oder es selbst Magie anwendet und Gutes oder Böses im Sinn hat? Ich würde es bald erfahren.

Der Roman beginnt zunächst in Alyssium, der Hauptstadt des Inselreichs. Dort ist die blauhaarige Protagonistin Kiela Orobidan seit zehn Jahren in der Abteilung Natur der Bibliothek angestellt, wo es ihr möglich ist, zurückgezogen ihrer Arbeit nachzugehen und zu leben. Als im Land eine Revolution ausbricht und die Bibliothek in Flammen aufgeht, gelingt es ihr, einige Kisten mit Zauberbüchern, die sonst nur die Elite der Gesellschaft einsehen darf, zu retten. Mit einem Schiff flieht sie zur Insel Caltrey, auf der sie bis zum zehnten Lebensjahr aufgewachsen ist. An ihrer Seite ist das menschlich agierende Spinnenkraut Caz, das aus einem missglückten Zauberspruch hervorgegangen ist. Auf Caltrey werden die beiden freundlich empfangen und ziehen in das Cottage, das einmal Kielas verstorbenen Eltern gehört hat.

Die Protagonistin bleibt am Anfang den Inselbewohnern gegenüber misstrauisch. Sie hat Angst vor Strafe, welche deutlich spürbar ist, denn sie hat die Zauberbücher eigenmächtig mitgenommen. Bereits kurz nach ihrer Ankunft bemerkt sie, dass Flora und Fauna auf der Insel geschädigt sind, wodurch es den Einwohnern deutlich schlechter geht als früher, weil sich damals die Magie auf den Inseln besser verteilt hat. Spannung in der Geschichte entsteht dadurch, dass Kiela gerne helfen möchte. Zaubern ist streng verboten und ihr ist bewusst, wie schwierig es ist, aber sie würde es sich zutrauen. Sie zerbricht sich den Kopf darüber, auf welche Weise es ihr gelingen könnte, unentdeckt hilfreiche Sprüche anzuwenden. Aber nicht nur das lässt sie zögern, sondern auch die Folgen von fehlerhaftem Zaubern. Sie ist hin und hergerissen.

Der Charme der Erzählung ergibt sich aus dem liebevollen Zusammenspiel der Figuren. Kiela entwickelt sich in Folge ihrer Erfahrungen, die sie auf der Insel sammelt, stetig weiter. Ein gutaussehender, früherer Nachbarssohn beeindruckt Kiela mit seiner ruhigen, vor allem zu Beginn manchmal unbeholfenen, aber tatkräftigen Weise. Die ungewöhnlich aussehende Bäckerin und zwei ihrer Kundinnen haben eine herzliche und offene Art. Jedoch zeigt sich, dass jede Figur in ihrer Vergangenheit ihr Päckchen zu tragen hatte. Obwohl die Protagonistin weiterhin zurückgezogen leben wollte, kommt ihre Gesinnung diesbezüglich aufgrund der Freundlichkeit ihrer Mitmenschen ins Wanken. Natürlich gibt es auch unzufriedene und argwöhnische Personen. Anhand des Umgangs mit ihnen, erlebt Kiela ein Wohlgefühl, das durch Zusammenhalt entsteht. Seepferde, Wolkenbären und andere Ungewöhnlichkeiten sind abwechslungsreich und sorgen für einige Wendungen.

Sarah Beth Durst sorgt mit ihrem ruhig erzählten Fantasyroman „Spellshop“ für behagliche Lesestunden mit einzigartigen, liebenswerten ProtagonistInnen. Gerne vergebe ich eine Empfehlung an Lesende des Genres.

Bewertung vom 01.11.2024
Sing, wilder Vogel, sing
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


ausgezeichnet

In ihrem historischen Roman „Sing, wilder Vogel, sing“ erzählt Jacqueline O`Mahony von der Irin Honora, die sich nach Freiheit von allen Zwängen sehnt, die sie persönlich einengen. Dabei versucht sie, ihre Identität zu bewahren. Die Protagonistin lebt im Jahr 1849 an der irischen Westküste. Land und Unterkünfte sind dort von englischen Gutsherren gepachtet. Wer nicht rechtzeitig zahlt, dem wird der Besitz weggenommen. Am Tag von Honoras Geburt ist ein Rotkehlchen ins Zimmer geflogen, was im Dorf als Fluch gilt, der nun auf ihr liegt. William zu heiraten, den Sohn eines im Dorf angesehenen Bürgers, erscheint ihr als glücklicher Umstand. Doch eine Hungersnot nimmt ihr all das, für welches es sich bisher für sie zu leben lohnte. Aus der prekären Lage heraus entwickelt sie einen Plan, mit einem Schiff von der drei bis vier Tagesmärsche entfernten Hafenstadt Westport nach New York zu fahren. Er gelingt und zunächst fühlt sie sich freier, bis die Realität sie einholt und sie das Schicksal erneut hart trifft. Ihr wird bewusst, dass sie noch nicht am Ende ihrer Reise angelangt ist.

Die Geschichte beginnt mit einem Prolog, in dem Honora sich fünf Jahre nach ihrem Aufbruch in Irland im Westen der USA befindet. Von einem Mann erhält sie Avancen. Erst später konnte ich die Szene richtig zuordnen. Vorerst gab mir die Szene das Wissen darum, dass die Protagonistin die furchtbaren Geschehnisse in Irland überlebt hat, die die Autorin im Folgenden schildert. Der Roman beruht auf wahren Begebenheiten. Sie sind unter dem Begriff „Doolough Famine Walk“ in die Geschichtsbücher eingegangen.

Honora hat früh gelernt, sich um sich selbst zu kümmern, weil ihre Mutter bei ihrer Geburt gestorben ist. Die Arbeit ist schwer und ihr Körper vom Hunger ausgezehrt. Doch ohne zurückzublicken lebt sie für den Augenblick, ohne sich beirren zu lassen. Sie weiß, dass viele der Dorfbewohner sie für seltsam halten, aber gerade ihre Beharrlichkeit, ihre Wut gegen Ungleichbehandlung und ihr Wildheit, die sie in die Natur zieht, geben ihr die Kraft bis an die Grenze des Erträglichen zu gehen.

Jacqueline O*Mahony thematisiert in ihrem Roman den Kampf der Protagonistin gegen die ihr auferlegten Zwänge, die nicht nur durch Gesetze, sondern auch durch Konventionen gegeben sind. Es ist tiefbewegend, davon zu lesen, wie gering die englischen Landlords das Leben ihrer Untergebenen schätzen. In Amerika, dem Land der von Honora erhofften unbegrenzten Möglichkeiten, erkennt sie schnell, dass der von ihr ersehnten Freiheit durch ihre Armut Grenzen gesetzt sind und sie dadurch bald zum Spielball in den Händen ihrer Vorgesetzten wird. Später wird sie durch Androhungen eingeschränkt. Sie strebt nicht nur danach, im eigenen Ermessen gehen zu können, wohin immer sie will, sondern sie wünscht sich auch, dass ihre inneren Werte von anderen erkannt werden.

„Sing, wilder Vogel, sing“ ist ein Roman voller Drama, aber mit dem Flair des Abenteuers. Die irische Autorin Jacqueline O*Mahony schreibt berührend und aufwühlend. Sie bleibt nah am Charakter ihrer Protagonistin, die mit Hartnäckigkeit und Hoffnung im Herzen nach Eigenständigkeit im Leben sucht und sich dabei weiterentwickelt. Sehr gerne empfehle ich das Buch weiter.