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MB
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Rösrath

Bewertungen

Insgesamt 442 Bewertungen
Bewertung vom 19.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


sehr gut

Ein Thriller ohne einer zu sein...
Die Geschichte des schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell - als unprätentiös geschildertes Heldenepos. J.B. Schmidt reiht sich mutig ein, haben sich doch bereits Friedrich Schiller und Max Frisch dieses Stoffes angenommen. Anders als bei Schiller beschränkt sich Schmidt auf einen zentralen Handlungsstrang und lässt uns zudem recht eindrücklich teilhaben am einfachen, bäuerlichen Leben; Kernthema des bäuerlichen Lebens ist das Überleben - das meint zum einen die todbringenden Gefahren der Natur und zum anderen die ausbeuterische und gewalttätige Herrschaft der Habsburger in der Mitte des 14. Jahrhunderts, hier in der Tell-Geschichte vertreten durch den Landvogt Gessler und seine Vasallen. Auch die Kirche ist in dieser Zeit kein sicherer Ort - den ungeschützten Kindern widerfährt der Missbrauch. Auf seine ganz spezielle Weise schildert Schmidt aber auch eine Zeitenwende. Nicht nur dass der Bauer Wilhelm Tell vom Tellhof den Landvogt im Nachgang des legendären Apfelschusses tötet und damit die Sehnsucht der Bauern nach einem Ende der Unterjochung schürt; auch der Landvogt selbst hegt bei Schmidt Zweifel an dem Sinn der Gewalt und entdeckt im Tode noch sein Menschsein, indem er an seine Tochter denkt, die er als Vater noch nicht zu Gesicht bekommen hat. Schmidt scheint es weniger darum zu gehen, Wilhelm Tell als einen Aufständigen zu beschreiben, vielmehr lässt er ihn einen Vater sein, der seine Familie behüten will. Das Vatersein ist hier die eigentliche Heldenrolle. Vater ist er in der Hauptsache gewesen - zum Helden erkärt hat man ihn erst später. Anfangs verwirren die vielen kurzen Kapiteln und die rasanten Perspektivwechsel. Aber schon bald mag man nicht mehr aufhören, sich von der Handlung und der wunderbaren Sprache bis zur letzten Seite vorantreiben zu lassen. Und das schafft ja ein guter Thriller.

Bewertung vom 19.02.2022
Kaiserstuhl
Glaser, Brigitte

Kaiserstuhl


sehr gut

Ein richtig guter Historienschmöker.
Brigitte Glaser ist es mit ihrem neuen historischen Roman "Kaiserstuhl" gelungen, mich bis zur letzten Seite zu fesseln - und das, obwohl ich eigentlich gar kein Freund dieses Genres bin. Die Aurorin hat es geschafft, mit einer gut komponierten Handlung und realistischen Figuren, die mmer auch mit inneren Konflikten ausgestattet sind, eine Zeit wiederauferstehen zu lassen, die nicht in Vergessenheit geraten darf: Den Beginn der 60-er Jahre, die Zeit des deutsch-französischen Freundschaftsvetrages (der Elysée-Vertrag von 1963, unterzeichnet durch Konrad Adenauer und Charles deGaulle), den Beginn des deutsch-französischen Jugendaustausches und der Städtepartnerschaft, die Geburtsstunde der Idee eines friedlichen und vereinten Europas (Dank an die Auitorin, dass sie im Nachwort so offen und direkt ihre Sorge über das Wiedererstarken der rechten und nationalistischen Kräfte in Europa äußert!) Es ist auch ein Roman über die Kultur der Zeit: Der Jazz ist eine Alternative zur konventionellen Musik geworden und die Nouvelle Vague erobert die Kinos. Hauptort der Handlung ist teffenderweise die französisch-deutsche Grenzregion des Elsass. Die Handlung ist intelligent rund um eine Flasche eines 1937-er Champagners aufgebaut. Liebe, Schuld, Kriegsverbrechen, die Resistance würzen den spannenden Handlungsverlauf. Und an einer Stelle lässt die Autorin einen ihrer Protagonisten denken: "Mit der Vergangenheit leben, trotz allem Weh und Aber, sie nicht leugnen, die Lehren nicht vergessen und dennoch den Blick nach vorne richten, das wär's." Recht hat sie! Leseempfehlung!!!

Bewertung vom 12.02.2022
Zum Paradies
Yanagihara, Hanya

Zum Paradies


gut

Das Buch braucht Zeit.
In Yanagiharas neuem Roman bekommen die Leser Einblick in drei Geschichten in völlig unterschiedlichen Welten. Eines haben alle drei gemeinsam: ein Stadthaus am Washington Square.
1893 versucht ein junger Mann inmitten seiner familiären Erwartungen und Regeln seinen eigenen Weg zu finden und auf dem Weg ins eigene Glück auszubrechen.
1993 lebt ein junger Hawaiianer mit einem älteren wohlhabenden Mann zusammen als ein Brief seines verstorben geglaubten Vaters seine Welt erschüttert und die tiefsten Geheimnisse seiner Vergangenheit aufrollt.
2093: Eine junge Frau, die in einem Amerika lebt, welches streng reglementiert und von unzähligen Pandemien und dem Klimawandel gezeichnet wurde. Das Internet ist verboten und jeder, der den Staat kritisiert wird unter Hochverrat zum Tode verurteilt.
Die durchgehend mitschwingende Frage: Schaffen die drei Protagonisten es ins Paradies?

Nach dem letzten großen Erfolg mit „Ein wenig Leben“, kann Hanna Yanagihara diese Erwartungen nicht noch einmal erfüllen. Die Autorin überzeugt mit ihrem fantastischen und durchdachten Schreibstil, schafft es jedoch nicht, den Leser in den gleichen Bann zu ziehen. Die Figuren sind nicht so nahbar, es fällt schwer mit ihnen zu fühlen, zu trauern und ihre Entscheidungen nachzuvollziehen. Vor allem die ersten beiden Geschichten haben viele Längen, viele Wiederholungen. Es kann sich keine Sympathie für die Figuren entwickeln
und fehlt es auch an Spannung.
Im dritten Teil fiebert der Leser (etwas widerwillig) mit, während er eine Dystopie kennenlernt, welche die Angst vor dem schürt, was noch auf die Menschheit zukommen könnte - vor allem mit der aktuellen Corona Pandemie als realistischem Beispiel.
Immer wieder kommen Fragen auf, wieso die Figuren der drei Geschichten die gleichen Namen tragen und inwieweit ein Zusammenhang zwischen den Geschichten hergestellt werden kann. Der große Zusammenhang bleibt jedoch offen.
Yanagihara schafft es dennoch, dass dieses dicke Buch nicht vor der letzten Seite weggelegt wird. Nicht zuletzt wegen des dritten Teils, der dann doch durch eine ganz besondere Spannung überzeugen kann.
Am Ende stellt sich eine Erleichterung ein, das Buch geschafft zu haben und sich wieder auf die Gegenwart besinnen zu können, mit der Hoffnung, dass es nur eine Dystopie bleibt und keine wirkliche Aussicht auf die Zukunft im Jahr 2093, einer vom Menschen zerstörten Welt.
Das Buch braucht Zeit.

Bewertung vom 12.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


ausgezeichnet

Ziemlich genial!
Die Konstruktion des Romans "Die Feuer" von Claire Thomas ist faszinierend! Der Ort der Handlung: Melbourne während der großen Brände. Die Zeit des Romans: Die Dauer eines Theaterstücks von Samuel Beckett, des großen Sinnleugners (die Handlung: Eine Frau, die im Verlauf des Stückes immer mehr versinkt - in einem Müllberg). Drei Frauen sinnieren während des Theaterstücks über ihr Leben (Themen: Klimakatastrophe, Identität, Herkunft, Rassismus, Älterwerden, die zunehmende Gewalt in der Welt und die daraus resultierende Verunsicherung, Demenz und Gewalt in der Beziehung, Sprachlosigkeit). Immer wieder fließt die Handlung auf der Bühne in den Erzähltext ein - jeweils aus der Perspektive einer der drei Frauen (die Literaturprofessorin Margot, die Kunstmäzenin Ivy und die Schauspielschülerin und Platzanweiserin Summer). In der Welt außerhalb des Theaters sind Existenz und Leben bedroht, weil, bedingt durch die Klimakatastrophe, die Feuer am Rande von Melbourne lodern. Im Theater: Die Krise als intellektueller Genuss und Zeit, um über das Leben nachzudenken. Außerhalb des Theaters: Die Klimakrise als existenzielle Gefährdung der Menschen und ihrer Welt. Die Inszenierung des Individuums in all seiner Kleinheit - gleichwohl stets auf der Suche nach individueller Bedeutung. Im Kontext einer Welt, die brennt und alles Leben bedroht. Und dabei: Nüchtern erzählt, die zunehmende Gewalt und den drohenden Tod in der Welt ausblendend, dafür der Sinnfrage auf der Theaterbühne nachgehend. Und dann die Idee der Autorin, die drei Frauen - zunächst unverbunden in der Vorstellung sitzend - in der Pause aufeinandertreffen zu lassen und dieses Kapitel im Textformat eines Theaterstückes zu schreiben. Genial! Das Leben ist ein großes Theater und somit immer auch Tragödie; was ist wichtiger: Die Sinnfrage oder die Überlebensfrage? War es bei Beckett auf der Bühne der Untergang des Einzelnen wegen eines existenziellen Sinnverlustes, geht es aktuell im wahren Leben um den möglichen Untergang des Menschen und den Existenzverlust. Unbedingt lesen!!!

Bewertung vom 12.02.2022
Die Gezeiten gehören uns
Vida, Vendela

Die Gezeiten gehören uns


ausgezeichnet

Leserausch!
Ein außergewöhnlicher Roman! Mit einem großen Feingefühl für Stimmungen beschreibt Vendela Vida die Beziehungsdynamik einer Clique von Teenagerinnen auf einer Privatschule für Mädchen in San Francisco mitte der 80-er Jahre. Der Anpassungsdruck ist hoch, Schuluniformen sorgen für Gleichförmigkeit, wo doch jede der Freundinnen irgendwie auch ein großes Bedürfnis nach Einzigartigkeit hat. Eulabees allseits bewunderte Freundin Maria Fabiola ist - frei nach Homer's Odysee - die Sirene in der Gruppe - schön, aus reichem Elternhaus und mit einem unstillbaren Aufmerksamkeitsbedürfnis ausgestattet. Als Eulabee bei einem Vorfall mit einem vermeintlichen Exibitionisten bei einer anschließenden Befragung eine andere Aussage macht, dass sie nämlich nichts Schändliches beobachtet habe, führt dies zum Ausschluss aus der Clique der 'besten Freundinnen'. Vendela Vida beschreibt die Jugend als eine Zeit, in der die Welt förmlich darauf wartet, erobert zu werden: "Wir versuchten bescheiden zu bleiben, aber wir waren Heldinnen." Durch den Ausschluss ist Eulabee zunächst auf sich selbst zurückgeworfen und wird gleichzeitig zu einer distanzierten Beobachterin des Geschehens. Als Maria im Rahmen einer weiteren Selbstinitiierung von einer angeblichen Entführung zurückgekehrt ist, erlebt Eulabee ihre Wiederaufnahme in die Clique - allerdings unter dem Druck, Marias aufmerksamkeitsheischende Geschichte teilen zu müssen. Erst viele Jahre später, in den 2020-ern, offenbart sich, was die Wahrheit hinter den Geschehnissen ist und die verführerische Kraft der Sirene Maria Fabiola entpuppt sich als Blendung und große, lebensbegleitende Selbstlüge. Selten habe ich einen Roman gelesen, der mir die verrückte Zeit der Jugend so nahe gebracht hat. Ein wunderbares Buch!

Bewertung vom 12.02.2022
Im Auge des Zebras / Olivia Holzmann Bd.1
Kliesch, Vincent

Im Auge des Zebras / Olivia Holzmann Bd.1


gut

Verwirrspiel...
"Liebe ist von außen betrachtet das Dümmste, was einem passieren kann." Dies ist eine der Kernerfahrung von Kommissarin Olivia Holzmann in Vincent Klieschs neuem Thriller 'Im Auge des Zebras'. Was Olivia natürlich in eine regelrechte Identitätskrise treibt; folgerichtig fragt sie sich gegen Ende, wie sie es denn schaffen soll, überhaupt Verbrechen aufzudecken, wenn sie noch nicht einmal bei ihrem neuen Traummann 'Muffi'(?) merkt, dass er sie nur manipuliert. Fühlt sie sich doch immer noch im Schatten des genialen Ex-Kollegen Bösherz, der seine Fälle stets mit seiner genialen Intuition und Kombinationsfähigkeit lösen konnte. Ein fulminant inszenierter Auftakt - ein an Zauberei grenzendes, magisches Verwirrspiel -, ein Verbrecherring mit einem gewieften Russen an der Spitze, der seine Fäden zieht und ganz viel weiß, was Olivia Holzmann weiter bringen könnte, sieben zeitgleich an verschiedenen Orten von einem Täter mit identischer DNA entführte Kinder, die von ihren Eltern an pädophile Erwachsene verkauft wurden; und die Zwillinge, als Kinder entführt und in letzter Sekunde gefunden, ein Fall der nie aufgeklärt werden konnte, aber irgendwie in Zusammenhang mit den aktuell entführten Kindern stehen muss; und dann selbstverständlich der Zeitdruck. Und nur der Autor weiß die Wahrheit... und läßt uns durch viele unvermutete Wendungen bis zum Ende hin Rätsel raten. Und immer wenn sich eine Tür zur Lösung hin geöffnet zu haben scheint, steht man bei dieser Geschichte vor zwei neuen Türen, die geöffnet werden wollen. Und manchmal ist der Täter greifbar nah, aber man merkt es nicht. Ein gut erzählter Thriller an der Grenze zum Unwahrscheinlichen - aber ganau das macht halt auch den Spannungsbogen aus. Ein Verwirrspiel, solide Kost.

Bewertung vom 06.02.2022
Manifesto. Warum ich niemals aufgebe. Ein inspirierendes Buch über den Lebensweg der ersten Schwarzen Booker-Prize-Gewinnerin und Bestseller-Autorin von »Mädchen, Frau etc.«
Evaristo, Bernardine

Manifesto. Warum ich niemals aufgebe. Ein inspirierendes Buch über den Lebensweg der ersten Schwarzen Booker-Prize-Gewinnerin und Bestseller-Autorin von »Mädchen, Frau etc.«


sehr gut

Ein wahres Manifest!
Die britische Autorin Bernardine Evaristo bezeichnet sich selbst als rebellische Autorin und freiheitsliebende Regelmissachterin - aus unterschiedlichen Perspektiven schreibend und über alle vermeintlichen Grenzen von Race, Kultur, Gender, Alter und sexueller Orientierung hinweg verschiedene Kulturen bewohnend. Die erste schwarze Booker-Prize-Trägerin, sich für mehr Diversität in der Literatur, insbesonder für die der People of Colour, einsetzend. Sie treibt ihre Persönlichkeits-entwicklung voran und ist politische Aktivistin; verfolgt mit viel positiver Energie ihre Vision einer Schriftstellerin. Evaristo ist Angehörige einer Generation, die den Wandel weg von der alltäglichen Diskriminierung hin zu mehr Respekt für People of Colour erlebt und mitgestaltet hat. Einer Familie entstammend, die es immer wieder geschafft hat, sich aktiv zu verändern, wenn die Lebensumstände unmöglich wurden, den Kontinent und die Kultur gewechselt haben, um sich ein neues Leben aufzubauen. Und im Sinne dieser familiären Vorgeschichte gestaltet die Autorin ihr Leben, sich nie selbst aufgebend und mit dem ihrer Vision entspringenden goßen Mut. "Ich bin süchtig nach dem Abenteuer des Geschichtenerzählens als meinem wirkmächtigsten Kommunikationsmittel." In sieben Kapiteln und sieben unterschiedlichen Lebensthemen setzt sich für uns Lesende das Bild einer außergewöhnlichen Autorin zusammen: Herkunft und Familiengeschichte, Ortswechsel, das Private und das Liebesleben, das Theater und das Schreiben, das aktive Tun für die persönliche Weiterentwicklung. Besonders schön auch das abschließende Bild: Zusammen mit Margaret Atwood bei der Booker-Prize-Verleihung im Jahre 2019. Ein ispierierendes Buch, was das Zeug hat, uns auch unser eigenes Leben als ein Manifest begreifen zu lassen.

Bewertung vom 30.01.2022
Unser wirkliches Leben
Crimp, Imogen

Unser wirkliches Leben


gut

Recht unterhaltsam...
Anna und Max - die gegensätzlicher nicht sein könnten... aber so ist das halt mit den Gegensätzen in der Liebe. Kann gut gehen - und dann ist es wunderbar; muss aber nicht gutgehen, und dann kommen die Zweifel. Anna, die Protagonistin, ist voller Ambivalenzen, bezogen auf ihr Verhältnis zu Männern und dem Sex und natürlich insbesondere bezogen auf Max, den sie zwar irgendwie zu lieben glaubt, sich aber nie so richtig sicher ist. Ambivalent in ihrem Verhältnis zu den eigenen Eltern: Fürsorge versus Unfreiheit. Ambivalent zwischen Hingabe und Autonomie, zwischen dem Streben nach Gleichberechtigung und Unterwürfigkeit. Ambivalent bezogen auf Laurie - zwar beste Freundin, die sich aber immer wieder unmöglich verhält. Zwar unabhängig sein, aber auch gefallen wollen. Anna will unbedingt Opernsängerin werden, ihr fehlt aber das Geld, um sich dies - wohnend in der Metropole London - über die für die Gesangskarriere notwendigen Ausbildungen auch wirklich leisten zu können. Von Seiten der Eltern kann sie nichts erwarten, von Max will sie eigentlich keine Unterstützung, nimmt sie dann aber doch. Und so hängt sie fest zwischen ihrem Karriereziel und der Beziehung zu Max, in der Finanzbranche arbeitend, der zudem ihr Singen nicht ganz so ernst zu nehmen scheint. Wir werden als Lesende durch einige Reibungspunkte in der Bezeihung der beiden geschleust, erleben Anna als eifersüchtig, erleben sie in einem Freundinnen-Talk, wo Dinge wie 'Waxing' und 'Free-bleeding' erörtert werden, und wie zu erwarten, klappt es mit der Karriere als Opernsängerin auch nicht ganz ohne Stolpersteine in Form von Konkurrentinnen, Selbstblockaden und mehr. Max will es einfach haben - Anna macht es eher kompliziert. Und da sind wir beim Knackpunkt des Buches, geschrieben in den Zweitausendzwanzigern von einer jungen Frau: Die Rollen im Roman sind erschreckend klischeehaft ausgelegt (der Selbstzweifel liegt natürlich bei den Frauen und nie bei den Männern; Frauen sind halt kompliziert statt vielmehr komplex...) - und das macht den Ablauf der Handlung auch so erwartbar. Aber vielleicht will einfache Unterhaltung auch nichts anderes als den Lesenden das zu präsentieren, was sie schon kennen.

Bewertung vom 29.01.2022
Dschinns
Aydemir, Fatma

Dschinns


ausgezeichnet

Ein Erdneben von Roman!
Eigentlich möchte ich gar nicht viel über das wunderbare Buch "Dschinns" von Fatma Aydemir erzählen und einfach nur sagen: Bitte lest es! Unbedingt! Eindringliche Sprache. Gelungene Komposition. Figuren, die mit Tiefe ausgestattet sind und eine Handlung, die von der ersten Seite an Tragödie ist. Wie anders sollte es auch sein, wenn der Familienvater Hüseyin, einem kurdischen Dorf entstammend, nach 30 Jahren auszehrender Arbeit und Anpassungsdruck in Deutschland sich für einen vorzeitigen Gang in die Rente auszahlen lässt und seiner Familie, bestehend aus vier mehr oder weniger erwachsenen Kindern und seiner Frau Enime eine Wohnung in Istanbul anschafft, dort in der bezugsfertigen Wohnung angekommen einen tödlichen Herzinfarkt erleidet. Dieses Ausgangsszenario ist die Bühne für den Auftritt der einzelnen Familienmitglieder mit ihren jeweiligen Gesachichten. Sie treffen sich anlässlich des Todes von 'Baba' in der neuen Wohnung, die sie nie beziehen werden. Schnell wird deutlich, dass es in der Familiengeschichte Geheimnisse gibt, dass das viele Ungesagte das Miteinander stört. Ein wahres Erdbeben erschüttert die Familie. Fängt es mit dem Tod des Familienoberhauptes an, so steht auch am Ende wieder der Tod, begleitet von Enimes Erkenntnis: "Weil Vergebung das Einzige ist, was gegen unsere Einsamkeit hilft. Weil anderen zu vergeben der einzige Weg ist, dass auch dir vergeben wird. Dass du dir selbst vergeben kannst." Und so steht am Ende auch die Hoffnung, dass es einen Weg aus der Sprachlosigkeit geben wird, die wie ein düsterer Schatten für Jahrzehnte über der Familie gelegen hat. Nur ist es am Ende zu spät. Fatma Aydemir gibt mit viel psychologischem Feingefühl jeder Figur dieses Familiendramas ihren eigenen Raum und eine eigene Sprache und versteht es in hervorragender Weise, uns Lesenden die Allwissenden-Rolle anzubieten, erfahren wir doch stets mehr über die einzelnen Familienmitglieder als jede/r der Protagonist:innen über die jeweils anderen weiß. Und so haben wir Seite für Seite düstere Vorahnungen, wohin sich die Geschichte entwickeln wird. Und natürlich fordert uns "Dschinns" (die Geister, die uns immer begleiten) auch heraus, darüber nachzudenken, wie wir seinerzeit mit den Menschen umgegangen sind und auch heute noch umgehen, die wir zum Arbeiten in unser Land geholt haben. Vielleicht waren ja Aufnahmebereitschaft, Respekt und Toleranz noch nie so richtig unsere Stärken!

Bewertung vom 24.01.2022
Der fürsorgliche Mr Cave
Haig, Matt

Der fürsorgliche Mr Cave


ausgezeichnet

Wahnsinn!
Matt Haig kennt sich aus mit der Psyche der Menschen! Und dies auch, wenn es um die tiefen, dunklen Winkel der Seele geht. Selten hat mir jemand mit einem Roman - der Geschichte des fürsorglich-besorgten Vaters Terence Cave, der nach einigen familiären Schicksalsschlägen seine 15-jährige Tochter Bryony vor den Gefahren der Welt bewahren will - ein Phänomen wie die 'wahnhafte Besessenheit' derart nahe gebracht, derart einfühlbar beschrieben. Die Geschichte ist eine Tragödie (in dem Bemühen um das Gute und Richtige das genaue Gegenteil bewirken) rund um die Themen Verlust, Schuld und Angst. Jeder Verlust ist auch eine Form der Gewalt, die einem das Leben antut; nur leider kann man es dem Leben nie zurückzahlen, was es einem angetan hat, man kann sich nicht am Leben rächen! Und so ist man - sofern die Bearbeitung des Verlustes nicht gelungen ist - in einer Ambivalenz zwischen Depression und Aggression gefangen. Und bei dem fürsorglichen Mr. Cave neigt es sich zur Aggression hin. In einem unvergleichlich subtilen Spannungsbogen erzählt Matt Haig von der schuldgetriebenen Fürsorglichkeit des Vaters Terence Cave, der versucht, alles beim Alten zu belassen, das Vergangene zu reparieren - dafür steht als deutliches Symbol der Job eines Antquitätenhändlers. Tochter Bryony aber ist dabei, zunehmend ihr eigenes Leben zu entdecken, wozu auch das Interesse für das andere Geschlecht zählt. Je mehr Terence versucht, seine Tochter zu beschützen, zu kontrollieren, desto mehr entzieht sie sich ihm. Terence ist irgendwann nicht mehr er selbst - es kommt zu zwischenzeitlichen Depersonalisationserlebnissen. Die unverarbeiteten traumatischen Verluste (Suizid der Mutter, Tod der Ehefrau bei einem Einbruch, tödlicher Unfall seines Sohnes, des Zwillingsbruders von Bryony) sind die Basis für eine zunehmende Angst und Panik, ausgelöst durch den gefühlten Verlust an Kontrolle über seine Tochter; und schlägt schließlich um in eine der Angstabwehr dienende Gewalt. "Das ist unsere Tragödie, stimmts? Wir alle wollen die Welt nach unseren Vorstellungen formen. Wir wollen, dass alles so gesehen wird, wie wir es sehen. Wir wünschen uns die Kontrolle darüber, was oder wer geliebt wird, und haben doch nicht einmal die Kontrolle über unseren eigenen Verstand." Die Geschichte hat die Form eines Berichts, in dem Terence Cave seiner Tochter Bryony seine Sicht der Ereignisse erzählt, versucht, sein Handeln verstehbar zu machen - bis zum bitteren Ende. Fantastischer Roman. Wahnsinn! Nur: Wer auch immer das Buchcover gestaltet haben mag, hat den Roman entweder nicht gelesen, oder nicht verstanden, so lieblich wie es gestaltet ist - in der Geschichte geht es nämlich um weit mehr als um einen 'goldenen Käfig' der zu einem Gefängnis wird.