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Benutzername: 
Fannie
Wohnort: 
Oelsnitz/Erzgebirge

Bewertungen

Insgesamt 148 Bewertungen
Bewertung vom 19.02.2024
Ein Garten offenbart sich
de Vries, Katrin

Ein Garten offenbart sich


ausgezeichnet

Einzigartiges Buch über die faszinierende Welt des Gartens

Katrin de Vries lebt in Ostfriesland – in einem Haus, zu dem ein großer Garten gehört. Zu Anfang vertritt die Autorin die landläufige Meinung, dass Rasen kurz gemäht werden und der Garten stets aufgeräumt sein muss. Ihre beiden Söhne öffnen ihr jedoch mehr und mehr die Augen für die Abläufe der Natur und darüber, wie in ihrem Ökosystem Garten ganz ohne ihr Zutun eins ins andere greift. Zu Beginn tut sie sich schwer, ihre eingebläuten Überzeugungen abzulegen, doch mit den Jahren öffnet sich ihr Blick für das große Ganze – und daran lässt sie ihre Leserinnen und Leser auf beeindruckende Weise teilhaben.

Zugegeben, ich wusste nicht so recht, was mich in dem Buch „Ein Garten offenbart sich – Erzählung von einem anderen Leben“ von Katrin de Vries erwarten würde. Ein klassischer Gartenratgeber? Ein Leitfaden zum unkontrollierten Verwildern-Lassen eines Gartens? Oder gar der mit erhobenem Zeigefinger dargebotene Bericht einer Öko-Aktivistin? Ich ließ mich überraschen – und ich wurde überrascht, aber durchweg angenehm.

Autorin Katrin de Vries erzählt in wunderbarer Art und Weise viel von früher, als die Beziehung der Menschen zur Natur noch eine ganz andere war als heute. Damals, als Ackerbau und Viehzucht zur Selbstversorgung notwendig waren, weil eben nicht alles stets und ständig im Supermarkt um die Ecke zur Verfügung stand. Und so taucht man ein in eine andere Welt, ja, in das im Untertitel zitierte andere Leben, in dem die alltäglichen Verrichtungen, die uns heute Waschmaschine, Geschirrspüler und Co. abnehmen, noch reichlich mühselig waren, und es noch kein Wasserklosett gab.

Sie beschreibt, wie sehr sich die Gärten immer mehr von Nutz- zu Zierflächen verwandelt haben – und hält ihrer Leserschaft – allerdings ganz ohne erhobenen Zeigefinger – den Spiegel vor: Muss man einen Rasen mähen, weil ansonsten die Nachbarn schief gucken oder tut man der Natur damit etwas Gutes? Katrin de Vries lädt ihre Leser auf äußerst angenehme Art dazu ein, ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen und das ständige Bewerten sein zu lassen. Stattdessen rät sie, lieber genau hinzuschauen. Und tatsächlich: Wie gleichgültig bin ich bisher an Straßenbäumen vorbeigegangen? Seitdem ich „Ein Garten offenbart sich – Erzählung von einem anderen Leben“ gelesen habe, nehme ich mir die Zeit, genauer hinzuschauen, ja, überhaupt bewusst hinzuschauen.

Obwohl Katrin de Vries‘ Buch kein Sachbuch über Ökosysteme ist, erklärt sie anschaulich, wie faszinierend die Natur selbst im Kleinen, mitunter für das menschliche Auge unsichtbar, ist. Auch hier kommt der Untertitel „Erzählung von einem anderen Leben“ zum Tragen.

Wenn man sich die beeindruckenden Abläufe und Beziehungen in der Natur vergegenwärtigt, wird man als Gartenbesitzer regelrecht demütig, weil man sich bisher immer ganz selbstverständlich herausgenommen hat, alles zu kontrollieren und zu bestimmen. Aber die Natur einfach mal machen lassen – das kann man durchaus ausprobieren. Da aber auch ich – wie wahrscheinlich die meisten – nicht so leicht aus meiner Haut kann, werde ich den größten Teil des Rasens natürlich mähen. Aber in einer Ecke meines Gartens darf ab dem kommenden Frühjahr wachsen, was immer da wachsen möchte – und dafür wünsche ich mir Katrin de Vries‘ kindliche Neugier und ihre Begeisterungsfähigkeit.

Zwei Dinge gefallen mir an „Ein Garten offenbart sich – Erzählung von einem anderen Leben“ ganz besonders: Das ist zunächst die einzigartige Erzählstimme der Autorin. Beim Lesen dieses Buches hat mich eine innere Ruhe überkommen, die ich noch nie zuvor in meinem nun doch schon recht langen Leser-Leben gespürt habe. Man hört Katrin de Vries unglaublich gerne zu.

Zum anderen finde ich es beeindruckend, dass die Autorin niemals oberlehrerhaft daherkommt, sondern dem Leser stets auf Augenhöhe Möglichkeiten aufzeigt, anstatt belehrend zu wirken.

Katrin de Vries ist mit ihrem Buch ein außergewöhnlicher Mix gelungen, in dem sie das Beste aus Garten-Sachbuch, historischer Erzählung und Achtsamkeitsratgeber vereint. Nein, eigentlich wird dem Buch diese Beschreibung nicht gerecht. Also am besten loslesen und erleben. Es lohnt sich!

Bewertung vom 11.02.2024
Spiel der Lügner / Ffion Morgan Bd.2
Mackintosh, Clare

Spiel der Lügner / Ffion Morgan Bd.2


sehr gut

Knifflige Mördersuche in den walisischen Bergen

Hoch oben in den walisischen Wäldern thront majestätisch der Pen y Ddraig, von Nicht-Walisern "Drachenberg" genannt. Fernab jeglicher Zivilisation und abgeschottet von der Außenwelt werden sieben Teilnehmer der neuen Realityshow "Exposure" vierzehn Tage lang dort campieren. Doch wer meint, sich in der Wildnis im Rahmen eines Survivaltrainings seinen Ängsten stellen zu können, wird schon in der ersten Livesendung enttäuscht. Denn die Macher verfolgen ein ganz anderes Konzept. Sie haben gut gehütete Geheimnisse der Teilnehmer ausgegraben, die deren Leben ruinieren können, wenn sie ans Licht kommen. Demjenigen, dem es gelingt, sein Geheimnis bis zum Schluss zu hüten, geht nicht nur mit 100.000 Pfund als Gewinner aus der Show, sondern auch mit der beruhigenden Gewissheit, dass sein Geheimnis gewahrt bleibt. Wie weit gehen die Teilnehmer, wenn sie merken, dass es plötzlich um ihre bloße Existenz geht? Wären sie bereit, dafür zu morden?

Mit "Spiel der Lügner" erschien am 29. Dezember 2023 der zweite Band der Krimi-Reihe um die walisische Ermittlerin Ffion Morgan und ihren englischen Kollegen Leo Brady. Die Autorin Clare Mackintosh kann in Sachen Polizeiarbeit auf umfangreiche Erfahrungen aus erster Hand zurückgreifen, stand sie doch selbst 12 Jahre lang im Dienst des Criminal Investigation Department, bevor sie sich dem Schreiben widmete.

Wie habe ich mich, ein Jahr, nachdem mich der Auftaktband "Die letzte Party" begeistert hat, auf den zweiten Fall und über das Wiedersehen mit Ffion Morgan gefreut! Die unangepasste walisische Polizistin macht es auch in "Spiel der Lügner" ihrem Umfeld nicht leicht: Sie ist alles andere als ein "People Pleaser", denn sie flucht leidenschaftlich, hat ihren eigenen Kopf, ist verschlossen und stur wie ein Esel. Doch ihr unerschütterlicher Mut und ihre Intelligenz machen sie zu einer fantastischen Ermittlerin. Diesmal - und das finde ich besonders schön - gibt uns Clare Mackintosh Einblicke in das Seelenleben ihrer Protagonistin und zeigt auch ihre verletzliche Seite. Mit ihrem Kollegen Leo Brady ist Ffion nach ihrem ersten gemeinsamen Fall unrühmlich auseinandergegangen - nach ihrem One-Night-Stand und ordentlich Schmetterlingen im Bauch hat sich keiner von beiden getraut, Farbe zu bekennen. Deshalb darf der geneigte Leser gespannt sein, wie sich das Wiedersehen des ungleichen Ermittler-Duos gestaltet, als ein Teilnehmer von "Exposure" plötzlich spurlos aus dem Camp verschwindet.

Die Dialoge sind gewohnt spritzig und schlagfertig. Es macht einfach Spaß, dieses Buch zu lesen. Gleichzeitig hält Clare Mackintosh uns Lesern den Spiegel vor - allerdings ohne dabei belehrend zu sein: Schließlich kitzeln Realityshows den Voyeurismus aus den Zuschauern heraus - und je mehr Drama es gibt, desto besser. Ja, davon kann auch ich mich nicht freisprechen. 😉

Wieder einmal atemberaubend und außerordentlich sehnsuchtsfördernd ist das Setting, das Clare Mackintosh für ihren aktuellen Kriminalroman gewählt hat: Die raue Schönheit von Nordwales mit dem Pen y Ddraig und dem LLyn Drych, dem Mirror Lake, im Tal, der im ersten Roman der Schauplatz war, löst beim Lesen ein gewisses Fernweh aus.

Womit ich diesmal so meine kleinen Schwierigkeiten hatte, war das Erzähltempo. Mitunter gibt es einige Längen, dann wieder geht alles irrsinnig schnell. Im Gegensatz zu ihrem Erstling "Die letzte Party" nimmt sich Clare Mackintosh in "Spiel der Lügner" sehr viel Zeit bis zum Mord. Mit einem gekonnten Twist, den wohl keiner auf dem Schirm haben dürfte, hält sie die Spannung allerdings bis zum Ende aufrecht und lässt ihre Ermittler wie auch ihre Leserschaft in diesem klassischen Whodunnit rätseln, wer der Mörder ist.

Alles in allem fand ich "Spiel der Lügner" nicht ganz so stark wie den Vorgänger "Die letzte Party", aber ein unterhaltsamer und spannender Krimi ist es allemal, den ich guten Gewissens allen Spannungsfans empfehlen kann.

Bewertung vom 29.11.2023
Stille Nacht im Schnee
Oetker, Alexander

Stille Nacht im Schnee


ausgezeichnet

Herzerwärmend, humorvoll und feinsinnig: Ein wunderbarer Roman für die Weihnachtszeit

Die Schauspielerin Greta Garbo soll einmal gesagt haben: "Man altert nicht während des Jahres, sondern während der Weihnachtstage." Nun sollte einem dieses Zitat die Vorfreude auf die schönste Zeit des Jahres nicht vermiesen, aber ein paar graue Haare mehr werden die Eltern Elisabeth und Pascal in Alexander Oetkers Roman "Stille Nacht im Schnee" nach diesem ganz besonderen Weihnachtsfest mit ihrer Familie durchaus zu beklagen haben. Das Ehepaar empfängt seine illustren Familienmitglieder an Heiligabend zum Käsefondue in seiner Almhütte in den verschneiten Schweizer Alpen. Doch die Besinnlichkeit will sich nicht so recht einstellen - dafür sorgen unter anderem die dauergestresste Schwiegertochter Gesine, ein Hamster namens Willi und die Enthüllung unerwarteter Neuigkeiten ...

Alexander Oetker, der vor allem für seine Krimis um den französischen Ermittler Luc Verlain bekannt ist, hat für seinen am 5. Oktober 2023 bei Atlantik (einem Imprint von Hoffmann und Campe) erschienenen Weihnachtsroman "Stille Nacht im Schnee" ein heimeliges Setting ausgewählt, das eine echte Offenbarung für alle Leser ist, die von weißen Weihnachten träumen: Eine Almhütte in den tief verschneiten Bergen und später dazu ein Schneesturm, der schließlich zu einem Stromausfall führt.

Mit angenehm ruhigem Schreibstil erzählt er die Geschichte von einem Weihnachtsfest in Familie, in die er allerdings keine unrealistischen, filmreifen Katastrophen einbaut, sondern das alltägliche Chaos und die Zwistigkeiten zwischen den Familienmitgliedern in den Mittelpunkt rückt. Dabei gelingt Alexander Oetker das Kunststück, sich auf der feinen Linie zwischen Humor und Ernsthaftigkeit zu bewegen, ganz fantastisch.

Sehr sorgsam ausgearbeitete und interessante Charaktere sorgen dafür, dass das Buch an keiner einzigen Stelle langweilig wird. "Stille Nacht im Schnee" ist ein wahrlich herzerwärmender Roman und mit seinen 176 Seiten genau richtig, um in der hektischen Vorweihnachtszeit einmal innezuhalten.

Wenn man nach der Lektüre das Buch zuklappt, hat einen der Autor ein Stück weit zurück auf den Boden der Tatsachen geholt: Überhöhte Ansprüche und nervenaufreibender Perfektionismus sind es nämlich nicht, die dazu beitragen, ein Weihnachtsfest unvergesslich werden zu lassen - denn wie heißt es so schön: "Weihnachten ist, wenn die besten Geschenke am Tisch sitzen und nicht unterm Baum liegen."

Bewertung vom 29.08.2023
Apfelmädchen / Kommissarin Lind ermittelt Bd.1
Martin, Tina N.

Apfelmädchen / Kommissarin Lind ermittelt Bd.1


ausgezeichnet

Spannende Unterhaltung made in Schweden

Der Thriller "Apfelmädchen" von Tina N. Martin wird auf dem Buchrücken vollmundig mit den Worten "Das Nr.-1-Bestseller-Debüt aus Schweden - nordisch, packend, topaktuell" beschrieben. Das Cover: Düster, atmosphärisch und vielversprechend. Ich war neugierig, ob es der Inhalt des Buchs mit der hübschen Verpackung aufnehmen konnte und stürzte mich gespannt in das 512-seitige Leseabenteuer, das pünktlich zum Midsommar 2023 erschien.

Die 1980 geborene Autorin Tina N. Martin arbeitet als Lehrerin im schwedischen Boden. Dort spielt auch ihr Thriller-Debüt "Apfelmädchen". Es mag vielleicht ein wenig makaber anmuten, aber ausgerechnet eine Lehrerin ist das Mordopfer in dieser Geschichte. Ihre Hände wurden von Nägeln durchbohrt und lassen ein religiöses Motiv vermuten. Kriminalkommissarin Idun Lind und ihr Partner Calle Brandt setzen alles daran, um dem Täter auf die Schliche zu kommen.

Das Ermittler-Duo Idun Lind und Calle Brandt ist ebenso sympathisch wie gegensätzlich: Während Idun den besonneneren Part bildet, kommt Calle Brandt als pragmatischer Haudrauf daher. Das verbindende Element der beiden unterschiedlichen Kommissare ist ihr Ehrgeiz bei der Jagd nach dem Mörder.

Die Autorin punktet aber nicht nur mit starken Figuren, sie überzeugt ebenfalls durch einen unverkrampften, praktischen Schreibstil, mit dem es ihr trotzdem leicht gelingt, lebendige Bilder in den Kopf des Lesers zu projizieren. Auch die Übersetzerin Leena Flegler hat einen fantastischen Job gemacht, indem sie die schwedische Originalausgabe mit dem Titel "Befriaren" ins Deutsche übertrug.

Der Plot ist gut durchdacht und logisch. Stück für Stück offenbart sich dem Leser die ganze komplexe Geschichte, bei der sich die Kapitel zwischen dem Heute und der Vergangenheit im Zeitraum von 1975 bis 1999 abwechseln.

Nachdem ich das Buch gelesen habe, kann ich sagen, dass die Attribute "nordisch, packend, topaktuell" absolut zutreffen und in "Apfelmädchen" tatsächlich das drin war, was draufstand: Nämlich spannende Unterhaltung made in Schweden!

Am 17. Januar 2024 erscheint mit "Gewittermann" der zweite Band aus der Reihe um Idun Lind. "Apfelmädchen" hat auf jeden Fall das Zeug zu einem Film oder einer Serie. Schauen wir mal, ob "Gewittermann" ein ebensolches Potenzial bietet.

In Schweden ist vor einigen Wochen übrigens schon Band drei mit dem Originaltitel "Sorgsystern" erschienen. Man darf also gespannt sein auf die nächsten Verlagsvorschauen von Penguin Random House und hoffen, dass der dritte Teil der Idun Lind-Reihe bald auf Deutsch angekündigt wird.

Bewertung vom 21.07.2023
Bunny McGarry und der Mann mit dem Allerweltsgesicht / Bunny McGarry Bd.1
McDonnell, C. K.

Bunny McGarry und der Mann mit dem Allerweltsgesicht / Bunny McGarry Bd.1


sehr gut

Kurioser Krimi in Überschallgeschwindigkeit

Meine erste literarische Begegnung mit dem irischen Autor C. K. McDonnell (bürgerlich: Caimh McDonnell) liegt etwa ein Jahr zurück, als ich seinen Urban Fantasy-Krimi „The Stranger Times“ las. Inzwischen steht mit „Love Will Tear Us Apart“ bereits Teil drei der „Stranger Times“-Serie in den Startlöchern, dessen Erscheinen im September 2023 geplant ist. Schon beim Auftaktband habe ich mich damals köstlich über allerhand Skurrilitäten und die überaus illustren Darsteller amüsiert. Dass der Autor auch als Stand-up-Comedian seine Brötchen verdient, ist da nur allzu plausibel.

Am 26. Mai 2023 erschien mit „Bunny McGarry und der Mann mit dem Allerweltsgesicht“ bei Eichborn nun der Erstling der „Dublin Trilogy“, einer neuen Krimireihe, in der eben jener Bunny McGarry ermittelt.

Bunny McGarry ist ein typischer Anti-Held. Er trinkt (sogar für irische Verhältnisse) übermäßig viel Alkohol, schielt, ist ebenso beleibt wie unkonventionell, steht dafür jedoch kompromisslos hinter den Seinen. Aber ganz ehrlich? So richtig ans Herz gewachsen ist mir Detective Sergeant McGarry nach diesem ersten Dublin-Krimi (noch) nicht. Er ist zweifelsohne originell, aber kein Sympathieträger. Vielleicht liegt es daran, dass er eher selten auftaucht.

Da ist mir Paul Mulchrone, dem im Buch aus zunächst unerfindlichen Gründen nach dem Leben getrachtet wird, bei Weitem lieber. Eigentlich will er der Krankenschwester Brigit Conroy nur einen Gefallen tun, als er im St.-Kilda’s-Hospiz einem schwerkranken, alten Mann Gesellschaft leisten soll. Doch dann gerät die Situation vollkommen außer Kontrolle, der Alte stirbt, und urplötzlich finden sich Paul und Brigit auf der Flucht wieder – ohne zu wissen, wovor oder vor wem. Das klärt Autor McDonnell allerdings später im Laufe der Geschichte auf – und auch, was das Ganze mit dem berühmten „Rapunzel-Fall“ zu tun hat, dem berüchtigtsten irischen Kriminalfall.

In rasantem Tempo rauschen Schwester Conroy und Paul Mulchrone auf der Flucht vor ihren bis dato noch unbekannten Verfolgern also Chaos stiftend durch Dublin – und die Romanhandlung steht den beiden in Sachen Geschwindigkeit in nichts nach. Für meinen Geschmack ging es oft zu rasant voran, was dazu führt, dass man als Leser das Gefühl hat, der Handlung immer ein Stück hinterherzuhecheln.

Trotz dieser Überschallgeschwindigkeit und der sich permanent überschlagenden Ereignisse feiere ich den in Manchester lebenden C. K. McDonnell für seinen herrlichen britischen Humor, vor dem „Bunny McGarry und der Mann mit dem Allerweltsgesicht“ nur so strotzt. Auch die handelnden Personen sind ebenso wunderbar überdreht wie einzigartig. Sie feuern Dialoge wie Gewehrsalven ab und sind an Schrulligkeit nicht leicht zu überbieten. Das ist auch André Mumot zu verdanken, der den Krimi mit dem Originaltitel „A Man With One Of Those Faces“ mit sehr viel Authenzität ins Deutsche übersetzt hat.

Bei „Bunny McGarry und der Mann mit dem Allerweltsgesicht“ handelt es sich interessanterweise um das Debüt von C. K. McDonnell. Der brillante Humor und seine Vorliebe für kuriose Persönlichkeiten spiegelt sich auch in seiner später verfassten, aber in Deutschland vor „The Dublin Trilogy“ erschienenen „Stranger Times“-Reihe wider.

Man darf gespannt sein, wann der nächste Band von „The Dublin Trilogy“, dessen Originaltitel „The Day That Never Comes“ lautet, auf Deutsch erscheint. Wenn es so weit ist, werde ich das Buch ganz bestimmt lesen – in der Hoffnung, dass es dann ein wenig gemäßigter zugeht. 😉

Bewertung vom 24.05.2023
Die Liebe an miesen Tagen
Arenz, Ewald

Die Liebe an miesen Tagen


sehr gut

Ewald Arenz brilliert als Poet in Alltagsdingen

Ewald Arenz‘ Roman „Die Liebe an miesen Tagen“ erzählt die Geschichte der Fotografin Clara und des etwa zehn Jahre jüngeren Schauspielers Elias, die sich ebenso unverhofft wie heftig ineinander verlieben. Dabei sind die Voraussetzungen dafür alles andere als günstig, denn beide haben Blessuren und Schrammen im Herzen: mit Ende 40 ist Clara bereits verwitwet, Elias hingegen ist mit einer Frau zusammen, die er nicht liebt – und schlimmer noch: nie geliebt hat. Aber danach fragt die eine, die wirkliche, die große Liebe nicht, so es sie denn gibt. Daran zweifeln nämlich sowohl Clara als auch Elias …

„Die Liebe an miesen Tagen“ erschien am 16. Januar 2023 im DuMont Buchverlag. Es war mein erstes Buch von Ewald Arenz, das ich gelesen habe, aber – so viel nehme ich schon einmal vorweg – es war garantiert nicht mein letztes!

Dieses Buch ist kein seichter Unterhaltungsroman, den man hintereinanderweg liest. Die Erzählung hat ihr ganz eigenes, am Anfang gemächliches Tempo, mit dem sie einen entschleunigt und zum Innehalten verleitet, wenn man sich darauf einlässt. Man sollte diesen Roman, einer guten Schokolade gleich, mit allen Sinnen genießen.

Der Schreibstil des Autors hat mich von Beginn an fasziniert. Mit seiner feinen Beobachtungsgabe bringt Ewald Arenz eine Saite im Innern des Lesers zum Klingen, die von den großen und kleinen Alltagskatastrophen oftmals verschüttet wird. Und er versteht es meisterhaft, diesen achtsamen Beobachtungen mit Worten Leben einzuhauchen. Es klingt kitschig, wenn ich Ewald Arenz als „Poet in Alltagsdingen“ bezeichne, aber das trifft es wohl am ehesten. Jedenfalls habe ich noch nie vorher ein Buch gelesen, in dem der Autor so sinnlich das Geräusch des auf einen Schirm fallenden Regens beschreibt.

Wer jetzt aber meint, dass es sich hierbei nur um eine gewöhnliche Liebesgeschichte mit blumigen Worten handelt, liegt absolut falsch. Denn Ewald Arenz‘ Roman hat nicht nur eine unglaubliche Tiefe, der Autor blickt auch mit scharfem Blick dorthin, wo es wehtut – und das reicht bis zum Leser selbst. Es geht um Schuld, aber auch um Demut und Dankbarkeit. Nicht selten habe ich mich dabei ertappt, dass ich mich fragte: Was hätte ich an Claras Stelle getan? Wie würde es mir ergehen, wenn ich mich in Elias‘ Situation befände?

Ewald Arenz wählt in seinem Roman den beginnenden Frühling als Setting, der der Geschichte mit seiner Unbeständigkeit, aber auch seinen verheißungsvollen Versprechen den passenden Rahmen gibt.

Während Clara und Elias ihre beginnende Liebe in diesen ersten Frühlingstagen genießen, gestaltet sich die Entwicklung der Handlung ein wenig behäbig und für meinen Geschmack ein bisschen zäh. Aber Ewald Arenz behandelt seine Protagonisten nicht unbedingt pfleglich und baut schicksalhafte Wendungen ein, die die Geschichte plötzlich rasant Fahrt aufnehmen lassen.

Mein Fazit: „Die Liebe an miesen Tagen“ ist ein Buch, das ich nicht nur gelesen, sondern vor allem gefühlt habe.

Bewertung vom 21.02.2023
Die letzte Party / Ffion Morgan Bd.1
Mackintosh, Clare

Die letzte Party / Ffion Morgan Bd.1


ausgezeichnet

Dieser Roman hat alles, was ein guter Krimi braucht!

Ein klirrend kalter Neujahrsmorgen am Llyn Drych, dem Mirror Lake, durch den die Grenze zwischen Wales und England verläuft: Die Einwohner des walisischen Dörfchens Cwm Coed haben sich zum traditionellen Neujahrsschwimmen versammelt. Doch die gute Stimmung wird bald getrübt, denn im See treibt eine Leiche – zweifelsfrei ein Mordopfer. Der Tote ist der aus Cwm Coed stammende Opernsänger Rhys Lloyd, der in seine Heimat zurückgekehrt ist, um am Llyn Drych das protzige Ferienparadies „The Shore“ für Gutbetuchte zu bauen. Die Luxus-Lodges und seine Bewohner stoßen im Dorf auf wenig Gegenliebe – doch ist das der Grund für den Mord an Rhys Lloyd?

Clare Mackintoshs Kriminalroman „Die letzte Party“ (Originaltitel: "The Last Party") ist der Auftaktband zu einer Reihe um die walisische Ermittlerin Ffion Morgan – und was für einer! Von der ersten Seite an glaubt man sich mitten in der Idylle im Grenzland zwischen Wales und England. Die Autorin lässt dank ihrer atmosphärischen Beschreibungen gestochen scharfe Bilder vor dem geistigen Auge ihrer Leserschaft entstehen. Und ebenso lebendig sind auch Clare Mackintoshs Charaktere, allen voran natürlich ihre Protagonistin Ffion Morgan, die gemeinsam mit DC Leo Brady von der englischen Polizei nach dem Mordmotiv und dem Täter sucht. Dabei ist die Ermittlerin eigentlich befangen, denn sie selbst lebt in Cwm Coed. Kompetenzgerangel und Parteilichkeit sind jedoch nur ein Aspekt der Geschichte.

Clare Mackintosh hat quasi zwei Welten erschaffen, die Lichtjahre voneinander entfernt zu sein scheinen, tatsächlich jedoch lediglich durch den See getrennt werden: Da sind einerseits die einfachen Leute aus Cwm Coed und die ebenso Schönen wie Reichen in „The Shore“. Doch wenn die Einheimischen meinen, die neuen Anwohner haben ihres Vermögens wegen keine Sorgen, dann irren sie gewaltig. Unverblümt lässt die Autorin ihre Leser hinter den schönen Schein blicken und man erfährt nach und nach, dass in „The Shore“ weiß Gott nicht alles Gold ist, was glänzt.

Clare Mackintosh, die selbst zwölf Jahre lang in Diensten der britischen Kriminalpolizei stand, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte, führt ihre Leser in ihrer Story auf Irrwege, streut falsche Verdächtigungen und baut gekonnte Twists ein.

Schon bald meint man, nahezu jeder hätte ein Motiv für den Mord an Rhys Lloyd. Zackige Dialoge und ein mit derben Spitzen durchwirkter Humor machen diesen Whodunnit-Krimi zu einem echten Lesevergnügen. Meine anfänglichen Befürchtungen, dass der Lesefluss womöglich durch zu viele und zu komplizierte walisische Begriffe beeinträchtigt werden könnte, bestätigte sich übrigens nicht. Die Autorin setzt Walisisch homoöpathisch dosiert ein.

Ein großes Lob für den zudem sprachlich hervorragenden Roman gebührt nicht nur Clare Mackintosh, sondern auch der Übersetzerin Sabine Schilasky.

Fazit: Ein Wahnsinns-Setting, originelle Charaktere, Spannung bis zum Schluss, ein toller Schreibstil und eine glaubhafte Auflösung: „Die letzte Party“ hat wirklich alles, was ein verdammt guter Kriminalroman braucht!

Ich fiebere schon jetzt dem zweiten Teil entgegen, auch wenn es vermutlich noch eine ganze Weile dauert, bis dieser in Deutschland erscheint. Die englische Originalausgabe des zweiten Bands mit dem Titel „A Game Of Lies“ kommt am 3. August 2023 auf den Markt.

Bewertung vom 10.11.2022
Die Sehnsucht nach Licht
Naumann, Kati

Die Sehnsucht nach Licht


ausgezeichnet

Alles kommt vom Bergwerk her

Bedrückende Enge, Hitze, Finsternis und Staub – unter Klaustrophobie darf man als Bergmann nicht leiden. Und doch haben sich die Mitglieder der Familie Steiner aus dem erzgebirgischen Bad Schlema über Generationen hinweg all diesen Widrigkeiten ausgesetzt, um dem Berg seine Schätze abzutrotzen.

Heute sind die Schächte stillgelegt und anstelle der Bergleute fahren Touristen und Interessierte ein, um sich im Besucherbergwerk ein Bild vom Leben unter Tage zu machen. Luisa, mit 30 Jahren das jüngste Mitglied der Bergarbeiterfamilie Steiner, vermittelt den Gästen im Schacht 15IIb mit Enthusiasmus, wie es einst unter der Erde zugegangen ist. Dabei kann sie auf Informationen und Erinnerungen aus erster Hand zurückgreifen, denn ihr Vater, ihr Großvater, ihr Urgroßvater und sogar ihr Ururgroßvater waren Bergleute. Auch ihr Großonkel Rudolf gehörte dieser Zunft an – bis er eines Tages nicht mehr von der Schicht nach Hause kam. Luisa beschließt, sich auf die Spuren ihres Großonkels zu begeben und lüftet dabei ungewollt so manches Familiengeheimnis …

Dem Erscheinen von „Die Sehnsucht nach Licht“ habe ich voller Ungeduld entgegengefiebert. Ich wohne nur 15 Kilometer entfernt von Bad Schlema, dem Hauptschauplatz des Romans und gleichzeitig dem Wohnort der fiktiven Familie Steiner, und finde Regionalgeschichte absolut fesselnd. Am 25. Oktober 2022 wurde „Die Sehnsucht nach Licht“ bei HarperCollins veröffentlicht – und ich habe das Buch im Rekordtempo gelesen!

In sich abwechselnden Kapiteln erzählt Autorin Kati Naumann von der Vergangenheit der Familie Steiner, beginnend im Jahre 1908, und der heutigen Zeit, die im Herbst 2019 angesiedelt ist. Ich bin ehrlich beeindruckt, wie viel Geschichte und Geschichten die Autorin auf 416 Seiten platziert hat, ohne dabei jemals oberflächlich zu sein.

Jede Zeit, jede Epoche im Roman hat ihre ganz eigene, charakteristische Atmosphäre, die Kati Naumann für ihre Leser lebendig und greifbar macht. Spielend leicht versetzt die Autorin einen in die Kaiserzeit, in entbehrungsreiche Kriegsjahre, in die 40 Jahre währende DDR bis in die Gegenwart. Auch die Traditionen kommen nicht zu kurz: Von den Rauhnächten über die Mettenkerze bis hin zum Schwibbogen lässt die Autorin erzgebirgisches Brauchtum in ihre Geschichte einfließen.

Den einzelnen Sohlen in einem Bergwerk ähnlich, beleuchtet Kati Naumann Generation für Generation der Steiners, gibt ihnen eine Stimme, lässt sie aus ihrem Leben erzählen, das sich im Laufe der Zeit genauso wandelt wie der einst so mondäne Kurort. Der Stammbaum der Familie ganz am Anfang des Buchs erweist sich als äußerst hilfreich, sonst würde man bei fünf Generationen früher oder später den Überblick verlieren.

„Die Sehnsucht nach Licht“ ist nicht nur eine Familiensaga, bei der die „kleinen“ Leute im Mittelpunkt stehen, sondern auch die Biografie eines Ortes, der im Laufe der Jahrzehnte immer wieder sein Gesicht verändert hat.

Selbst als „Hiesige“ habe ich beim Lesen von „Die Sehnsucht nach Licht“ eine Menge Neues erfahren. Spannend erzählt, kombiniert Kati Naumann gründlich recherchierte (Bergbau-)Geschichte mit mitreißendem Familienroman. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Es war ein Genuss, dieses Buch zu lesen!

Und spätestens, wenn man dann nach 416 Seiten das Buch zuklappt, weiß man, warum sowohl für die Familie Steiner als auch für das Erzgebirge gilt: „Alles kommt vom Bergwerk her.“

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.11.2022
Die Träume anderer Leute
Holofernes, Judith

Die Träume anderer Leute


sehr gut

Einmal Popstar und zurück

Eins vorweg: Ein klassisches „Wir sind Helden“-Fangirl war ich nie. Ich mochte ihre Lieder ganz gern, habe die Band einmal live gesehen, aber das war´s dann auch schon. Dennoch wollte ich Judith Holofernes‘ Buch „Die Träume anderer Leute“ unbedingt lesen, da ich eine Schwäche für Musiker-Biografien habe.

Einen passenderen Titel als den gleichnamigen „Wir sind Helden“-Song aus dem Jahr 2010 hätte deren ehemalige Frontfrau für ihr Buch nicht wählen können. Sie beschreibt darin die kreative Enge in den Mühlen der Musikindustrie, in der Verkaufszahlen alles sind und der Künstler nicht mehr ist als ein Produkt. Judith Holofernes legt in "Die Träume anderer Leute" den Schwerpunkt aber nicht auf die schillernden Momente ihrer Karriere mit den Helden, sondern auf die Zeit danach. 2012 trennten sich die Wege der Band und die Musikerin stand nun vor der schwierigen Aufgabe, sich neu zu erfinden. An kreativen Ideen mangelte es ihr nicht, aber eines stand für sie fest: Sie wollte nicht länger die Träume anderer Leute träumen.

Zu Beginn war es ein wenig schwierig, mich an den Schreibstil von Judith Holofernes zu gewöhnen. In manchen Passagen wirkte der hektisch und ein bisschen überdreht. Aber einmal im Flow, machte es mir immer mehr Spaß, dieses Buch zu lesen und ihr zuzuhören. Ja, zuzuhören – und das bei einem Printbuch! Denn mit der Zeit kommt es einem tatsächlich so vor, als würde man neben der erzählenden Judith Holofernes auf dem Sofa sitzen. Sie spart dabei nicht an Wortwitz und verfügt über einen schier unerschöpflichen Wortschatz – langweilig wird es also nie.

Die Musikerin zeigt ihre verletzliche Seite und gewährt Einblicke in ihr Familienleben, das so gar nicht rockstarmäßig, sondern erschreckend normal ist. Ganz offen beschreibt Judith Holofernes, wie sie schließlich krank wird, nicht mehr funktioniert und erst nach einer Weile wieder auf die Beine kommt.

Besonders liebenswert an „Die Träume anderer Leute“ ist, wie herrlich uneitel die Autorin über sich selbst schreibt.

„Ich sehe an schlechten Tagen aus wie die verwirrte Lieblingstante von Boy George.“
(Seite 182)

Neben allem Hadern und Zweifeln, wie sie sich eine neue Karriere aufbauen kann, ohne dabei immer auf die Frontfrau von „Wir sind Helden“ reduziert zu werden, kommt Judith Holofernes eins zum Glück nie abhanden: Ihr Humor.

Ergo: Definitiv lesenswert für alle Musikinteressierten und Künstler!

Bewertung vom 12.04.2022
Stimmen der Freiheit / Die Frauen vom Reichstag Bd.1
Gabriel, Micaela A.

Stimmen der Freiheit / Die Frauen vom Reichstag Bd.1


sehr gut

Unterhaltsamer Rückblick auf die Geburtsstunde deutscher Demokratie

Zugegeben, ich habe ein wenig gezögert, bevor ich mich bewusst für die Lektüre des Romans „Die Frauen vom Reichstag – Stimmen der Freiheit“ entschieden habe. Frauenwahlrecht, Weimarer Republik, Entente: Ich fürchtete, dieser Exkurs in die deutsche Geschichte könnte womöglich ein bisschen langatmig sein. Aber da hatte ich die Rechnung ohne Autorin Micaela A. Gabriel gemacht. Die gebürtige Hanseatin hat sowohl unter ihrem Mädchennamen Micaela Jary als auch dem Pseudonym Michelle Marly große literarische Erfolge vorzuweisen.

In ihrem aktuellen Roman „Die Frauen vom Reichstag – Stimmen der Freiheit“, erschienen am 22.03.2022 bei Rowohlt Polaris, nimmt sie die Leser mit in die ausgehende Kaiserzeit und den Aufbruch in die Demokratie. Im Zentrum steht dabei die fiktive Figur Marlene von Runstedt, die als eine der ersten 37 Parlamentarierinnen Deutschlands in den Reichstag einzieht. Die Juristin ist fest entschlossen, sich als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) für die Rechte der Frauen einzusetzen. Ihre einstige Freundin Sonja Grawitz, inzwischen ein gefeierter Theaterstar, tritt für die kaisertreue Deutschnationale Volkspartei (DNVP) an. Doch es sind nicht nur die unterschiedlichen politischen Ansichten der beiden Frauen, die die einstigen Freundinnen entzweien – sie konkurrieren vor allem um einen Mann. Der Offizier Justus von Ostwald ist kein Kostverächter und fühlt sich zu beiden Frauen hingezogen. Mit Sonja unterhält er eine über Jahre andauernde Affäre, aber die strebsame Marlene ist es, an die er sein Herz verloren hat. All dies spielt sich vor der Kulisse eines von Aufständischen umkämpften und unruhigen Berlin ab; zwischen Kriegsmüdigkeit und Neubeginn.

Mit anspruchsvollem Duktus, dabei dennoch unterhaltsam führt Micaela A. Gabriel ihre Leserschaft durch die Geschichte und zeichnet anhand von zahlreichen Rückblicken insbesondere den beruflichen, aber auch den privaten Werdegang Marlenes und Sonjas nach. Mit ihrem anschaulichen Schreibstil gelingt es ihr eindrucksvoll, bewegte Bilder vor das geistige Auge des Lesers zu projizieren und ihn mitzunehmen in eine Zeit, in der Pferdehufe über das Kopfsteinpflaster donnerten und Automobile noch eine Rarität waren.

Mein Respekt gilt vor allem der aufwendigen Recherche, die Micaela A. Gabriel für ihr Buch betrieben hat. Die Autorin sagte in einem Online-Hintergrundgespräch mit einigen Bloggern, zu denen auch ich gehören durfte, sie sei eine gute Kundin des Online-Antiquariats ZVAB (Zentrales Verzeichnis Antiquarischer Bücher).

Und die Recherchearbeit dürfte auch aktuell noch einen Gutteil der Zeit der Autorin beanspruchen, denn „Die Frauen vom Reichstag“ ist als Trilogie angelegt. Teil 2 mit dem Titel „Die Frauen vom Reichstag – Ruf nach Veränderung“ erscheint am 16.08.2022 und führt die Leser mit der Protagonistin Sophie Maytrott von der Zentrumspartei zurück in das Jahr 1927. Im Fokus des dritten Teils der Parlamentarierinnen-Reihe „Die Frauen vom Reichstag – Schritte in eine neue Welt“ steht die SPD-Abgeordnete Paula Hagedorn im Jahre 1941. Dieser dritte und letzte Band erscheint am 15.11.2022. Eine echte Saga also über einflussreiche Frauen, die für ihre Sache einstehen.

Für mich steht fest, dass ich auch die kommenden beide Teile lesen werde. Die Figuren, die Micaela A. Gabriel entworfen hat, sind äußerst interessant und lebendig und ich bin schon sehr gespannt auf die kommenden Protagonistinnen. Nur an einigen wenigen Stellen erinnert der Roman an ein Sachbuch, nämlich dann, wenn politische Zusammenhänge einen Tick zu gewissenhaft geschildert werden.

Insgesamt ist „Die Frauen vom Reichstag – Stimmen der Freiheit“ eine Lektüre, die einen packt, lehrt, fabelhaft unterhält und nicht zuletzt daran erinnert, dass vieles, das wir heute als normal empfinden, noch vor gut einhundert Jahren alles andere als gang und gäbe war.