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Benutzername: 
Batyr
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 100 Bewertungen
Bewertung vom 25.02.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Geschichte und Geschichten

Ein Kapitel deutscher Geschichte, das die meisten Leser reichlich ratlos zurücklassen dürfte, wird Gegenstand eines Romans.

Wer ist denn schon während des Schulunterrichts, geschweige denn später mit der deutschen Besiedelung des Ostens, mit der grausamen Verfolgung dieser Minderheit durch das Sowjetregime während des 2. Weltkriegs, mit dem bundesrepublikanischen Angebot der Rückkehr ins Land der Väter in Berührung gekommen?

Sabrina Janesch gelingt es, in einem feinen Geflecht alle Aspekte dieser Thematik zu verknüpfen. Souverän springt sie zwischen den Zeitebenen hin und her, was bei der Lektüre höchste Aufmerksamkeit erfordert.

So bemüht sich die erwachsene Protagonistin, die verschütteten Erinnerungen des in der Demenz versinkenden Vaters wieder ans Tageslicht zu befördern, wozu sie als Teenager, in vertrautester Bindung zu ihm, die Jugendjahre in der sozialen Isolation in der norddeutschen Provinz erneut durchlebt. Die enge Beziehung zum Jugendfreund, mit ähnlichem biographischen Hintergrund wiederum weist zurück auf die vergangene Freundschaft des Vaters zum kasachischen Freund während der Deportation.

Janesch legt eine ungeheure Sprachartistik an den Tag, die alle zeitlichen Ebenen dieses Romans ungemein plastisch hervortreten lässt. Die Kontraste der unterschiedlichen Lebenserfahrungen der einzelnen Personen ziehen den Leser in ihren Bann, historische Momentaufnahmen schaffen schroffe Gegensätze. Gekonnt, wie kleinste Mosaiksteinchen der Autorin den Anlass bieten, wieder und wieder einen rasanten Szenenwechsel zu vollziehen.

Ein lohnendes Lektüreerlebnis für Leser, die sich von Geschichte ebenso wie von Geschichten fesseln lassen!

Bewertung vom 05.02.2023
Unsre verschwundenen Herzen
Ng, Celeste

Unsre verschwundenen Herzen


sehr gut

Lebensthema der Autorin in neuem Gewand
Celeste Ng bleibt ihrem Thema treu: selbst betroffen, lotet sie immer wieder die Lebenssituation der asiatisch-stämmigen Minderheit in den USA aus. In ihrem letztem Buch allerdings wendet sie sich einem neuen literarischen Genre zu: der Dystopie. Die Gesellschaft lebt unter dem Gesetz PACT, das unamerikanische Tendenzen und Gefährdungen unterbinden soll, die in erster Linie den Mitbürgern asiatischer Herkunft unterstellt werden. Der zwölfjährige Bird, dessen Mutter einer aus China eingewanderten Familie entstammt, führt mit seinem WASP-Vater eine depravierte Existenz, da das Misstrauen der Umgebung auch nach dem Verschwinden der Ehefrau und Mutter nicht beschwichtigt wird. Die Autorin bemüht allerlei aus der literarischen Tradition bekannten Motive und Versatzstücke, die beim Leser durchaus Erinnerungen an bekannte Werke der Weltliteratur wachrufen. Manche Figuren erscheinen in ihrer Gestaltung psychologisch überzeugend, so der seine wahren Überzeugungen verbergende Vater, dessen vorrangiges Lebensziel ist, seinen Sohn zu schützen. Andere Protagonisten geraten allzu plakativ. So leidet insgesamt die Plausibilität unter dem intendierten Effekt, manche Wendungen sind allzu melodramatisch. Lesenswert ist Ngs „Die verschwundenen Herzen“ jedoch allemal, da immer wieder ungemein poetische Momente aufscheinen, die den Kampf um Menschenwürde und Existenzberechtigung in einer bornierten und intoleranten Gesellschaft illustrieren.

Bewertung vom 09.01.2023
Für euch
Sayram, Iris

Für euch


sehr gut

Am Rand - und darüber hinaus
Die Autorin schont weder sich selbst noch ihre Leser, sie erspart sich und uns nichts, sie spart nichts aus. Ein kleines Mädchen wächst in prekären Verhältnissen auf: der Vater spielsüchtig, die Mutter übermäßig lebenslustig, woran bereits ihre beiden ersten Ehen scheiterten. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille: unverbrüchlich ist die Liebe, die diese Eltern ihrer Tochter entgegenbringen. Und dieses Band verschafft der Protagonistin eine Startposition ins Leben, die sich als viel gewichtiger erweist als die Handicaps, die sie aller Erwartung nach hätten ausbremsen müssen: die nicht vorhandenen Erziehungsprinzipien, der Tochter werden keinerlei Grenzen gesetzt, weder hinsichtlich ihrer materiellen Wünsche, noch im Ausleben ihrer Willensstärke. Alle Defizite dieser häuslichen Umgebung treten zurück hinter der bedingungslosen mütterlichen Bindung, die Mimi zu ihrer Tochter aufbaut, für die ihr kein Opfer zu groß ist, in der aus Selbstaufgabe Stärke wird. Aus der Erschütterung über die Lebensverhältnisse, die dem Kind zugemutet werden, erwächst die Erschütterung über die innige Beziehung, die Mutter und Tochter Jahrzehnte später immer noch vereint, wenn der Leser über das ganze Ausmaß des ertragenen Leides orientiert ist. Ein Dasein am Rande der Gesellschaft - und außerhalb von ihr!

Bewertung vom 11.10.2022
People Person
Carty-Williams, Candice

People Person


weniger gut

Too Much
Eine wilde Herzjagd durch Themen, Handlungselemente, Charaktere, Stilebenen erwartet den Leser.

Im Eingangsteil glaubt er noch, es mit einer Familiengeschichte der dysfunktionalen Provenienz zu tun zu haben, mit einer Vaterfigur, die nicht einmal den Mindestanforderungen für diese Rolle genügt.

Dann allerdings schlägt die Handlung nach einem beträchtlichen Zeitsprung jäh um in eine toxische Beziehungsgeschichte der mittleren Tochter, die umgebogen wird zu einer parodistischen Krimistory, burlesk etwa im Stil von der „Ehre der Prizzis“ oder „Blues Brothers“.

Erneut wird ein Haken geschlagen, und es folgen endlose Ausführungen in Küchenpsychologie, in der alle fünf Geschwister mit Knacks den Weg der Läuterung beschreiten, gipfelnd in dem schlichten Happy Ending des Ich-bin-okay-du-bist-okay, abgerundet durch das Abtreten der nunmehr entbehrlichen Generationen.

Wes Geistes Kind die Autorin ist, erweist sich in der 6(!)seitigen Danksagung, die in bemühtem Witz einer ungezählten Anzahl von Unterstützern und Weggefährten ihre Reverenz erweist.

Weniger wäre mehr gewesen: die Entwicklung von Resilienz in allen fünf Geschwistern darzustellen, um den Mangel an Verantwortungsbewusstsein, Interesse und Fürsorge vonseiten ihres Erzeugers zu kompensieren, hätte einen höchst befriedigenden Familienroman ergeben können.

Bewertung vom 08.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


sehr gut

Polyperspektive
Auch in seinem zweiten Roman wendet Schulman das Kompositionsprinzip mehrsträngigen Erzählens an. So rezipiert der Leser insgesamt drei gänzlich unterschiedliche Romane, je nachdem, auf welchen Bereich sich gerade der Fokus richtet.
Zu Beginn haben wir es mit einer modernen Betroffenheitsgeschichte zu tun. Der Ich-Erzähler registriert, wie dysfunktional sein Familienleben ist, kommt durch Reflexion zu dem Schluss, dass die Schuld bei ihm liegt, und nimmt therapeutische Hilfe in Anspruch. So weit, so gut - und so breit ausgewalzt, wie man auch leider zu Protokoll geben muss.
In einer ersten Ebene des Rückblicks konzentriert sich dieser Protagonist sodann auf eine frühe Zeit eigenen Erlebens, Figuren und Ereignisse aus der Kindheit treten aus dem Schatten der Vergangenheit, um bei genauer Betrachtung ganz neu bewertet zu werden.
Diese gewonnenen Erkenntnisse schließlich führen dazu, dass in detektivischer Kleinarbeit Zeugnisse und Hinweise aus dem Leben der Großeltern ans Tageslicht gefördert werden, die den Autor dazu motivieren, in einem schöpferischen Akt den Roman der toxischen Beziehung zwischen Sven, Karin und Olof zu imaginieren.
Der Leser hat die Freiheit, diese drei Teile jeweils einem bestimmten Genre zuzuordnen: also zunächst dem introspektiv angelegten autobiografischen Roman, sodann der Gattung der Familiengeschichte als ‚memoir‘, sowie zuletzt dem Eheroman mit historisch-gesellschaftlich-psychologischem Schwerpunkt.
Wie allerdings die Qualität dieser drei Teile bewertet wird, welches Interesse ihnen jeweils entgegengebracht wird, ist absolut subjektiv!

4 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 02.10.2022
Der Klang der Erinnerung
Browning Wroe, Jo

Der Klang der Erinnerung


sehr gut

Die Lebenden und die Toten

Ein bemerkenswertes Debüt hat Jo Browning Wroe hingelegt, führt sie doch einerseits in die bekannte Sphäre Großbritanniens in den 50ern, mit seiner Nachkriegsnot, seiner sozialen Enge, seiner kulturellen Identität. Andererseits aber gewinnt der Leser Einblick in eine vollkommen fremde Welt: das Bestattungswesen, aus dessen Tradition die Autorin selbst stammt und die sie somit authentisch darstellt. Der junge Held William sieht sich zwischen zwei Fronten. Der Bruder des verstorbenen Vaters führt gemeinsam mit seinem Lebensgefährten den Familienbetrieb der Bestattungsfirma weiter, die Witwe will ihren Sohn bewußt von diesem Beruf und dem gesellschaftlichen Tabu der Homosexualität fernhalten. Gezielt löst sie William aus der harmonischen Beziehung zu den beiden männlichen Bezugspersonen und verfolgt zäh ihren eigenen Lebensentwurf für ihren Sohn: eine künstlerische Ausbildung als Sängerknabe im renommierten Chor von Cambridge, verdrängend, in welchen Konflikt sie William stürzt. Trug die Darstellung des Kindes übermäßig die Züge einer Figur wie von Charles Dickens, so gewinnt der hin und her gerissene Jugendliche ein zunehmend prägnanteres Profil. Es kommt zu einem frustrierenden Misserfolgserlebnis, in dem die Mutter menschlich versagt, von der sich der Sohn in der Folge lossagt. Was sie hat um jeden Preis verhindern wollen, tritt ein: William gibt die musikalischen Ambitionen zugunsten einer Ausbildung im Bestattungswesen auf, und unmittelbar nach deren Ende wird William einer existentiellen Prüfung unterzogen. Ein traumatischer Einsatz bei einem, historisch realen Grubenunglück in Wales führt William an seine emotionalen Grenzen. Aber ein vielfältiger, langwieriger Reifungsprozess wird in Gang gesetzt, und der Roman bietet eine faszinierende Lektüre, bei der die Hauptfigur beständig oszilliert zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten.

Bewertung vom 01.10.2022
Simón
Otero, Miqui

Simón


weniger gut

Zurück auf Anfang, aber ganz woanders
Bei der Lektüre wird der Leser den Verdacht nicht los, dass der Autor vom Ehrgeiz beseelt ist, partout am Welterfolg von Zafons ‚Der Schatten des Windes‘ anknüpfen zu wollen.
Der Anfang des Romans weckt Erwartungen, determiniert durch die Verknüpfung der Stadt Barcelona mit der Welt der Literatur. So wird der halbwüchsige Rico für seinen jüngeren Cousin Simón zum Cicerone ins Land der Bücher. Doch bereits hier wird ein gewisses Misstrauen geweckt: allzu selbstverliebt geraten die sprachlichen Pirouetten, allzu bemüht das Streben, in der Symbiose der beiden Jungen und dem nächtlichen Streifzug durch die Stadt eine magische Stimmung zu erzeugen.
Das plötzliche Verschwinden des Älteren wird künstlich mit Bedeutung aufgeladen, erst im Laufe des Romans enthüllt sich die ganze Banalität seines Lebenswegs. Ebenso kleinschrittig entfaltet sich die Entwicklung des Jüngeren. Überfrachtet mit Details wird der dornige Weg der Qualifikation zum Spitzenkoch beschrieben, eine Vielzahl weiterer Figuren bevölkern diesen Handlungsabschnitt, ohne dass diese mit wirklich prägnanten Charakterzügen ausgestattet werden.
Eine Vielzahl von Missgeschicken, bedauerlichen Wendungen des Handlungsfortgangs befördern den Abstieg des Helden, der in penetranter Weise auch ständig so apostrophiert wird, und nachgereicht wird die Schilderung von Ricos jämmerlichem Dasein: kein Aufstieg, vielmehr ein beständiges Verharren in einem sich beständig drehenden Karussell des Elends. So treffen denn die beiden Hauptfiguren erneut am Ausgangspunkt ihrer Existenz zusammen. Die Literatur, in ihrer Jugend angeblich ein identitätsstiftendes Moment, ist zu einem bloßen name dropping herabgekommen: der weibliche Gegenpart des Duos nutzt sie allein als Sprachrohr ihrer woken Weltsicht. Die gemeinsam entwickelte Geschäftsidee verknüpft oberflächlich diese beiden Bereiche: der antiquarische Buchhandel, wie er im ersten Teil noch als typischer Bestandteil des Lebensgefühls von Barcelona behauptet wurde, mit der inzwischen untergegangenen Kneipenkultur der Elterngeneration. Gänzlich unorganisch die Einarbeitung der realen Ereignisse terroristischer Anschläge, die letztlich nur dazu dienen mögen, die Unmöglichkeit zu konstatieren, eine vergangene, magisch aufgeladene Szenerie aufrecht zu erhalten, so wie die menschlichen Schicksale gleichfalls der Tristesse anheimfallen.
Mein Urteil: 2 Sterne

Bewertung vom 26.08.2022
Sanfte Einführung ins Chaos
Orriols, Marta

Sanfte Einführung ins Chaos


gut

Kein Plan ist auch ein Plan

Mit anthropologischem Interesse richtet der Leser fortgeschrittenen Alters seinen Blick auf Dani und Marta: sind Mittdreißiger heute so jung, kindlich … infantil? Schon durch ihre Berufswahl etikettieren sich die beiden Protagonisten als typische Vertreter ihrer Generation: was mit Medien, und der Hund aus dem Tierheim soll wohl als vergleichsweise anspruchsloses Objekt für ein versuchsweises Ausagieren von Verantwortungsbewusstsein fungieren.

Doch ganz allmählich entfaltet sich ein fein ziseliertes Psychogramm. Unter der enervierenden Fassade dieser Zeitgenossen des Millennium kommen abwechselnd zwei Individuen zu Wort, die ihre Geschichte haben, Traumata, Sehnsüchte. Der Titel des Romans entpuppt sich als Titel eines Songs - dem deutschen Leser natürlich nicht geläufig - der den Schlüssel bildet, um die Gestimmtheit dieser Altersgruppe überhaupt zu erfassen.

Sehr gekonnt, das Ereignis selbst, auf das die ganze Romanhandlung zusteuert, zu guter Letzt auszusparen. Auf diese Weise vermeidet die Autorin die Darstellung eines emotionalen Höhepunkts, es bleibt dem Rezipienten überlassen, die Leerstelle zu interpolieren, entsprechend der Vorstellungen, die das Gelesene hervorgerufen hat.

Verhalten, gedämpft, resignativ das Fazit, der Ausblick auf das Leben, in das eine endgültige Entscheidung ihre Spuren eingegraben hat.

Bewertung vom 25.07.2022
Beifang
Simons, Martin

Beifang


ausgezeichnet

Blindflug
Verräterisch der Name der Ortschaft, in der dieser Ruhrpott-Clan der Zimmermanns lebte: während die junge Bundesrepublik in Zeiten des Wirtschaftswunders prosperierte, gab es auch diesen gesellschaftlichen Bodensatz, der dahinvegetierte, eine sinnlose Gewalt auslebte, auch gegenüber den eigenen Kindern, und in dumpfer Sprachlosigkeit nicht über die eigene Situation reflektieren konnte.

Allein der Ich-Erzähler hätte als erstes und einziges Familienmitglied die Chance, durch Schulbildung und Studium diesem Pandämonium zu entkommen. Doch er tritt uns entgegen als gänzlich gescheitert - als Ehemann, als Vater, als Liebhaber ebenso wie in seiner unspektakulären und sinnentleerten Berufstätigkeit.

In einem Augenblick der Hellsichtigkeit entschließt sich dieser Frank, Kontakt zu den zahlreichen Familienmitgliedern aufzunehmen, um die innere Struktur dieses familiären Konglomerats zu erforschen, wie sie wurden, was sie sind.

Und hier offenbart sich das größte Defizit dieses Textes. Ohne Trennschärfe reihen sich die Expeditionen zu den einzelnen Verwandten aneinander, kaum vermag der Leser die Individuen voneinander zu unterscheiden. Ist es intendiert, das der gleichförmige Aufbau, die variationsarme Komposition den Blindflug des Protagonisten widerspiegelt?

Entlarvend, dass es des Briefes einer dem Erzähler vollkommen unbekannten Frau bedarf, den Blick auf einen gänzlich anderen Großvater zu öffnen. Sie, gleichfalls Patientin im Krankenhaus, in existentieller Krise, erlebt den sterbenden alten Mann in seiner grenzenlosen Einsamkeit, die auch das Herausschreien der zwölf Namen seiner Kinder nicht zu lindern vermag. Der menschliche Stil dieses Briefes kontrastiert auffallend mit dem lakonischen Tonfall des Erzählers. Aufschlussreich, dass der Roman an diesem Punkt abbricht und es offen bleibt, ob Frank von jetzt an die zähe Vitalität, die ihm aus seiner Herkunft zugewachsen ist, für sich, und seinen Sohn!, nutzen kann.

Bewertung vom 16.07.2022
Die Arena
Djavadi, Négar

Die Arena


ausgezeichnet

Abseits

Die Autorin führt den Leser in ein Paris abseits der Touristenattraktionen, in dieser Härte allenfalls bekannt aus den Fernsehnachrichten.
Doch in diesem Roman sind wir hautnah dabei!

Kreuz und quer geht es durch die wenig spektakulären Arrondissements, die Viertel des Präkariats und der Kriminalität. Die kleinen Leute, die Auslandsfranzosen, die Migranten, die Dealer und Kleinkriminellen leben hier. Sie alle lernen wir kennen, wie auch die Figuren, die es angeblich geschafft haben.

Ein Angelpunkt der Handlung ist ein Jude, der zum Frankreich-Chef eines amerikanischen Streaming-Konzerns aufgestiegen ist, durch die Mutter immer noch diesem Stadtteil verbunden. Durch eine rasante Verkettung von Ereignissen wird diese Figur verknüpft mit der Szene der depravierten migrantischen Jugendlichen, einer jungen Polizistin, die aufgrund eines einmaligen Fehlverhaltens zum Bauernopfer der machthungrigen, bedingungslos zum politischen Aufstieg entschlossenen Kaste der ansonsten gänzlich charakterlosen Apparatschiks wird. Präsentiert wird das Heer der leidenden, hilflosen Mütter, die entweder, ihren Kindern weitgehend entfremdet, keine Ahnung von deren Treiben haben, oder die von der Trauer gelähmt, immer wieder mitansehen müssen, wie ihre Kinder vom Moloch dieser Stadt der sozialen Kontraste verschlungen werden.

Das sich immer weiter steigernde Tempo der Handlung gipfelt schließlich in einer Gewaltexplosion, von der der Leser allerdings weiß, dass sie letztlich ad infinitum wiederholbar und im Ablauf der Ereignisse austauschbar ist.

Souverän gestaltet Négar Djavan den Verlauf dieser wenigen Tage wie ein klassisches Musikstück, um unmittelbar am Ende noch eins draufzusetzen. Es zeigt sich, dass es ein Rondo ist, das Ende des Romans wird direkt mit dem Anfang verbunden, wenn die dramatischen Ereignisse der Wirklichkeit umgeformt werden zu einem quotenträchtigen Inhalt des Streaming-Portals.

Ein ganz großer Wurf!