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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 936 Bewertungen
Bewertung vom 26.01.2021
Consummatus
Lewitscharoff, Sibylle

Consummatus


sehr gut

Nichts für tote Leser

Mit «Consummatus» als Titel ihres Romans zitiert Sibylle Lewitscharoff die Bibel, ‹consummatus est› waren die letzten Worte von Jesus am Kreuz. Weniger bildungssprachlich also wäre auch ‹Der Vollendete› ein passender Titel gewesen für diesen postmodernen Roman der ‹schwäbischen Pietistin›, die für intellektuell hochstehende Werke bekannt ist und ihren Lesern hier einen verblüffenden Einblick ins Reich der Toten gewährt.

Am Vormittag des 3. April 2004 sitzt der 55jährige Deutschlehrer Ralph Zimmermann sinnierend im Café Rösler in Stuttgart. Die konfusen Gedanken des Ich-Erzählers kreisen unaufhörlich um zwei tragische Todesfälle. Da ist einerseits der Flugzeugabsturz in Tansania, als eine DC-3 beim Sightseeing-Rundflug am Kilimandscharo abstürzte und seine Eltern mit in den Tod riss. An dem zweiten Todesfall, der seine Gedanken bestimmt, gibt er sich sogar eine Mitschuld. Ralphs große Liebe, seine 48jährige Freundin Joey, eine exaltierte Rocksängerin, war bei einer Fahrt in Frankreich mal wieder genervt aus dem Auto gesprungen. Als er rückwärts fuhr, um sie wieder einzusammeln, war sie im toten Winkel, für ihn unsichtbar, unter den Tourneebus der Musikband geraten. Sie hätte ihm ganz leicht, mit einem einzigen Schritt, ausweichen können, - für die Polizei war er unschuldig. In einer breit angelegten Totenklage berichtet Ralph, der vor vier Jahren selbst eine Nahtod-Erfahrung hatte, von seiner Jenseitsfahrt ins Reich der Toten und wieder zurück, ein durch viele Wodkas beflügelter Sprung ins Schwarze Loch, aus dem er Jesus immerfort lachen hörte.

Die Autorin erzählt ihre Geschichte als inneren Monolog. Ihr Protagonist erscheint dabei als ausgeglichener, gutmütiger Mann, der meist als aufmerksamer Beobachter des Geschehens fungiert. Dabei führt er viele Gespräche mit den Bewohnern des Totenreichs, die ihm zwar antworten, die aber, obwohl er sie deutlich erkennen kann, als Körperlose unberührbar sind für ihn. Zu seinen überirdischen Begegnungen zählen außer seinen Eltern und Joey auch Musiker wie Jim Morrison von den Doors oder der Pop-Art-Künstler Andy Warhol, ferner Dichter und Denker von Goethe, Hölderlin oder Lessing bis zu Siegmund Freud, ergänzt um eine riesige, bunt gemischte Schar anderer Personen der Zeitgeschichte. Drucktechnisch sind alle Stimmen aus dem Totenreich grau abgesetzt, sie verblassen gewissermaßen gegenüber dem Schwarz des diesseitigen Textes. Zu den grafischen Gags gehört auch ein kabbalistisches Spiel, die Nummerierung der 16 Kapitel mit einem magischen Zahlenquadrat der Kantenlänge vier, in dem die Summe der Zeilen und Spalten von jeweils vier Zahlen und der beiden Diagonalen die Zahl 34 ergibt, das Lebensalter von Jesus Christus. Im sechzehnten Kapitel dann, in dem Ralph nachmittags aus dem Café ins Schneegestöber hinaustritt, symbolisieren absatzweise statt Buchstaben als Sonderzeichen schwebende Schneekristalle das Nebelhafte seiner Grübeleien ebenso wie seinen inzwischen bedenklichen Wodkapegel.

Es ist zweifellos gewagt, was die Autorin da an oft zusammenhanglosen Gedanken zu einer bedeutungsschweren Erzählung kompiliert hat, deren Kennzeichen die vielen surrealen Metaphern sind. Ohne Zweifel aber ist dieser fraktionell angelegte Roman ironisch gemeint, stehen doch den oft verworrenen Gedankengängen seines Helden als Korrektiv meist die Jenseitsstimmen gegenüber. Erstaunlich auch und amüsant ist der virtuose Umgang der Religions-Wissenschaftlerin mit dem Glauben und seinen Verkündern, die sie schnippisch schon mal als ‹Jenseitsberater› bezeichnet. Nicht weniger als die gesamte Schöpfung steht zur Debatte bei diesem skurrilen Ausflug in den Hades, dessen Rezeption im Feuilleton durchaus gegensätzlich ausfiel. Sei’s drum, diesen intellektuell anspruchsvollen Roman der blitzgescheiten Schwäbin sollte man gelesen haben. Denn wer sich nicht dafür interessiere, der sei «wahrscheinlich schon tot und habe es nur noch nicht gemerkt», hat Denis Scheck süffisant angemerkt.

Bewertung vom 23.01.2021
Die Leben der Elena Silber
Osang, Alexander

Die Leben der Elena Silber


weniger gut

Vielschichtiges Panorama

In seinem Opus magnum «Die Leben der Elena Silber» erzählt Alexander Osang die fünf Generationen umfassende Geschichte einer russisch-deutschen Familie, beginnend 1905 im zaristischen Russland und endend im Jahre 2017 im heutigen Deutschland. Der autobiografisch grundierte Roman deutet schon im Titel auf ein bewegtes Leben seiner Protagonistin hin, wobei ihr Enkel Konstantin aus der Jetztzeit als narrativer Gegenpol fungiert.

Und wild bewegt beginnt es auch gleich im ersten Satz, Viktor Krasnow wird 1905 als Revolutionär von einem Lynchmob auf offener Straße gepfählt. In Todesangst, alles stehen- und liegenlassend, flieht seine Frau mit den zwei Kindern aus dem kleinen Ort nach Nischni Nowgorod. Zwölf Jahre später hat sich das Blatt gewendet, die Bolschewisten haben die Macht übernommen, die Mutter kehrt rehabilitiert nach Gorbatow zurück. Sie heiratet wieder, Tochter Jelena aber ergreift später die erstbeste Gelegenheit, aus den bedrängenden Verhältnissen herauszukommen, indem sie einen deutschen Ingenieur ehelicht, den Lenins Pläne zum Aufbau der Wirtschaft ins Land gelockt haben, Robert Silber. Sie haben fünf Kinder, alles Mädchen, von denen das jüngste schon als Kleinkind stirbt. Die Familie geht, als sich die politische Lage zuspitzt, 1936 nach Berlin und überlebt dann den Zweiten Weltkrieg in Roberts schlesischer Heimat. Im Chaos der Nachkriegszeit verschwindet Robert spurlos, die unter dem Namen Elena eingedeutschte Mutter landet auf der Flucht vor der Roten Armee auf Umwegen schließlich wieder in Berlin. Sie durchlebt politisch also Zarenreich, Kommunismus, Nazidiktatur, DDR und Wende, ehe sie 1995 hochbetagt stirbt. Einer ihrer Enkel, der in einer Schaffenskrise steckende Filmemacher Konstantin, beginnt mehr als zwanzig Jahre nach Elenas Tod, seine Mutter und deren drei Schwestern nach den wahren Hintergründen der Familien-Geschichte zu befragen. Denn in der ist manches ungeklärt, vor allem das Verschwinden von Robert Silber. Er steigert sich immer mehr in seine Recherchen hinein, reist am Ende sogar mit seinem Cousin nach Gorbatow, ohne aber wirklich Licht ins Dunkle bringen zu können.

Einiges in diesem Roman ist historisch belegt, dazu gehört vor allem die Ermordung des Ahnherrn als Initial-Ereignis. Die fiktiven Ausschmückungen betreffen vor allem die weitverzweigte Familie mit ihren persönlichen Schicksalen. In 28 Kapiteln, zeitlich vor und zurück springend, wird abwechselnd aus den Perspektiven Elenas und Konstantins erzählt. Das üppige Figuren-Ensemble wird beherrscht von Elenas vier exzentrischen Töchtern, wobei unklar bleibt, inwieweit ihre wechselvolle Lebensgeschichte sie so geformt hat. Äußerst farblos als Figur ist Konstantin, der die Suche nach sich selbst, wenig überzeugend, durch seine Recherchen vorantreiben will. Hinzu gesellt sich eine schier unübersehbare Menge bis ins Detail beschriebener Randfiguren.

Das Problem russischer Namen schließlich mit ihren diversen Koseformen und Varianten wird hier zwar ein wenig durch Hilfsmittel wie Personenregister und Stammbaum gemildert, stört den Lesefluss aber trotzdem, insbesondere in Verbindung mit den ständigen Zeitsprüngen. Störend sind mit der Zeit auch die vielen Wiederholungen, selbst wenn sie zuweilen mithelfen, den Überblick zu behalten. In einer journalistisch knappen Sprache erzählt der Autor, Alter Ego seiner Figur Konstantin, ein mit Songtexten, Filmquiz und Literaturzitaten angereichertes Epos mit dem Ziel, aus dem historischen Wirrwarr einen Sinn heraus zu destillieren. Seine vergeblichen Nachforschungen münden in die ernüchternde Erkenntnis: «Die Menschen erinnern sich nur an das, was in ihre Lebensgeschichte passt». Unwillkürlich erwartet man nach all den unergiebigen Recherchen aber doch eine Klärung, was denn nun mit Robert Silber geschah, die zum Ende hin steigende Spannung wird aber schmählich enttäuscht. Denn anders als die Pointe beim Witz steht hier der dramaturgische Höhepunkt gleich im ersten Satz!

Bewertung vom 19.01.2021
Radetzkymarsch
Roth, Joseph

Radetzkymarsch


ausgezeichnet

Psychologische Untergangsstudie

Der nach einer Komposition von Johann Strauss benannte «Radetzkymarsch» ist das Opus magnum des österreichischen Schriftstellers Joseph Roth. Der Roman, 1932 erschienen, wird als sein bedeutendstes Werk angesehen. In seiner drei Generationen umfassenden Geschichte beschreibt er, vor dem Hintergrund des Untergangs der Habsburger Monarchie, Aufstieg und Fall dreier Männer, deren Schicksal eng mit dem geliebten Vaterland zusammenhängt, Großvater, Vater und Sohn der Familie Trotta. Ein militärisch geprägtes Epos, in dem der Autor die obrigkeitshörige k.u.k. Monarchie eindrucksvoll demaskiert.

In der Schlacht von Solferino rettet Joseph Trotta 1859 dem jungen Kaiser Franz Joseph das Leben, als er ihn bei überraschend einsetzendem Beschuss geistesgegenwärtig zu Boden reißt, die feindliche Kugel trifft ihn selbst. Er wird daraufhin in den Adelsstand erhoben, zum Hauptmann befördert und fortan als «Held von Solferino» gefeiert. Als er später im Schulbuch seines Sohnes eine falsche, plump heroisierende Darstellung des historischen Geschehens entdeckt und sich vergeblich darüber beschwert, verlässt er enttäuscht die Armee und verbietet dem Sohn, zum Militär zu gehen. Der macht daraufhin Karriere als Beamter und wird schließlich zum Bezirkshauptmann ernannt. Dessen Sohn Carl Joseph wiederum geht nach einer strengen Erziehung durch den kaisertreuen Vater innerlich widerstrebend zum Militär. Er ist nämlich, ganz anders als sein heroischer Großvater, alles andere als ein schneidiger Soldat. Nach einem Zwischenfall wird der eher lebensuntüchtige Leutnant in ein an der russischen Grenze stationiertes Jäger-Bataillon versetzt. Dort gerät er in eine gelangweilte Offiziersclique hinein, die sich ihr Leben mit Alkohol und Glücksspiel erträglich macht. Gutmütig hilft er seinen Freunden immer wieder aus ihren Geldnöten heraus. Bis schließlich seine leichtsinnig angehäuften Schulden ihm selbst zum Verhängnis werden und er den Dienst quittieren muss. Er bleibt nicht lange Zivilist, denn mit der Ermordung des Thronfolgers taumelt die Donau-Monarchie in den Ersten Weltkrieg hinein, er wird zum Kriegsdienst eingezogen.

Joseph Roth schildert ein verstörendes Bild des damaligen Lebens, das durch eine beklemmende Rigidität gekennzeichnet ist. Dazu gehört die unbedingte Kaisertreue ebenso wie das verlogene Ethos von Pflichterfüllung und Ehre sowie die offensichtliche Dekadenz des dominanten, meist adligen Offiziersstandes, der, aufgeputzt in bunten Parade-Uniformen und mit klirrendem Säbel, sein Unvermögen und jegliches Ungemach stets geschickt zu vertuschen versteht. Auch die aufgeblähte Bürokratie wird als faul und unfähig dargestellt. Die vielbeschworene Einigkeit des Vielvölkerstaates aus Österreichern, Ungarn, Slowenen, Tschechen, Rumänen, Kroaten und anderen Sprachgruppen, ergänzt um scheel angesehene Juden, entpuppt sich sehr schnell als Illusion, als der Krieg ausbricht und die verschiedenen Volksgruppen sich urplötzlich gegenseitig massakrieren.

Der dreiteilige Roman, leitmotivisch durch den Radetzkymarsch gekennzeichnet, ist in einer angenehm lesbaren und erfreulich unprätentiösen Sprache geschrieben, die das mit stimmigen Dialogen vorangetriebene Geschehen anschaulich schildert. Die Protagonisten sind auf die drei Trottas reduziert, Frauen spielen so gut wie keine Rolle in dieser Männerwelt. Sie treten allenfalls als ergänzendes Beiwerk in Erscheinung, aber nur für ein paar wenige Seiten. Dramaturgisch äußerst gekonnt wird am Schluss ein pompöses Fest der Garnison gefeiert, dessen Verlauf nicht nur vom Gewitter gestört wird. Wie eine Bombe nämlich platzt die Nachricht aus Sarajewo in die Festgesellschaft hinein und löst bereits erste Feindseligkeiten aus. Ohne Zweifel gehört diese melancholische Rückschau als feinfühlige, psychologische Studie auf ein dem Untergang geweihtes, europäisches Staatswesen zu den kanonischen Meisterwerken in deutscher Sprache, das zu lesen sich unbedingt lohnt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.01.2021
Maghrebinische Geschichten
Rezzori, Gregor von

Maghrebinische Geschichten


gut

Im Drogensumpf

Das seinerzeit vielbeachtete Romandebüt «Adler und Engel» der Schriftstellerin Juli Zeh hat 2001 weithin Anerkennung gefunden. Inzwischen sind sieben weitere Romane von ihr erschienen, von allen erweist sich ziemlich eindeutig «Unterleuten» als ihr bisher bester, der Hype um den Erstling ist heute kaum mehr nachvollziehbar. Die journalistisch tätige und politisch engagierte Volljuristin ist durch Fernsehauftritte auch außerhalb des Lesepublikums bekannt, seit 2019 ist sie ehrenamtlich Richterin am Verfassungsgericht in Brandenburg. Ihre juristische Expertise nutzend ist der Protagonist ihrer melancholischen Geschichte denn auch prompt ein Karriere-Jurist.

Ich-Erzähler Max, der picklige, 33jährige Leiter der Leipziger Dependance einer Wiener Anwaltskanzlei, seit zwei Jahren mit seiner fünf Jahre jüngeren Jugendliebe Jessi zusammenlebend, erleidet ein fürchterliches Trauma. Während eines Telefonats mit der psychisch kranken Kindfrau droht sie damit, sich zu erschießen. Und tut es tatsächlich auch gleich, sie schießt sich, den Hörer in der Hand, mit einer Pistole in den Kopf. Völlig aus der Bahn geworfen, weil es ihm nicht gelungen ist, sie aus ihren ständigen Angstzuständen zu befreien, wirft er seinen gutdotierten Job hin. Er schnupft Kokain in selbstzerstörerischen Mengen und ruft schließlich verzweifelt bei einer mitternächtlichen Radiosendung an, wo live Gespräche mit aus der Bahn Geworfenen wie ihm geführt werden. Die toughe Moderatorin Clara ist sehr an seiner Geschichte interessiert, sie würde gern ihre Diplomarbeit darüber schreiben. Es gelingt ihr, ihn zu einer Reise nach Wien zu überreden, wo sie in der Nähe ein unbewohntes Bauernhaus besitzt, in dem er, vom Außenleben abgeschirmt, seine abenteuerliche Geschichte auf Band sprechen soll.

Zweisträngig wird in wilden Zeit- und Ortsprüngen abwechselnd die turbulente Vorgeschichte mit Jessi erzählt sowie die von Max und Clara bei ihrem Versuch, das Vergangene zu rekonstruieren. Jessi war die Tochter eines Drogenbosses, der den Schmuggel auf der Balkanroute und dann weiter mit Schnellbooten über die Adria organisiert hat. Dieser thrillerartige Plot verblüfft durch seine einfallsreichen Wendungen, die den Leser sehr häufig in seinen Erwartungen ziemlich überraschen. Juli Zeh erzählt ihre Geschichte in einer unterkühlten, sachlichen Sprache. Der in zwei mit Leipzig und Wien betitelte Abschnitte unterteilte Roman ist akkurat in 32 Kapitel aufgeteilt, was die Orientierung ein wenig erleichtert. Denn geradezu irrwitzig faselt Max in der Erzählung auch noch häufig im Kokain-Delirium, man ist nie ganz sicher, was davon real ist und was phantasiert.

Die Autorin hätte besser daran getan, ihren verzwickten Plot mit seiner unterschwelligen Kapitalismus-Kritik deutlich zu straffen, insbesondere die zu nichts hinführenden Nebenstränge der Handlung zu Gunsten einer stringenten Schilderung der eigentlichen Story einfach wegzulassen. Denn gerade diese überflüssigen Umwege und erzählerischen Sackgassen bewirken eine zunehmende Ermüdung beim Lesen, weil wenig passiert und man sich bald schon sehr langweilt. Die Figuren sind als Charaktere allesamt wenig glaubwürdig und tragen absolut nichts dazu bei, als Sympathieträger Aufmerksamkeit oder gar Interesse zu erwecken. Besonders störend ist, dass die drei Protagonisten Max, Jessi und Clara als menschliche Wracks dargestellt sind. Wobei Clara erst im Verlauf der Geschichte dazu wird, - warum, das bleibt völlig offen. Sie sind gleichermaßen von ständigen Schmerzen geplagt und dauerhaft bekifft, essen kaum etwas, kotzen häufig und vegetieren in einer ekelerregenden Umgebung dahin. Durch permanentes Chaos wird ein Unbehagen erzeugt, welches das Lesen zunehmend unliebsam, teils schon fast lästig werden lässt. Und allzu vieles in der Erzählung bleibt unplausibel oder völlig sinnfrei. Man könnte fast auf die Idee kommen, dass dieser eiskalte Drogenthriller in einem halluzinatorischen Rausch geschrieben wurde, wirr und irreal.

Bewertung vom 15.01.2021
Adler und Engel
Zeh, Juli

Adler und Engel


schlecht

Im Drogensumpf

Das seinerzeit vielbeachtete Romandebüt «Adler und Engel» der Schriftstellerin Juli Zeh hat 2001 weithin Anerkennung gefunden. Inzwischen sind sieben weitere Romane von ihr erschienen, von allen erweist sich ziemlich eindeutig «Unterleuten» als ihr bisher bester, der Hype um den Erstling ist heute kaum mehr nachvollziehbar. Die journalistisch tätige und politisch engagierte Volljuristin ist durch Fernsehauftritte auch außerhalb des Lesepublikums bekannt, seit 2019 ist sie ehrenamtlich Richterin am Verfassungsgericht in Brandenburg. Ihre juristische Expertise nutzend ist der Protagonist ihrer melancholischen Geschichte denn auch prompt ein Karriere-Jurist.

Ich-Erzähler Max, der picklige, 33jährige Leiter der Leipziger Dependance einer Wiener Anwaltskanzlei, seit zwei Jahren mit seiner fünf Jahre jüngeren Jugendliebe Jessi zusammenlebend, erleidet ein fürchterliches Trauma. Während eines Telefonats mit der psychisch kranken Kindfrau droht sie damit, sich zu erschießen. Und tut es tatsächlich auch gleich, sie schießt sich, den Hörer in der Hand, mit einer Pistole in den Kopf. Völlig aus der Bahn geworfen, weil es ihm nicht gelungen ist, sie aus ihren ständigen Angstzuständen zu befreien, wirft er seinen gutdotierten Job hin. Er schnupft Kokain in selbstzerstörerischen Mengen und ruft schließlich verzweifelt bei einer mitternächtlichen Radiosendung an, wo live Gespräche mit aus der Bahn Geworfenen wie ihm geführt werden. Die toughe Moderatorin Clara ist sehr an seiner Geschichte interessiert, sie würde gern ihre Diplomarbeit darüber schreiben. Es gelingt ihr, ihn zu einer Reise nach Wien zu überreden, wo sie in der Nähe ein unbewohntes Bauernhaus besitzt, in dem er, vom Außenleben abgeschirmt, seine abenteuerliche Geschichte auf Band sprechen soll.

Zweisträngig wird in wilden Zeit- und Ortsprüngen abwechselnd die turbulente Vorgeschichte mit Jessi erzählt sowie die von Max und Clara bei ihrem Versuch, das Vergangene zu rekonstruieren. Jessi war die Tochter eines Drogenbosses, der den Schmuggel auf der Balkanroute und dann weiter mit Schnellbooten über die Adria organisiert hat. Dieser thrillerartige Plot verblüfft durch seine einfallsreichen Wendungen, die den Leser sehr häufig in seinen Erwartungen ziemlich überraschen. Juli Zeh erzählt ihre Geschichte in einer unterkühlten, sachlichen Sprache. Der in zwei mit Leipzig und Wien betitelte Abschnitte unterteilte Roman ist akkurat in 32 Kapitel aufgeteilt, was die Orientierung ein wenig erleichtert. Denn geradezu irrwitzig faselt Max in der Erzählung auch noch häufig im Kokain-Delirium, man ist nie ganz sicher, was davon real ist und was phantasiert.

Die Autorin hätte besser daran getan, ihren verzwickten Plot mit seiner unterschwelligen Kapitalismus-Kritik deutlich zu straffen, insbesondere die zu nichts hinführenden Nebenstränge der Handlung zu Gunsten einer stringenten Schilderung der eigentlichen Story einfach wegzulassen. Denn gerade diese überflüssigen Umwege und erzählerischen Sackgassen bewirken eine zunehmende Ermüdung beim Lesen, weil wenig passiert und man sich bald schon sehr langweilt. Die Figuren sind als Charaktere allesamt wenig glaubwürdig und tragen absolut nichts dazu bei, als Sympathieträger Aufmerksamkeit oder gar Interesse zu erwecken. Besonders störend ist, dass die drei Protagonisten Max, Jessi und Clara als menschliche Wracks dargestellt sind. Wobei Clara erst im Verlauf der Geschichte dazu wird, - warum, das bleibt völlig offen. Sie sind gleichermaßen von ständigen Schmerzen geplagt und dauerhaft bekifft, essen kaum etwas, kotzen häufig und vegetieren in einer ekelerregenden Umgebung dahin. Durch permanentes Chaos wird ein Unbehagen erzeugt, welches das Lesen zunehmend unliebsam, teils schon fast lästig werden lässt. Und allzu vieles in der Erzählung bleibt unplausibel oder völlig sinnfrei. Man könnte fast auf die Idee kommen, dass dieser eiskalte Drogenthriller in einem halluzinatorischen Rausch geschrieben wurde, wirr und irreal.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.01.2021
Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde
Klabund, Alfred Henschke

Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde


sehr gut

Für echte Leser

Was kann einen heutigen Leser dazu bewegen, ein Fachbuch wie «Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde» von Alfred Henschke zu lesen, besser bekannt unter seinem Synonym Klabund. In dem 1920 erstmals erschienenen Büchlein von gerade mal hundert Seiten erklärt er gleich im ersten Satz: «Diese kleine Literaturgeschichte verfolgt weder philosophische noch philologische Absichten». Volker Weidermann liefert das Vorwort zu dieser aktuellen Ausgabe von Klabunds literarischen Betrachtungen, im Klappentext feiert er es als «das subjektive Begeisterungsbuch eines echten Lesers».

«Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart» lautet der Untertitel, und so beginnt Klabund mit dem um das Jahr 800 entstandenen ‹Wessobrunner Gebet› als ältestem Zeugnis deutscher Dichtung. Weiter über das Nibelungenlied und die Minne eines Walther von der Vogelweide beleuchtet der Autor nach der Ritterpoesie, den Dichtern der Mystik und der Hinwendung zu den Volksmärchen dann das Aufkommen von Meistersinger-Schulen und das Genre der Eulenspiegeleien. Die sich anbahnende Abkehr vom Latein durch Luthers Bibelübersetzung schließlich «kann nicht überschätzt werden. Es ist, als hätte Luther die neue deutsche Sprache erst geschaffen». Die Wirkung des Dreißigjährigen Kriegs auf die Literatur, Grimmelshausen sei genannt, wird ebenso besprochen wie die Epoche des ‹Sturm und Drang›. Zum Einfluss von Herder merkt er an: «Die Kunstdichtung kann nur auf dem Acker der Volksdichtung gedeihen». Schiller und Goethe widmet er, wen wundert’s, die umfangreichsten Passagen seiner Literaturgeschichte, um sich dann der Romantik zuzuwenden mit Jean Paul, Hölderlin, Novalis, Eichendorf und anderen. Mit den Befreiungskriegen entsteht schließlich eine politische Dichtung, für die insbesondere Heine symptomatisch sei, den er mit den melancholischen Worten zitiert: «Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser – freilich / Das Beste wäre nie geboren sein». Es folgt der pfarrhausnahe schwäbische Dichterkreis, dessen Philisterhaftigkeit Klabund anprangert. Uhland, Hebbel und Mörike, um nur einige zu nennen, werden ausführlich besprochen. Es folgt Fontane, der es zu einiger Berühmtheit gebracht habe, «nicht aber wegen seiner großen Kunst der Milieu- und Menschen-Schilderung, sondern wegen seiner stofflichen Vorwürfe», wofür ‹Der Stechlin› als typisches Beispiel genannt wird. Das Buch endet schließlich mit der deutschen Literatur im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, wobei Thomas Mann in zwei Sätzen abgehandelt wird.

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein derart ambitioniertes Vorhaben anfechtbar ist. So mancher Germanist dürfte sich die Haare raufen wegen der nassforschen Art, wie Klabund hier mit seinem Studiengebiet umgeht. «Philologische Absichten» aber hat Klabund ja, wie wir wissen, definitiv ausgeschlossen, das müsste doch auch allen heutigen Kritikastern klar sein. Gerade wegen seiner Kürze hat ein solches Buch schließlich überhaupt erst eine Chance, für ein breiteres Lesepublikum goutierbar zu sein. Dicke wissenschaftliche Wälzer über deutsche Literatur gibt es zuhauf, die meisten aber verstauben, nur von wenigen Insidern in ihren akademischen Zirkeln je gelesen, ziemlich nutzlos in ständig weiter auswuchernden Archiven.

Ohne Zweifel ist dieses Buch äußerst kenntnisreich geschrieben, es teilt aber in seiner Subjektivität das Schicksal aller Kritiker, nicht in allem und immer jedermanns Zustimmung zu finden. Wie sollte das auch gehen, man erinnere sich nur an Marcel Reich-Ranicki, den Prototyp des subjektiven Rezensenten. Um auf Weidermanns «echten Leser» zurückzukommen, für den ist damit schon das Stichwort gegeben: Wer sich also über den Horizont seiner Lieblings-Lektüre hinausgehend für die Grundlagen der 24-Buchstaben-Kunst interessiert, dem sei dieses lehrreiche Büchlein empfohlen. Denn es bereichert nicht nur kenntnisreich, es bietet mit seiner etwas pathetischen Sprache zuweilen eine amüsante, immer aber sehr unterhaltsame Lektüre.

Bewertung vom 06.01.2021
Jahrestage 1-4
Johnson, Uwe

Jahrestage 1-4


ausgezeichnet

Mega-Roman im Intervall

Mit seinem Epos «Jahrestage» hat Uwe Johnson den Versuch unternommen, Realität verlustfrei in Sprache zu transferieren. Wie der Untertitel verrät, dient ihm dabei das Leben seiner Protagonistin Gesine Cresspahl als Spiegel für eine großangelegte Gesellschaftsstudie, in der er zu dem Ergebnis kommt, dass allen äußeren Widerwärtigkeiten zum Trotz der Mensch letztendlich seine seelische Integrität durchaus zu bewahren vermag. Der erste Teil des vierbändigen Werkes erschien 1970, der letzte 13 Jahre später. Man kann das systemkritische Hauptwerk von Uwe Johnson als engagierte Suche nach dem richtigen Leben deuten.

Der in 366 Tageskapitel eingeteilte Roman stellt eine subjektive Jahreschronik dar, vom 19.8.1967 bis zum 20.8.1968, den Schalttag eingeschlossen, ein Weltjahr also, wie es Siegfried Unselt formuliert hat. Ort der Handlung ist New York, Johnson lässt die 34jährige Gesine, die dort bei einer Bank arbeitet, mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie im Apartment 204, 243 Riverside Drive, Manhattan wohnen, seine eigene Wohnadresse während seines zweijährigen Aufenthalts. Eine zweite Erzählebene bildet die fiktive Kleinstadt Jerichow in Mecklenburg, aus der Gesine 1953 während der DDR-Zeit in den Westen flüchtete, ehe sie dann 1961 nach New York ging. Neben der Hauptfigur und ihrer altklugen Tochter als Zuhörerin fungiert der Autor in Person als Protokollant ihrer Erzählungen. Als zweite Erzählinstanz tritt er zuweilen in Dialogen mit Gesine auf, die nicht immer friedlich verlaufen. «Wir können auch heute noch aufhören mit deinem Buch» hält sie ihm an einer Stelle entgegen. Quasi eine dritte Erzählinstanz ist die für Gesine unentbehrliche New York Times, ihre tägliche Pflichtlektüre, aus der im Roman tagebuchartig in beinahe allen Kapiteln zitiert wird. Nicht nur dass die Zeitung als seriöse Zeitzeugin die politischen und sozialen Themen zur Handlung beisteuert, der Autor vermittelt damit auf raffinierte Weise auch Authentizität.

Häufig unterbrochen durch Fragen der wissbegierigen Marie erzählt Gesine unermüdlich aus ihrem bewegten Leben und aus dem ihrer Vorfahren. Wobei, wie es der Untertitel «Aus dem Leben von Gesine Cresspahl» schon relativiert, all diese Rückblenden nie wirklich vollständig sein können. Der zeitliche Rahmen der Erzählungen reicht von Gesines Geburtsjahr 1933 mit der Machtergreifung der Nazis über das Kriegsende mit der gefürchteten Roten Armee in Mecklenburg, das nachfolgende sozialistische Paradies der DDR, die gefährliche Epoche des Kalten Krieges und den Vietnamkrieg bis hin zum Prager Frühling. Der Roman endet mit dem 20. August 1968, an dem die Russen den Reformen von Alexander Dubček ein Ende setzten. Zum persönlichen Schicksal von Gesine gehört neben dem frühen Tod ihrer Eltern auch der politisch bedingte Tod von Maries Vaters, über den sie untröstlich ist. Sie hat sich in eine Art inneres Exil zurückgezogen und lebt weitgehend in ihren Erinnerungen, die sie nach dem Motto «… für wenn ich tot bin» auch auf Tonband spricht.

In einer Art Collage werden persönliche Erinnerungen mit Zeitungsausschnitten, Briefen und Dialogen zu einer Erzählung zusammengefügt, die geradezu fanatisch nach Wahrheit strebt. Sprachlich ist der Roman durch eine äußerst präzise Beschreibungskunst gekennzeichnet, deren parataktischer Satzbau sich zielgerichtet aufs Wesentliche konzentriert. Neben etlichen Einsprengseln in Platt finden sich darin ganze Passagen in Englisch, Französisch und anderen Sprachen bis hin zu Russisch. Man kann hier mit Recht von einem Sprachkunstwerk reden, dessen schwierige Lektüre allerdings, nicht nur vom schieren Seitenumfang her, einiges an Durchhalte-Vermögen voraussetzt. Dieser collageartig aufgebaute Mega-Roman eignet sich aber auch ideal zum sequentiellen Lesen, immer wieder mal hundert Seiten im Intervall. Es gibt in ihm ja keinen durchlaufenden Erzählfaden, man kann also problemlos jederzeit wieder einsteigen in die Lektüre dieses kanonischen Werkes.

Bewertung vom 29.12.2020
Vor dem Sturm
Fontane, Theodor

Vor dem Sturm


ausgezeichnet

Einfach genial

«Vor dem Sturm», als «Roman aus dem Winter 1812 auf 13» bezeichnet, das Opus magnum von Theodor Fontane, ist eine vierbändige Geschichte über den Beginn der preußischen Befreiungskriege nach dem gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons. Der Autor schildert in seinem 1878 erschienenen Debüt-Roman die historischen Ereignisse in hunderten von separaten Erzählungen. Zentrum der Handlung ist das fiktive Schloss Hohen-Vietz im Oderbruch, im dritten Band auch Berlin. Zentrale Figuren sind die Mitglieder der Adelsfamilien Vitzewitz-Pudagla und Ladalinski. Als unangefochtener Großmeister des Plaudertons entwickelt Fontane ein breit angelegtes Panorama verschiedenster gesellschaftlicher Schichten und ihrer Eigenarten in einer fast durchgängig indirekten Erzählform. Er lässt nämlich sein vielköpfiges Figuren-Ensemble in unzähligen Gesprächsrunden, ergänzend auch in vielen Briefen, zu Wort kommen, um die Geschehnisse und ihre kulturellen Hintergründe zu erzählen.

Der Roman beginnt an Heilig Abend 1812 auf Schloss Hohen-Vietz, den der verwitwete Bernd von Vitzewitz mit Tochter Renate und Sohn Lewin, der Erzieherin ‹Tante› Schorlemmer, einer Herrnhuterin, sowie diversen Gästen gemeinsam begehen. Der Schlossherr sieht im Rückzug der geschlagenen französischen Armee die militärische Chance, endlich die demütigende Besetzung Preußens abzuschütteln. Unermüdlich wirbt er in Gesprächen für seine Idee eines Volkssturms, der die Franzosen aus dem Lande jagt. Nach langem Hin und Her entsteht dann tatsächlich eine örtliche Volkswehr, um mit Hilfe der nachrückenden Russen die in der Festung Küstrin stationierte französische Garnison aufzulösen.

Jeweils angelehnt an dieses narrative Gerüst werden die vielen Geschichten von Adligen, Militärs, Amtspersonen, Pastoren, Bauern, Dienstpersonal und zwielichtigen Gestalten fontanetypisch, also überaus anschaulich erzählt. Trotz der Fülle von Figuren behält man als Leser jederzeit den Überblick, weil der Autor seine durchweg sympathischen Charaktere derart stimmig beschreibt, dass man viele von ihnen schon bald persönlich zu kennen glaubt. Natürlich ist auch die Liebe ein Thema in diesem Roman, wobei das zeitbedingt verschämte Sich-nicht-erklären, aber auch Standesdünkel für allerlei Tragik sorgen. Köstlich sind die ständigen Dispute mit der bigotten Herrnhuterin, deren naiver Frömmigkeit weder der Pastor noch der Schlossherr gewachsen sind. Tante Amalie, die Gräfin Pudagla, verwitwete Schwester des Alten von Vitzewitz und Herrin auf Schloss Guse, bereichert die Gespräche in ständigen französischen Einsprengseln mit ihren Erlebnissen am Berliner Hofe. Aber auch Hoppenmarieken, eine verkrüppelte Alte mit angeblich übersinnlichen Fähigkeiten, spielt letztendlich eine entscheidende Rolle in dem vielfältigen Geschehen, in dem auch der Tod seinen Platz hat.

Zum Thema «Was soll ein Roman» hat sich Fontane schriftlich geäußert: «Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Hässlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und zu unserem Herzen sprechen, Anregungen geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluss aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte». Im letzten Kapitel überrascht dann das Tagebuch der ins Kloster gegangen Renate, die darin kurz den Fortgang der Familiengeschichte skizziert. Und im letzten Absatz schließlich steht der Autor in persona auf einem Grabstein des Friedhofs und blickt auf die Kloster-Ruinen, eine raffinierte, dreifach verschachtelte Fiktion. «Im Scheiden erst,» schreibt er zum Schluss, «las ich den Namen, der auf dem Steine stand: Renate von Vitzewitz». Dieser kontemplative, extrem vielschichtige Roman ist einfach genial!

Bewertung vom 20.12.2020
Hurdy Gurdy Girl
Stratenwerth, Irene

Hurdy Gurdy Girl


gut

Femininer Western

Schon der Titel des Romans «Hurdy Gurdy Girl» von Irene Stratenwerth macht neugierig, der Untertitel ‹Eine weite Reise durch die Nacht› verheißt nichts Gutes, das Coverfoto einer jungen Frau schließlich deutet auf das Neunzehnte Jahrhundert hin. Hurdy Gurdy bedeutet Drehleier, ein Saiteninstrument also, mit dem hier im Roman ein Musiker mit einem Trupp von Tanzmädchen für Stimmung sorgt in Saloons und zweifelhaften Kaschemmen im amerikanischen Westen. Die Mädchen im Roman stammen aus der Wetterau, wo Mitte des Jahrhunderts, wie überall im Großherzogtum Hessen, bitterste Armut herrschte. Viele erhofften sich damals eine bessere Zukunft in Amerika und machten sich auf den weiten Weg, um dort ihr Glück zu suchen, - der Großvater von US-Präsident Trump gehörte übrigens auch dazu.

Die bettelarmen Eltern der siebzehnjährigen Luise schließen vor dem Bürgermeister ihres Dorfes einen Kontrakt mit einem Landgänger, mit dem sie ihm ihre Tochter für drei Jahre als Tanzmädchen in Dienst geben, also langfristig verdingen, mit Kost und Logis als Gegenleistung. Er wird sie in den Goldgräber-Siedlungen von Britisch Kolumbien als Hurdy Gurdy Girl für sich arbeiten lassen. Dort im Lager, wo es wegen den unwirtlichen Bedingungen fast keine Frauen gibt, kann er den Goldsuchern viel Geld abknöpfen für ein bisschen Abwechslung von ihrer harten Arbeit. Bei den Eltern andererseits gibt es dann nicht nur einen Esser weniger am Tisch, sie bekommen auch vorab die für ihre Verhältnisse riesige Summe von 500 Gulden, und das Gleiche noch einmal am Ende der Vertragszeit, wenn Luise zurückkommt. Zusammen mit zwei andern Mädchen landet sie, nach einer langen, äußerst beschwerlichen Reise unter erbärmlichsten Umständen, als Zwischendeck-Passagier zunächst in San Francisco.

Die in der Fremde weitgehend hilflosen Mädchen, die kein Wort Englisch sprechen, werden in der aufstrebenden kalifornischen Stadt brutal ausgebeutet und sehen sich schließlich zur Prostitution genötigt, um wenigstens ein bisschen Geld für sich selbst zu haben. Auf dem Postamt lernt Luise schließlich Benjamin kennen, der junge Mann bietet ihr spontan seine Hilfe an. Seinen Heiratsantrag lehnt sie zwar ab, ist dann aber doch froh, dass er sie trotzdem im Frühjahr begleitet auf dem beschwerlichen Weg zu den Goldgräbern in Kanada. In einem zweiten Handlungsstrang werden kurze Szenen aus der Heimat eingestreut, wo unter preußischer Führung der Deutsche Bund entstanden war und auf Betreiben Bismarcks streng gegen das Tanzmädchen-Unwesen vorgegangen wurde. Ein zur Untersuchung eigens angereister, höherer Beamter stellt in Luises Dorf dem Bürgermeister und dem Schullehrer ziemlich peinliche Fragen dazu. Der Roman schließt mit einem Epilog, der berichtet, wie es mit Luise, dem ‹gefallenen› Mädchen, weiterging nach der Rückkehr in der Heimat.

Irene Stratenwerth hat in einem Interview erklärt, Anlass für ihren Roman sei ihr Interesse an noch nicht erzählten Geschichten. Über die Geschichte Amerikas werde ja fast immer nur aus der Perspektive weißer Männer erzählt, Frauen spielten dabei allenfalls eine dekorative Nebenrolle. Sie verfolge aber keinerlei moralische Absicht mit ihrem historischen Roman. Die Quellenlage sei leider äußerst dürftig und stütze sich vor allem auf Passagierlisten und einige wenige Dokumente, das meiste sei frei erfunden. Ihre interessante Geschichte wird in einer klaren, einfachen Sprache erzählt, die zwar zum Milieu passt, die aber journalistisch distanziert kaum emotionale Nähe zu den Charakteren aufkommen lässt. Die Protagonistin Luise ist stimmig dargestellt in ihrer naiven Gläubigkeit, eher zwiespältig dagegen erscheint die Figur des Benjamin, dessen Motive wenig plausibel sind. In Anbetracht des unsäglichen Elends erscheint es zudem fast als Wunder, das die einfältige Luise der geschilderten Hölle aus permanenter Unterernährung, allerlei Krankheiten und ständigen Gefahren heil entkommen ist in diesem unromantischen, femininen Western.

Bewertung vom 17.12.2020
Wie Proust Ihr Leben verändern kann
Botton, Alain de

Wie Proust Ihr Leben verändern kann


gut

Eine Entmystifizierung

Alain de Botton versucht in seinem Buch «Wie Proust Ihr Leben verändern kann», das den deskriptiven Untertitel ‹Eine Anleitung› trägt, bei seinen Lesern eine Art literarische Bewusstseins-Erweiterung zu bewirken. Nicht zuletzt dürfte er damit aber auch den Zweck verfolgen, das siebenbändige, monumentale Werk des französischen Jahrhundert-Schriftstellers, den Romanzyklus «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit», zu entmystifizieren. Und natürlich auch einem größeren Leserkreis die Angst vor der schieren Textmasse zu nehmen. Der erste Band von «À la recherche du temps perdu» erschien 1913, der letzte dann 1927.

In neun Kapiteln, deren Überschriften alle mit ‹Wie› anfangen, destilliert Alain de Botton all die Erkenntnisse, die man aus der Lektüre der ‹Recherche› ziehen kann. Dabei geht es um das Unglücklichsein ebenso wie um richtiges Lesen und um das Problem, genügend Zeit für die Lektüre zu erübrigen. Das vierte Kapitel widmet er den tatsächlichen oder vermeintlichen Leiden des ewigen Hypochonders, der seine Zeit am liebsten im Bett verbracht hat und an allem litt, was von außen in sein hermetisch abgeschlossenes Zimmer eingedrungen ist, Licht, Lärm und Gerüche. Proust hasste auch jedwede sprachliche Gedankenlosigkeit, seien es gestelzte Modeworte oder gedankenlose Phrasen und Plattitüden. Es folgt ein Kapitel über die Art, Freundschaften zu pflegen, in dem man erfährt, wie rücksichtsvoll Proust sich stets verhalten hat, selbst wenn ihm sein Gegenüber eher unsympathisch war. Bezeichnend dafür ist ein Festbankett, wo er nach der Uraufführung von Strawinskys Ballett ‹Reinecke Fuchs› auf James Joyce traf. Die beiden berühmten Schriftsteller hatten sich rein gar nichts zu sagen! Egal wie sich Proust auch bemüht hat, mit ihm ins Gespräch zu kommen, Joyce hat ihn immer nur stumm angestarrt.

Unterschiedlicher als ‹Ulysses› und ‹Recherche› können Romane ja auch kaum sein, wen wundert es da, dass ihre Autoren sich fremd blieben. Dem extrem fragmentarischen, äußerst vielschichtigen und assoziationsreichen Bewusstseinsstrom von Leopold Bloom bei seinem Streifzug durch Dublin steht bei Proust eine ausufernd detaillierte, alle denkbaren Aspekte eines Gegenstandes oder Ereignisses akribisch ausleuchtende Beschreibungskunst gegenüber, die man negativ auch als Beschreibungswut bezeichnen könnte. Alain de Botton verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, dass es wohl keinen Schriftsteller gibt, der genauer hinsieht als Proust. Der es ja fertigbrachte, das Kirchenfenster einer Kathedrale auf dutzenden von Seiten bis zum letzten Farbschimmer zu beschreiben. Vor dieser Sprachvirtuosität hat dann sogar Virginia Woolf kapituliert, wie wir im Buch erfahren. Denn als sie sich nach Jahren erstmals an die Lektüre der ‹Recherche› herangewagt hat, hätte das zunächst mal eine veritable Schreibblockade bei ihr ausgelöst. Wenig überzeugend ist Proust als Berater in Sachen Liebe, wie wir im achten Kapitel erfahren, seine eher asexuelle Vita wie auch sein ebenso asexuelles Opus magnum prädestiniert ihn jedenfalls nicht als Experten, auf dessen Rat man in diesen Dingen hören sollte. Als Ratgeber ergiebiger ist da das letzte Kapitel, in dem die Vorzüge des Lesens beschrieben und die Grenzen einer Lektüre aufgezeigt werden.

Bleibt die Frage, was man als Leser aus diesem Buch mitnehmen kann für künftige Leseabenteuer. Die lockere, amüsante Art, mit der Alain de Botton sich dem verwöhnten Muttersöhnchen nähert, garantiert einige vergnügte Lesestunden. Außerdem erfährt man en passant nicht nur manche Details aus dessen Leben, sondern auch über Zeitgenossen, die zum Teil als Vorlage für seine Figuren dienten. Erhellt werden zudem einige reale Hintergründe für die ‹Recherche›, angefangen bei der berühmten, einen Erinnerungsschub auslösenden ‹Madeleine› als Teegebäck bis hin nach Combray, einem der Handlungsorte. Zu dem pilgern heute die Proust-Jünger, um Tante Leonies Haus zu besuchen und im Ort die ‹originalen› Madeleines zu kaufen.

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