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Julia V.

Bewertungen

Insgesamt 25 Bewertungen
Bewertung vom 21.03.2023
Der weiße Fels
Hope, Anna

Der weiße Fels


ausgezeichnet

Fesselndes und toll geschriebenes Buch einer beeindruckenden Autorin
Das Cover finde ich etwas nichtssagend. Ein Gemälde des schottischen Malers Charles Simpson, gezeigt wird aber nur ein kleiner Ausschnitt: der titelgebende weiße Felsen, nicht mehr und nicht weniger. Nun ja.

Von Anna Hope hatte ich noch nie etwas gelesen, aber der Roman beginnt spannend und hat mich sofort hineingezogen: Eine Schriftstellerin begibt sich auf eine Reise in die Wüste Mexikos, um ein archaisches Opferritual durchzuführen, zum Dank für das empfangene Kind. Und ich wurde nicht enttäuscht, der Roman hat mir sehr gut gefallen! Anna Hope kann mitreißend erzählen, und sie kann sprachlich nuanciert schreiben. Allein die Fülle des Materials, das sie für dieses Buch recherchiert haben muss, ist beeindruckend.

Die Struktur des Buches ist interessant: Es sind vier Geschichten, deren jeweilige Handlung stets auf denselben Punkt zuläuft – den weißen Felsen – und sich dort wendet. Danach werden die Geschichten in umgekehrter Reihenfolge zuende erzählt, wobei sie sich am Ende noch einmal wenden. Ich muss gestehen, dass ich die Geschichten nicht chronologisch gelesen habe (also so, wie es gedacht war, in der oben beschriebenen Reihenfolge), sondern jeweils in einem Stück, weil ich es nicht erwarten konnte zu erfahren, wie es weitergeht. Was ja für die Geschichten spricht!
Die Geschichte der Schriftstellerin hat mich am wenigsten berührt. Vielleicht, weil die Autorin hier der Protagonistin am nächsten ist (es handelt sich ja, zumindest zum Teil, um Selbsterlebtes), verliert sie sich im Kleinteiligen. Auch fehlt die existentielle Tiefe, die den Geschichten der anderen Hauptfiguren ihre Wucht verleiht. Die gefühlte Bedrohung durch die beginnende Corona-Pandemie und den Klimawandel erscheinen im Vergleich etwas schwach, da die Schriftstellerin nicht direkt davon betroffen ist und sich das Katastrophen-Szenario nur in ihrem Kopf abspielt.

Fazit: Insgesamt ein toll geschriebenes und fesselndes Buch einer beeindruckenden Autorin, von der ich sicherlich mehr lesen werde!

Bewertung vom 27.02.2023
Wir hätten uns alles gesagt
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

Poetologische Einblicke oder: Nichts ist, wie es scheint

Das Cover, ein Ausschnitt aus einem Gemälde, zeigt die Innenansicht eines Zimmers: Neben einem Fenster hängen zwei Regenmäntel und ein Fernglas an der Wand, aus dem Fenster fällt der Blick auf das Meer, unter dunklen Regenwolken bricht die Sonne hindurch. Wahrscheinlich die Ost- oder die Nordsee, der Friesennerz deutet darauf hin, ebenso die Seesterne auf den Fenstersprossen. Das Stillleben passt sehr gut zu Judith Hermanns Texten, es strahlt dieselbe ruhige, leicht melancholische und etwas rätselhafte Atmosphäre aus.

Es ist dieser spezielle Erzählton, der Judith Hermanns Erzählungen in meinen Augen so besonders macht und der mir im Gedächtnis haften geblieben ist, auch wenn ich die (ohnehin dürftige) Handlung längst vergessen habe. Ihre Geschichten begleiten mich schon mein halbes Leben, seit 1998 ihr Debüt „Sommerhaus, später“ erschien. Ich habe sie alle gelesen, auch die beiden Romane.

Nun dieses Buch, das verspricht, Einblicke zu geben in das bisher verborgene Leben der Person hinter den Geschichten. Judith Hermann schreibt über ihr Leben und Schreiben, über Freunde und Wegbegleiter und wie diese, in verschlüsselter Form, den Weg in ihre Geschichten fanden. Das Buch selbst kommt autobiographisch daher (es sind Poetikvorlesungen), sie gibt vor, Einblick in ihren Schreibprozess zu geben. Wahrscheinlich ist es aber auch autofiktional, schwer zu sagen, wo die Grenze verläuft zwischen Realität und Fiktion. Zum Beispiel trifft die Erzählerin nachts im Späti ihren ehemaligen Psychoanalytiker und folgt ihm in eine schummrige Bar. Diese Begegnung erscheint einem erst plausibel, konkrete Details, die den Bezug zum Leben der Autorin herstellen, deuten darauf hin. Dann wieder glaubt man kaum, dass sie so stattgefunden haben könnte. Oder doch? Sehr spannend!

Fazit: Ein Muss für Fans von Judith Hermann und solche, die es werden wollen!

Bewertung vom 02.02.2023
Bekenntnisse eines Betrügers
Raina, Rahul

Bekenntnisse eines Betrügers


weniger gut

Rasante Geschichte eines gewitzten Aufsteigers
Das Cover erinnert mich an das Artwork des Films „Catch Me If You Can“: Es zeigt u. a. eine fliehende Männergestalt, dargestellt in reduzierten Vektorgrafiken auf knallgelbem Grund.
Auch thematisch gibt es Parallelen: Es geht um die Aufstiegsgeschichte des jungen Inders Ramesh, der aus bescheidenen Verhältnissen stammt und sich durch Lug und Betrug seinen Weg nach oben bahnt, allerdings auf die indische Art – vom Teeverkäufer zum Trickbetrüger. Ramesh, der sich selbst „Bildungsberater“ nennt, legt für die Kinder reicher Leute die Aufnahmeprüfungen für die Uni ab … bis alles schief geht.
Der Roman hat mich stark an den Film „Slumdog Millionär“ erinnert, und auch ein wenig an den Roman „Der weiße Tiger“ von Aravind Adiga.
Rahul Rainas Erzähltempo ist rasant, die Stimme seines Erzählers witzig und smart. Es hat Spaß gemacht, diesen Roman zu lesen, auch konnte ich das Buch kaum zur Seite legen. Dennoch war ich vom Verlauf der Geschichte zunehmend enttäuscht. Vielleicht lag es daran, dass der Protagonist mir nie richtig sympathisch wurde, dass er mir nie ans Herz gewachsen ist.

Fazit: Für Indien-Liebhaber*innen, die Lust haben, einen Blick auf das moderne Indien zu werfen und dabei gut unterhalten zu werden, dennoch eine Empfehlung!

Bewertung vom 01.02.2023
Auf der Zunge
Clement, Jennifer

Auf der Zunge


sehr gut

Poetischer Streifzug durch New York
Eine Frau läuft durch Manhattan und begegnet verschiedenen Männern: dem Polizisten, dem Dichter, dem Räuber, dem Löwenbändiger.
Das Cover, eine verschwommene Schwarz-Weiß-Fotografie, zeigt die Rückenansicht einer Frau im gestreiften Kleid. Man sieht ihr Gesicht nicht, ihr Alter ist unbestimmbar.
Ähnlich rätselhaft wie die Figur auf dem Cover bleibt auch die Protagonistin dieses Romans, einem schmalen Band mit nicht einmal 150 Seiten. Ihr Name wird nicht genannt, und auch sonst erfährt man nicht viel über sie, weder wie sie aussieht noch wie alt sie ist. So hat sich mir erst nach einiger Zeit erschlossen, dass es sich um eine schon ältere Frau handelt, die eine Tochter hat. Anderes wird nur kurz erwähnt, aber nicht weiter vertieft, wie zum Beispiel ihr jüdischer Background.
Auch ihr Ehemann wird nicht namentlich genannt, sondern nur „der Anwalt“, und nicht näher beschrieben. Er bleibt blass, ein Mann ohne Eigenschaften, greifbar nur durch seine Anzüge, die im Schrank hängen. Dadurch wird er zu einem unter vielen anderen Männern, was sicherlich kein Zufall ist.
Ich muss sagen, dass ich beim Lesen manchmal nicht wusste, was ich von dem Buch halten soll. Es gibt kaum äußere Handlung, und die Begegnungen und Dialoge mit den Männern wirken der Welt seltsam entrückt, irgendwie schwebend. Durch die klare, bildreiche Sprache bekommt der Text etwas Poetisches. Die einzelnen Kapitel, übertitelt mit den jeweiligen Männern („Der Astronaut“), sind nie mehr als ein paar Seiten lang und dadurch recht kurzweilig.
Letztendlich habe ich es doch gerne gelesen, und es hat mir gut gefallen. Auch hat es mich neugierig gemacht auf weitere Werke der Autorin.

Fazit: Für Leser*innen, die einen ungewöhnlichen Erzählton schätzen, und für Liebhaber*innen von New York City allemal eine Leseempfehlung!

Bewertung vom 10.04.2022
Die Wächterinnen von New York
Jemisin, N. K.

Die Wächterinnen von New York


gut

Originelle Idee, die mich in der Umsetzung ein wenig enttäuscht hat
Von N. K. Jemisin hatte ich vorher noch nie gehört, aber der Titel hat mich sofort angesprochen: Ein Fantasy-Roman, der in New York City spielt (eine meiner Lieblingsstädte), von einer preisgekrönten Autorin und mit einem schicken, „zeitgeistigen“ Cover – das war schon mal die halbe Miete. Zudem versprach der Klappentext eine originelle, einzigartige Geschichte: Städte sind lebendig und werden von Avataren verkörpert. New York City hat gleich sechs davon, einen primären und fünf weitere, für jeden Stadtteil einen.
Der Prolog und das erste Kapitel haben meine Erwartungen noch übertroffen: Der ungewöhnliche Protagonist (später stellt sich heraus, dass es fünf weitere Hauptfiguren gibt), N. K. Jemisins rasanter Erzählton und der spannende Einstieg haben mich direkt begeistert. Danach hat sich allerdings Ernüchterung breit gemacht. In den darauf folgenden Kapiteln (also über weite Strecken des Buchs) passiert erst mal wenig: Wir lernen die anderen Hauptfiguren, die Avatare der einzelnen Stadtteile kennen; sie suchen und finden einander, um gemeinsam gegen den Feind, der die Stadt bedroht, zu kämpfen. Und auch wenn das natürlich wichtig ist für die Handlung, so hat es sich in meinen Augen schlichtweg zu lange hingezogen.
Toll fand ich, dass man einiges über die Stadt und ihre Geschichte erfährt. Was mir auch gut gefallen hat, ist der Figuren-Cast, der sehr divers ist, was Race, Age und Gender angeht: Der primäre Avatar der Stadt ist ein obdachloser, Schwarzer junger Mann. Der Avatar von Manhattan ist ein schwuler, nicht-weißer Mann unbekannter Herkunft, vielleicht Latino. Die Avatarin von Brooklyn ist eine Schwarze Anwältin und alleinerziehende Mutter. Die Avatarin von Staten Island ist eine reiche weiße „Tochter“ Anfang Dreißig. Die Avatarin der Bronx ist eine feministische, lesbische Indigene in ihren Sechzigern. Die Avatarin von Queens ist eine junge Inderin.
Leider bleiben die Charaktere, mal abgesehen von ihrer Diversität, relativ blass. Die einzigen, die ich wirklich spannend fand, vielschichtig und ein bisschen „geheimnisvoll“, waren die beiden Männer, der primäre Avatar und Manny, die schon zu Beginn auftauchen. Und abgesehen von zwei oder drei eingestreuten Kämpfen mit dem noch unbekannten Feind passiert wie gesagt wenig. Stattdessen wird viel geredet. Die zuvor genannten Themen nehmen viel Raum ein, stellenweise las es sich wie ein Manifest gegen Rassismus und Diskriminierung. Natürlich sind das wichtige, gesellschaftlich relevante Themen, die in der Literatur verhandelt werden sollten. Aber geschickt verpackt in eine packende Geschichte mit interessanten Charakteren wäre mir lieber gewesen.

Fazit: Origineller Fantasy-Roman mit diversem Figuren-Cast, für New York-Liebhaber*innen oder solche, die es werden wollen. Zwei Sterne Abzug gibts wegen „flacher“ Charaktere und mangelndem Spannungsaufbau.