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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 962 Bewertungen
Bewertung vom 14.04.2021
Drei starke Frauen
NDiaye, Marie

Drei starke Frauen


gut

Fanal der Selbstbehauptung

Die erfolgreiche französische Schriftstellerin Marie NDiaye hat mit «Drei starke Frauen» ganz offensichtlich einen Nerv der Zeit getroffen, das als Roman deklarierte Buch wurde 2009 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. In Frankreich war es, trotz seiner eher deprimierenden, feministischen Thematik, ein auch politisch aufgeladener Bestseller. Gemeinsam ist den Frauen in den nur sehr lose verbundenen drei Erzählungen ihre unbeirrbare Würde, mit der sie scheinbar stoisch ihr Schicksal ertragen. Keine Wohlfühl-Lektüre also, aber als feministischer Weckruf ein wichtiger Beitrag zur nach wie vor nicht realisierten Emanzipation des vorgeblich schwachen Geschlechts.

Im ersten Teil besucht die vierzigjährige Anwältin Norah widerstrebend ihren herrischen Vater in Dakar. Der Patriarch hat sie eilends herbeigerufen, damit sie seinen über alles geliebten Sohn aus dem Gefängnis hole, er habe nach seiner desaströsen Firmenpleite kein Geld mehr für einen Verteidiger. Norahs Bruder soll seine Stiefmutter erwürgt haben, mit der er eine Liebesaffäre hatte. Im Mittelteil geht es um Fanta, die mit Rudy, ihrem französischen Mann, von Dakar nach Frankreich in die Provinz gezogen ist, sie langweilt sich dort und scheint aus ihrer kaputten Ehe ausbrechen zu wollen. Im letzten, äußerst dramatischen Teil versucht die 25jährige Khady, deren Mann plötzlich verstorben ist und die nun bei den Schwiegereltern wie eine Sklavin gehalten wird, illegal nach Frankreich einzuwandern.

Den drei ganz unterschiedlichen Frauen, die sich nicht unterkriegen lassen, stehen drei gewalttätige, völlig gefühllose Männer gegenüber, die sich letztendlich dann eher doch als ziemlich schwach erweisen. Die Anwältin Norah muss zuhause einen ebenso liebenswürdigen wie parasitären Partner mit durchfüttern. Ihr einst erfolgreicher Vater und auch ihr nichtsnutziger, vom Vater verhätschelter Bruder widern sie an, sie würde am liebsten sofort wieder zurückreisen. Der Total-Versager Rudy, aus dessen Perspektive anschließend erzählt wird, ist ein aus dem Schuldienst entlassener Lehrer, der nun als Küchenverkäufer schon wieder einer Kündigung entgegensieht. Er versinkt in einen alles vernichtenden Exzess aus Selbstmitleid, in den auch mystische Symbolik hineinspielt. Seine völlig desillusionierte Frau Fanta, die vor den Scherben ihrer Ehe steht, erträgt all das mit einer trügerischen Gelassenheit. Und auch in der Flucht-Geschichte fällt einem jungen Mann eine eher schäbige Rolle zu. Er steht Khady zwar bei der Flucht hilfreich zur Seite, stiehlt ihr letztendlich aber dann doch all ihr durch Prostitution für die Flucht aufgespartes Geld. Sie bleibt in ihrem Elend zurück, während er sich rücksichtslos allein nach Frankreich durchschlägt.

Marie NDiaye erzählt ihre drei archaisch anmutenden Geschichten in einem nicht gerade angenehm lesbaren, hypotaktischen Stil, wobei sie das Geschehen allerdings sehr bildhaft zu schildern versteht. Sie taucht dabei tief in die Psyche ihrer Figuren ein und legt eindrucksvoll die komplizierten Macht-Strukturen im Verhältnis der Geschlechter ebenso bloß wie auch die verzwickten Familien-Verhältnisse. Einen nicht unwesentlichen Anteil am Narrativ haben Dämonen und Engel, die wie selbstverständlich in das Geschehen eingebaut sind. So steigt beispielsweise Norahs despotischer Vater allabendlich in den Flammenbaum, wozu auch immer. Oder der Versagertyp Rudy wird mehrfach von einem Bussard angegriffen und einmal sogar verletzt. Und in Visionen aus der Kindheit sitzen dann auch schon mal Dämonen auf jemandes Bauch, was mutmaßlich als pädophile Anspielung zu deuten ist. Die Autorin hat ihr Buch, das eher als Erzählband denn als Roman zu bezeichnen ist, ihr «hellstes» genannt, was angesichts seiner düsteren Thematik doch sehr verwundern muss. Aber auch wenn zuweilen langatmig erzählt wird, ist dieses Fanal der Selbstbehauptung als Lektüre durchaus lohnend und mit seiner Flüchtlings-Problematik nach wie vor sogar hochaktuell.

Bewertung vom 12.04.2021
Ob wir wollen oder nicht
Ott, Karl-Heinz

Ob wir wollen oder nicht


sehr gut

Alles eine Frage der Sprache

Karl-Heinz Ott hat für seinen dritten Roman «Ob wir wollen oder nicht» eine stilistisch eigenständige Form gefunden, die er im Interview als « Gedankenmusik» bezeichnet hat. Er benutzt sie, um mit Hilfe von Rhythmus und Wortklang die Seelenzustände seines Protagonisten wahrnehmbar zu machen, sie regelrecht anklingen zu lassen. In einem geradezu manisch wirkenden, inneren Monolog offenbart sein Protagonist letztendlich die Leere seiner Seele. Der am Leben Gescheiterte hat sich selbst in eine Misere hinein manövriert, in der die Frage nach Schuld ebenso im Dunkeln bleibt wie das Geschehen im Ungewissen.

Was zunächst wie ein Krimi in der Untersuchungshaft beginnt, erweist sich beim Lesen sehr schnell als ein nur rudimentäres Handlungsgerüst, der Leser erfährt bis zum Ende nicht, was da genau passiert ist. Häppchenweise lässt der etwa fünfzigjährige Ich-Erzähler immer wieder mal beiläufig ein neues Detail in seinen Monolog einfließen, während er in der Zelle auf seine Vernehmung durch den Untersuchungs-Richter wartet. Als ehemaliger Tankstellen-Pächter hatte Richard T. seine Geschäfts-Grundlage in einem Dorf im Südschwarzwald verloren, denn nach dem Bau einer Talbrücke fließt der Verkehr jetzt nicht mehr durch den Ort. Er war lange mit Lisa, der Wirtin des örtlichen Gasthofes liiert, deren Mann sie verlassen hat, nachdem das Dorf in eine Art Dornröschen-Schlaf gefallen war. Richards bester und auch einziger Freund, der ehemalige Dorfpfarrer Johannes, wurde vor sieben Jahren wegen Pädophilie angeklagt. Er wurde zwar freigesprochen, hat den Dienst damals aber quittiert und sich in ein ehemaliges Bahnwärter-Häuschen zurückgezogen. Dort beschäftigt er sich als Privatgelehrter mit vergleichenden Bibelstudien und hört sich immer wieder Haydns Oratorium «Die Schöpfung» an. Seit einiger Zeit hat er ein Verhältnis mit Lisa, die sich allmählich von Richard gelöst hat, ohne dass die Beiden je offen darüber gesprochen hätten. Für Richard war weder die Liaison mit Lisa noch die Freundschaft mit Johannes seelisch wirklich tief gründend. Der notorische Eigenbrödler und ehemalige 68er mit abgebrochenem Studium schlägt sich mit fragwürdigen Geschäften durchs Leben, aber auch das wird wie vieles nur sehr vage angedeutet.

Kann er schuldig sein, wenn er doch gar nichts getan hat? Das an Kafka gemahnende, nebulöse Geschehen wird in einem an Thomas Bernhard erinnernden Stil erzählt, nur dass hier der innere Monolog nicht als Hasstirade nach außen gerichtet ist, sondern als Selbstreflexion nach innen. Der überwiegend monologisch geprägte Roman wird nur im Mittelteil durch einen köstlichen Dialog des Häftlings mit dem jungen Richter unterbrochen. Die schon fast slapstickartige Befragung führt schließlich zu seiner sofortigen Entlassung. War der Ich-Erzähler einst aufgebrochen, die Welt zu verändern, steht er nun nicht nur materiell vor den Trümmern seiner Existenz, Lisa und Johannes haben sich aus dem Staub gemacht, er ist auch seelisch ganz allein.

Richard T. lebt absichtslos vor sich hin und sinniert nur pausenlos über das eigene Versagen und den Sinn seines Lebens. «Venceremos» hatte einer seiner Vorgänger in der Gefängnis-Zelle in die Wand geritzt, ‹wir werden siegen›, und zehn Ausrufezeichen dahinter gesetzt. Richard kennt das spanische Verb noch als Aufkleber aus seiner ehemaligen WG-Küche, von Sieg aber kann bei ihm nun wirklich keine Rede sein. Diese nur knapp vier Tage umfassende Geschichte wird in bandwurmartig langen, kunstvoll miteinander verketteten Sätzen erzählt, womit scheinbar die Verschrobenheit des Protagonisten verdeutlicht werden soll. «Alles ist eine Frage der Sprache», hatte Johannes ganz im Sinne von Wittgenstein behauptet, das wäre auch bei seiner Gerichtsverhandlung damals so gewesen. Und so dominiert denn auch in diesem Roman über einen Sonderling in einer Ausnahme-Situation die Sprache über das mysteriöse Geschehen, das sich dann erst im Kopf des Lesers zu einem Ganzen formen muss.

Bewertung vom 08.04.2021
Die französische Kunst des Krieges
Jenni, Alexis

Die französische Kunst des Krieges


gut

Illusionistische Multikulti-Euphorie

Als ‹Sonntagsschreiber›, wie er sich selbst bezeichnet hat, ist dem französischen Schriftsteller Alexis Jenni nach mehreren erfolglosen Versuchen mit seinem 2011 veröffentlichten Romandebüt «Die französische Kunst des Krieges» ein Bestseller gelungen. Das imposante Epos gewann den Prix Goncourt und wurde wegen seiner Täterperspektive mit »Die Wohlgesinnten» von Littel verglichen. Ein Vergleich, den Jenni vehement abgelehnt hat, weil sein Kollege eher eine Doku-Fiktion geschrieben habe, während bei ihm eindeutig das Romanhafte im Vordergrund stehe.

Der namenlose Ich-Erzähler ist ein im bürgerlichen Leben gescheiterter, junger Mann. Den Beginn des Golfkriegs 1991 erlebt er unbeteiligt am Bildschirm mit, der so weit entfernte Krieg bedeutet ihm rein gar nichts. Bis er in einem Bistro auf Victor Saragon trifft, einen alten Haudegen, dessen Leben zwei Jahrzehnte lang von Kriegen geprägt war, die Frankreich alle verloren hat. Seine Karriere begann einst bei den ‹Chantiers de Jeunesse›, einer die Résistance unterstützenden, paramilitärischen Jugend-Organisation. Anschließend hatte er im Indochina-Krieg gekämpft und danach im Algerien-Krieg, der dann 1962 mit der Unabhängigkeit des Landes endete, beides schmutzige, asymmetrische Kolonial-Kriege. Seine Eindrücke aus dieser Zeit hat Saragon, der ein begnadeter Zeichner ist, einst in unzähligen Bildern festgehalten. Die Beiden vereinbaren, dass Saragon dem faszinierten jungen Mann das Zeichnen beibringt, im Gegenzug würde jener die abenteuerlichen Geschichten seiner Kriegseinsätze aufschreiben, von denen ihm der alte Kämpe berichtet.

In dreizehn Kapiteln erzählt Alexis Jenni im ständigen Wechsel einerseits aus der Perspektive des Ich-Erzählers, als ‹Kommentare› betitelt, von dessen bewegtem Leben in Lyon, als auktorialer Erzähler andererseits unter den ebenfalls durchnummerierten Überschriften ‹Roman› die Geschichte des Kriegs-Veteranen. Dabei rührt er als Nest-Beschmutzer gleich an mehreren Tabus der französischen Gesellschaft. Im Interview hat er dazu angemerkt, er wolle Frankreich verstehen: «Was heißt es heute, Franzose zu sein? Gibt es eine französische Nationalität, eine französische Besonderheit?». Und daraus leitet er auch die Frage nach den sozialen Unruhen in den Banlieues ab, nach Problemen mit den Arabern, und stellt die Hypothese auf: «Unsere heutigen Probleme haben ihre Wurzeln in der Zeit der Kolonial-Kriege».

Die gelungenste Episode des Romans, mit der eindrucksvoll die verlogene Verdrängung des Tötens verdeutlich wird, ist der Umgang der modernen Gesellschaft mit Fleisch. Bei Einkauf für ein Abendessen mit Freunden kommt dem Ich-Erzähler angesichts akkurat zubereiteter und klinisch verpackter, dem Schlachttier nicht mehr zuzuordnender Fleischstücke die Idee, statt dem geplanten Bœuf bourguignon bei chinesischen und arabischen Händlern auf dem Markt das dort feilgebotene Fleisch zu kaufen. Mit Kaldaunen, drei ganzen Hammelköpfen, jede Menge Hahnenkämmen und drei Metern Blutwurst am Stück vertreibt er als Koch dann abends nicht nur die entsetzten Freunde für immer, sondern verliert auch seine Frau, - ein Clash of Civilisations der besonderen Art. Im anderen Handlungsstrang gesteht der Kriegsveteran seinem Chronisten: «Wir haben uns alle wie Schlachter aufgeführt», eine zutiefst verstörende Wahrheit für die an schamhaftes Verdrängen gewöhnte ‹Grand Nation›. Auch der eher verharmlosende Satz des Heraklit vom «Krieg als Vater aller Dinge» erweist sich damit als haltlose Schönfärberei eines barbarischen Handwerks, heute in Zeiten asymmetrischer Kriege mehr denn je. Insoweit ist dieses Epos nicht nur ein Fanal gegen den überall weitverbreiteten Rassismus, es entlarvt auch die naive Multikulti-Euphorie als grandios an der Realität scheiternde Illusion, aller Vernunft zum Trotz! Diese angenehm lesbare Diagnose nationaler Befindlichkeit dürfte für manche Leser deutlich zu lang geraten sein, aufschlussreich ist sie allemal!

Bewertung vom 02.04.2021
Die Tagesordnung
Vuillard, Éric

Die Tagesordnung


gut

Desavouierendes Hohngelächter

Der französische Schriftsteller Éric Vuillard hat mit der Erzählung «Die Tagesordnung» den erzwungenen Anschluss Österreichs thematisiert, wobei er, wie schon in anderen seiner Werke, auch hier ein geschichtliches Ereignis und seine Folgen in extrem verknappter Form neu erzählt. Insoweit kann er als legitimer Nachfolger von Stefan Zweig angesehen werden, der dieses Genre mit seiner Sammlung «Sternstunden der Menschheit» äußerst erfolgreich kreiert hat. Im Unterschied zu ihm jedoch benutzt Vuillard nicht die strenge, auf ein ‹unerhörtes Ereignis› gerichtete Novellenform, er fächert seinen Stoff vielmehr deutlich weiter auf. Hier beginnend mit einem geheimen Treffen der deutschen Großindustriellen bei Göring am 20. Februar 1933 und endend bei der läppischen Entschädigungs-Zahlung Alfried Krupps an die Zwangsarbeiter 1958.

In den 16 Kapiteln der Erzählung entwickelt der Autor seine Version der historischen Ereignisse, indem er sie, fiktional ergänzt, aus einer ironischen Distanz schildert. Sein Schwerpunkt ist dabei die emotionale Ebene, die den oft lächerlich profanen Hintergrund bildet. «Die Literatur erlaubt alles», sagt Vuillard und macht sich in diesem Sinne, mit deutlich erkennbarer Wonne, gleich am Anfang über den Geldadel lustig. Vierundzwanzig Herren steigen im Treppenhaus eines pompösen Palais nach oben zu den Nazigrößen, die sie herbeigerufen haben und sie auch gleich abkassieren werden für den bevorstehenden Wahlkampf. «Demnach könnte ich sie endlos über die Penrose-Treppe schicken» macht der Autor sich über sie lustig, Geben und Nehmen liege ja dicht beieinander in Politik und Geldadel. Ähnlich spöttisch berichtet er auch über einen Besuch von Lord Halifax, entschiedener Verfechter der britischen Impeasement-Politik, bei Göring in der Schorfheide. Auch das demütigende Treffen Schuschniggs mit dem Führer auf dem Berghof wird in mehreren Kapiteln geschildert als Vorstufe zur längst beschlossenen Annektierung Österreichs. Ribbentropps Abschiedsbesuch in Downing Street ist eine ebenso amüsante Episode wie das mit ‹Blitzkrieg› überschriebene Kapitel des deutschen Einmarsches, der dann im blamablen ‹Panzerstau› am 12. März 1938 steckenblieb. Vor die Proklamation des Führers vom Balkon der Wiener Hofburg fügt der Autor noch ein Kapitel ein, in dem er das Theatralische der ‹großen Politik› durch ein riesiges Requisiten-Lager in Hollywood demonstriert, wo zeitgleich mit den Ereignissen bereits sämtliche Nazikostüme für Spielfilme verfügbar waren, Chaplin lässt grüßen! In den letzten beiden Kapiteln thematisiert er das Grauen, indem er von gleich vier Selbstmorden am Tag der Annexion berichtet. Am Ende schließlich holen den senilen Gustav Krupp die toten Zwangsarbeiter ein, die ihn in der Villa Hügel aus dem Dunkeln anklagend anstarren.

Diese 2017 mit dem Prix Goncourt prämierte Erzählung zeichnet sich durch eine irritierende Leichtigkeit aus, in der da ganz unbefangen über das mit Abstand Düsterste in der Menschheits-Geschichte berichtet wird. Sie erinnert damit entfernt auch an «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littel, ein aus der Täter-Perspektive erzählter französischer Holocaust-Roman, der, wen wundert’s, überaus kontrovers diskutiert wurde. Muss man nichtdeutscher Autor sein, um so unbeschwert und beiläufig über die Nazis erzählen zu können?

Wer bei Vuillard sauertöpfisch nach historischer Seriosität fragt, hat dessen Hintertreppen-Methode nicht verstanden. Es sei ihm um das Profane hinter den großen Ereignissen gegangen, um die grotesken Witzfiguren, die als historische Akteure so oft großspurig am Werke seien. Denn vieles erweist sich ja im Nachhinein tatsächlich als reine Farce, und genau das wiederholt sich auch noch ständig bis in die Gegenwart hinein, man denke nur an das Erstarken der Populisten in Europa. Insoweit ist es durchaus legitim, fragwürdige Politiker genüsslich zu desavouieren, sie also sarkastisch mit Hohn zu überschütten zur unverhohlenen Freude des Lesers.

Bewertung vom 31.03.2021
Weine nicht
Salvayre, Lydie

Weine nicht


weniger gut

Holzschnittartige Erzählweise

Der Roman «Weine nicht» der französischen Schriftstellerin Lydie Salvayre hat den Spanischen Bürgerkrieg zum Thema. Als Tochter nach Frankreich geflüchteter Spanier erzählt sie in diesem 2014 mit dem Prix Goncourt prämierten Roman aus der anarchistischen Anfangsphase dieser brutalen Kämpfe im Sommer 1936, basierend auf den mündlichen Überlieferungen ihrer katalanischen Mutter. Eng verflochten in ihre Geschichte und häufig zitiert ist außerdem die von Georges Bernanos in seinem Buch «Die großen Friedhöfe unter dem Mond» sehr eindringlich geschilderte Verfolgung der Kommunisten auf Mallorca.

Die hochbetagte Mutter der Ich-Erzählerin berichtet im Jahre 2011 aus der einzigen Phase ihres langen Lebens, an die sie sich noch lebhaft erinnern kann. Als 15jähriges Mädchen hat Montserrat, genannt Montse, in einem hinterwäldlerischen katalanischen Dorf erlebt, wie plötzlich die Unruhen des beginnenden Bürgerkriegs auch dessen Bewohner erfasst haben. Ihr älterer Bruder José, der sich begeistert den Anarchisten anschließt, nimmt sie mit nach Barcelona, wo sich die verschiedensten politischen Kräfte versammeln und erste Milizen gebildet werden, um in den Krieg zu ziehen. Das einfältige Bauernmädchen ist überwältigt von der freiheitlichen, mondänen Welt, die sie in der großen Stadt wie ein Wunder ungläubig bestaunt, sie erlebt die intensivste Zeit ihres ganzen Lebens. Und sie lernt einen jungen Mann kennen, mit dem sie wie im Rausch die Nacht verbringt, bevor er am nächsten Morgen als Kriegsfreiwilliger zur Front abrückt, sie weiß nicht mal seinen Namen. José aber erkennt schon bald ernüchtert die Widersprüche und Unwahrheiten seiner Kampfgefährten und beschließt, nicht in den Krieg zu ziehen, sondern mit seiner Schwester in sein Dorf zurückzukehren. Montse jedoch ist schwanger, aber die Mutter verkuppelt sie flugs ausgerechnet mit Diego, der als Stalinist schärfster politischer Widersacher von José ist.

Durch die intensive Einbeziehung der Berichte von George Bernanos enthält dieser Roman eine scharfe antiklerikale Kritik, die unheilvolle Allianz der Franco-Anhänger mit dem Klerus verschlägt einem noch heute die Sprache. Man will es einfach nicht glauben, dass damals Kirchen-Vertreter die Opfer von Lynch-Aktionen der Falangisten vor dem Mord noch mit den Sterbe-Sakramenten versehen haben, um dann den in ihren Augen völlig gerechtfertigten Massakern im Namen Christi ungerührt beizuwohnen. Die Inquisition konnte kaum schlimmer gewesen sein. Erstaunlich ist, wie schnell das Aufbegehren der Kleinbauern gegen die scheinbar unverrückbaren Privilegien der Großgrund-Besitzer wieder abbricht. Man ist konservativ bis in die Knochen, auch was die prekäre eigene Rolle im sozialen Gefüge anbelangt. Eigentlich mag man ja gar keine Veränderungen, schon gar keine Revolution.

Dieser Roman wirkt formal ziemlich holzschnittartig mit seinen stark überzeichneten Figuren, derer bäuerlich einfältige Prägungen mit ihrer derben Ausdrucksweise zusammenpasst. Die wird dann immer wieder von den theologisch durchdrungenen Schriften eines Intellektuellen wie Georges Bernanos konterkariert. Die mündliche Rede schwankt permanent zwischen primitiver Grobheit und intellektuellem Feingefühl. Zusätzlich wechseln auch noch ständig die Erzähl-Perspektiven, was dann, nicht nur wegen der fehlenden Zeichensetzung, oft schwer durchschaubar wird. Da spricht einerseits ja die senile Mutter, also die mehr als neunzigjährige Montse, dann die ihr zuhörende und sie (in Klammern eingefügt) zuweilen korrigierende Tochter als Bericht-Erstatterin, und ferner auch noch der in langen, grafisch abgesetzten Zitaten ebenfalls mit einbezogene, katholizismus-kritische Schriftsteller mit seiner unverhohlenen Wut auf die bigotte Amtskirche. Störend sind zudem die vielen Einsprengsel in spanischer Sprache, die zwar im Glossar übersetzt werden, die aber den Lesefluss erheblich stören. Bleibt also als Benefit eine Geschichts-Stunde über den Spanischen Bürgerkrie

Bewertung vom 28.03.2021
DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021
Edelbauer, Raphaela

DAVE - Österreichischer Buchpreis 2021


schlecht

Alles völlig sinnfrei

In ihrem zweiten Roman «DAVE» entwickelt die österreichische Schriftstellerin Raphaela Edelbauer eine verstörende Dystopie, bei der es um Künstliche Intelligenz geht. Die gigantisch angewachsene Menschheit erhofft sich mit Hilfe eines Supercomputers, der technisch alles Dagewesene bei weitem übertrifft, den selbst verursachten Zusammenbruch aller Lebens-Grundlagen zu überwinden. Was diesen Roman aus der Masse von Science-Fiction heraushebt, ist eine in jeder Hinsicht eigenwillige, alle narrativen Konventionen sprengende Sprache, in der da erzählt wird. Damit wird eine hohe Hürde aufgebaut, an der viele Leser scheitern dürften.

DAVE also soll’s richten, und zwar mit Hilfe der KI. Tausende von Nerds schuften in einem streng von der verwüsteten Außenwelt abgeschirmten Entwicklungs-Zentrum wie Sklaven. Auch Syz, 28jähriger Ich-Erzähler der Geschichte, produziert als kleines Rädchen im Getriebe Scripts am laufenden Band. Er schläft nur wenige Stunden, den Rest seiner Zeit sitzt er vor dem Computer. Oder redet mit seinen Freunden, und zwar immer wieder nur über technologische Probleme. In dieser elitären Denkfabrik nun bildet DAVE den Mittelpunkt, eine gottähnliche Maschine, die demnächst den Menschen an Intelligenz weit übertreffen wird und in ihrer Allmacht alles steuern kann, sogar bis tief ins Universum hinein. Man ist in einer Entwicklungsphase angelangt, wo die noch vorhandene Limitierung des Superhirns durch das Einspeisen von menschlichen Emotionen überwunden werden soll. Die muss DAVE sich nach und nach in einem Selbstlern-Prozess einverleiben, um nach diesem Muster sein eigenes Bewusstsein zu entwickeln. Und Syz ist der Auserwählte, dessen Ego in diesen Computer integriert werden soll. Er berichtet nun in endlosen Nacht-Sitzungen von seinen Erfahrungen, Erlebnissen, Ängsten, Empfindungen, - quasi von allem, was mit dem Menschsein korreliert, und all das wird der Maschine unentwegt einprogrammiert. Es gibt aber zwei Störfälle, die das Ganze ins Wanken bringen. Syz verliebt sich, was in dieser aberwitzigen Techno-Welt nicht vorgesehen ist, und ihm kommen Zweifel an den Hintergründen für das gigantische Projekt und an seinen unbekannten Nutznießern.

Die Autorin baut viele existenzielle Fragen ein in ihre surreale Geschichte, sie arbeitet mit literarischen Verweisen, es gibt aber auch diverse popkulturelle Anspielungen, die allenfalls Eingeweihte verstehen. Besonders krass stürmt das gleich am Anfang auf den Leser ein, er wird mit Neologismen, absurdem Fachjargon und akademisch abgehobenem Vokabular regelrecht zugeschüttet, alles völlig sinnfrei. Die narrative Form des unzuverlässigen Erzählers trägt zusätzlich zur Verwirrung bei, es ist eiserner Wille erforderlich, um da weiter durchzuhalten. Denn auch eine Handlung, die einen gewissen Lesesog erzeugen könnte, ist nicht mal ansatzweise vorhanden. In dieser durchgeknallten Nerd-Welt begegnet man fast ausnahmslos zombiehaften Figuren, die keinerlei Empathie zu wecken vermögen mit ihrem an Roboter erinnernden Habitus. Überlagert ist dem allen eine Tristesse, die in einer allmächtigen digitalen Klassengesellschaft begründet ist, deren diktatorischen Triebkräften der Romanheld irgendwann nicht mehr traut.

Raphaela Edelbauer, die in Wien Sprachkunst studiert hat, arbeitete mehr als zehn Jahre an diesem Roman, wie sie im Interview erklärt hat, zweimal habe sie ihn umgeschrieben. Bei ihr sind dann auch schon mal «belatzhoste» Arbeiter am Werke, für Sprachkunst ja durchaus exemplarisch! Was da als Science-Fiction geboten wird, überwindet nicht nur mühelos die Grenzen von Zeit und Raum, sondern auch die der Erzählinstanzen, man ist immer wieder im Zweifel, ob da noch ein Erzähler spricht oder schon der Computer selbst. Denn bald, wird behauptet, könnten ja die Computer schon ganze Romane schreiben. Spätestens dann aber muss ich mir ein neues Steckenpferd suchen, die Literatur also an den Nagel hängen und eine Computersprache lernen, - zum Beispiel.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.03.2021
Vom Schwimmen in freien Gewässern
Bohlander-Sahner, Katja

Vom Schwimmen in freien Gewässern


sehr gut

Wie das Leben halt so spielt

Der zweite Roman von Katia Bohlander-Sahner betont mit seinem auf dem Cover wunderbar treffend illustrierten Titel «Vom Schwimmen in freien Gewässern» auf das Uneingeengte hin, das einen richtigen See vom Schwimmbad unterscheidet. Diese Thematik ist hier angewandt auf die Geschichte eines Mannes, der nach einigen familiären Schicksals-Schlägen seine große Liebe trifft und damit plötzlich und unfreiwillig aus seinem bis dato eingeengten Alltagstrott gerissen wird. Als Neuerscheinung birgt dieser Roman einiges an Unterhaltungs-Potential und müsste eigentlich schon auf der Spiegel-Bestsellerliste stehen.

Rolf Naumann, 59jähriger, verwitweter Lehrer aus Hirzweiler, lernt eine faszinierende Studentin kennen, beide fühlen sich magisch zueinander hingezogen. Sie landen schon bald im Bett und erleben rauschhaften Sex. Elaine ist 25 Jahre jünger als er, und nach der ersten Nacht stellt er verwundert fest, dass er noch nicht mal ihren Nachnamen weiß. Sie gibt nur wenig von sich preis, ein Geheimnis umgibt sie. Rolf ist eher ein langweiliger Typ, der ein eintöniges Leben führt. Als beliebter Lehrer ist er zwar ortsbekannt, CDU-Mitglied, emsiger Gärtner, ehrenamtlicher Bademeister im örtlichen Schwimmbad und Mitglied der Wasserball-Mannschaft, familiär aber ist er sehr einsam. Sohn Jerome ist zum Entsetzen der Eltern als 16Jähriger einfach aus dem Elternhaus verschwunden und seither unauffindbar. Vor zwei Jahren hat Rolf dann seine Frau bei einem tragischen Verkehrsunfall verloren. Und auch Tochter Anni wohnt nicht mehr bei ihm, sie arbeitet in Paris und kommt selten zu Besuch.

Elaine wirbelt nun alles durcheinander, die ehemalige Hamburgerin lebt unter falschem Namen in einem Zeugenschutz-Programm, sie musste abrupt sämtliche Brücken hinter sich abbrechen. Rolf wird voll mit in die turbulenten und gefährlichen Ereignisse um Elaine hineingezogen. Sie muss, kaum dass sie sich kennengelernt haben, für zwei Monate wieder nach Hamburg zurück, um dort ihre Scheidung durchzufechten und dann auch als Kronzeugin im Mordprozess gegen eine osteuropäische Schlepperbande auszusagen. Man trachtet ihr nach dem Leben, sie wird in der Stadt vom Auto angefahren und soll auf Anraten der Polizei mit neuer Identität im Ausland erneut untertauchen. Jerome hat sich in Italien durchgeboxt und dort sein Glück gefunden. Er hat seinen Traumberuf als Schreiner ergriffen, ist inzwischen selbst Vater und arbeitet als Restaurator im eigenen Betrieb. Seine Geschichte ist sehr abenteuerlich, sie erinnert an ähnliche Ausreißer-Figuren in der Literatur, die unbeirrt, allem Widrigkeiten zum Trotz, ihrem unbändigen Freiheitsdrang gefolgt sind.

Mit einer angenehm lesbaren Sprache und in vielen stimmigen Dialogen werden in diesem Roman zwei Lebensgeschichten gegenübergestellt. Während der angepasste Normalbürger Rolf in ungeahnte Turbulenzen gerät und sein Leben nie für möglich gehaltene Wendungen nimmt, hat sich sein Sohn Jerome dem Diktat der Eltern für ein Akademikerleben durch Flucht entzogen und sein Schicksal selbst in die Hand genommen. Der genügsame Rolf ist der Getriebene, auf den die Dinge zulaufen, Jerome hingegen weiß, was er will, und erkämpft sich hartnäckig sein Glück. Der Leser erlebt eine facettenreich erzählte, manchmal fast schon zu vielschichtige Zeitreise, die durch ihre Realitätsnähe besticht. Die Figuren sind lebensecht und einfühlsam beschrieben, sie sind glaubwürdig, aber psychologisch nicht gerade tiefschürfend charakterisiert. Nach einem leider etwas zu süßlichen Happy End im Jahre 2019 eröffnet sich in den letzten beiden Kapiteln unter der Überschrift «In den folgenden Jahren» überraschend eine Zukunfts-Perspektive. Man stolpert zuerst über die Jahreszahl 2022, als in Hirzweiler Rolfs bester Freund und Helfer stirbt, und schaut dann auch in eine sogar noch fernere Zukunft, wo sich am Ende für die nunmehr fünfzigjährige Elaine unerwartet eine neue Liebe andeutet, - wie das Leben halt so spielt!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 23.03.2021
Dann schlaf auch du
Slimani, Leïla

Dann schlaf auch du


weniger gut

Keine einfachen Wahrheiten

Die gebürtige Marokkanerin Leïla Slimani hat mit ihren zweiten Roman «Dann schlaf auch du» - als jüngste Preisträgerin bisher - 2016 den in Frankreich hoch angesehenen Prix Goncourt gewonnen. Es dreht sich, wie schon in ihrem ersten, ebenfalls erfolgreichen Roman, um das Thema Frausein und Muttersein in der modernen Gesellschaft. Mit ihrem knallhart an den Beginn gesetzten ersten Satz «Das Baby ist tot» nimmt sie das Unerhörte vorweg, ein an Musils «Strudelhofstiege» erinnernder, dramaturgischer Kniff, der dann auf den folgenden knapp drei Seiten einen Lesesog erzeugt, dem man sich bis zum Ende kaum noch entziehen kann.

Erzählt wird die Geschichte eines Paares Anfang dreißig in Paris, das nach dem zweiten Kind versucht, Karriere und Familie gleichermaßen zu optimieren. Paul ist als Musikproduzent häufig auf Reisen, Myriam hat der Kinder zuliebe bisher auf eine Karriere als Juristin verzichtet. Als ein ehemaliger Studienfreund ihr eine Stellung in seiner Kanzlei anbietet, ergreift sie die einmalige Gelegenheit, dem Alltagstrott als Mutter zu entkommen, nachdem sie eine perfekt scheinende Kinderfrau engagieren konnte, die Mitte vierzigjährige Louise. Und in der Tat hat sie das große Los gezogen, die Kinder sind begeistert von der neuen Nanny, die sich als Inkarnation von Mary Poppins erweist. Zudem bringt Louise bienenfleißig auch die chaotische Wohnung der jungen Eltern auf Vordermann und kann wunderbar kochen, eine geradezu ideale Konstellation, alle sind zufrieden. Sie hält schon bald die Fäden in der Hand und macht sich unentbehrlich für die kleine Familie, nicht lange, dann fahren sie sogar gemeinsam in den Urlaub mit ihrer inzwischen auch zur Haushälterin gewordenen ‹Perle›. Besser kann es gar nicht laufen, scheint es ihnen, - nur der Leser weiß es besser!

Nach und nach erst erfährt man dann in einigen Rückblenden von der Vorgeschichte der Nanny. Deren nichtsnutziger Mann ließ sich jahrelang von ihr durchfüttern und hat ihr bei seinem frühen Tod auch noch einen Berg von Schulden hinterlassen. Die missratene Tochter hat sich im Streit früh aus dem Staub gemacht und den Kontakt zur Mutter völlig abgebrochen. Louise vegetiert nun in einer winzigen, möblierten Wohnung dahin, ihre nur noch Rechnungen und Mahnungen enthaltende Post öffnet sie nicht mehr, auch die Miete ist schon lange rückständig. Die immer adrett und pieksauber auftretende Frau, die alles perfekt im Griff hat, verbirgt geschickt ihre prekäre Situation vor ihren familiären Arbeitgebern. Die einsame Frau offenbart sich auch niemand anderem in ihrer Not, und das Ehepaar ist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auch nur das Geringste zu merken von der Verzweiflung ihrer Nanny.

Der Roman, für den es gleich mehrere authentische Vorlagen gibt, beschreibt sehr eindringlich, wie sich die Verzweiflung von Louise immer mehr steigert, weil sie kommen sieht, dass sie mit dem Älterwerden der Kinder schon bald entbehrlich sein wird. Ein von ihr erträumtes drittes Kind will sich nicht einstellen, eine Zeitlang hat sie sich an diese Hoffung geklammert wie eine Ertrinkende an den Strohhalm. Ihre Angst nimmt wahrhaft groteske Züge an, die soziale Kluft zwischen ihrer zutiefst prekären Lage und dem wohlgefälligen Leben als geliebte Nanny ist aberwitzig, innerlich zerrissen sieht sie irgendwann keinen Ausweg mehr. Leïla Slimani enthält sich jedweder psychologischen Deutung des Geschehens und seiner Vorbedingungen. Ihre holzschnittartige Figuren-Zeichnung trägt zum Verständnis leider wenig bei, die emotionale Tiefe fehlt, und auch der Plot erscheint in mancherlei Hinsicht kaum plausibel. Die Autorin bleibt vielmehr als Berichterstatterin diskret im Hintergrund und lässt die Fakten für sich sprechen. Das im Buchtitel anklingende, sanfte Wiegenlied jedenfalls mutiert in diesem bedrückenden Roman zum reinen Horror. Kein Wunder also, dass der brisante Stoff, in dem es einfache Wahrheiten nicht gibt, inzwischen auch verfilmt wurde.

Bewertung vom 21.03.2021
Krass
Mosebach, Martin

Krass


gut

Sic transit gloria mundi

Im neuen Roman von Martin Mosebach mit dem deskriptiven Titel «Krass» steht ein Machtmensch gleichen Namens auf dem Höhepunkt seines Erfolgs. Krass ist aber auch, adjektivisch wohlgemerkt, der aberwitzige Plot des umstrittenen Büchner-Preisträgers, in dem der Zufall fröhliche Urständ feiert. Wie oft bei diesem Autor ist es eine Geschichte vom Scheitern, hier als Psychogramm eines narzisstischen Machertypen mit einer dominanten physischen Präsenz, ein skrupelloser Waffenhändler. «Er arrangiert die Welt, so wie sie ihm gefällt», hat der Autor seinen Protagonisten charakterisiert.

In Neapel besucht 1988 eine siebenköpfige Reisegruppe eine Zauberschau und trifft später in einem Restaurant auf die als Assistentin beteiligte Lidewine. Ralph Krass, Spritus rector und großzügiger Finanzier der Gruppe, lässt sie von seinem Adlatus Dr. Jüngel an ihren Tisch bitten. Die junge Frau, Inkarnation des «Ewig Weiblichen», wie es im Roman anbiedernd heißt, ist Krass sofort sympathisch. Er weist den assistierenden Kunsthistoriker spontan an, sie als Begleiterin für diese Reise zu engagieren. Alles rein platonisch, Sex ist für die Dauer der Reise – auch für sie – tabu, er braucht sie nur für sein Ego, als dekorative Begleitung. Man besichtigt das berühmte Alexander-Mosaik, in dem sich auch das Motiv des Buchumschlags mit der in ihr Spiegelbild verliebten Bachstelze findet. Anschließend geht es nach Capri, um dort eine zum Verkauf stehende schlossartige Villa anzusehen. Lidewine wird ständig mit teuren Geschenken überhäuft, bis Jüngel zufällig mitbekommt, dass sie einen adonisartigen Hotel-Kellner nachts in ihrer Suite empfängt. Ein eindeutiger Vertragsbruch, sie wird entlassen, die Gruppe zerfällt schlagartig.

Dieser erste Teil des Romans mit dem Titel «Allegro imbarazzante» weist auf das Peinliche des großspurigen Gehabes von Krass hin. Es folgt mit «Andante pensieroso» ein melancholischer zweiter Teil, in dem der arbeitslos gewordene Jüngel vorübergehend Unterschlupf in der französischen Provinz sucht. Dort rekapituliert er die Neapel-Reise und nebenbei auch das Scheitern seiner Ehe. Mit «Marcia funebre» wird im letzten Teil zwanzig Jahre später eine Art finaler Trauermarsch angestimmt. Die Protagonisten treffen in unterschiedlicher Mission in Kairo wieder aufeinander, welch ein Zufall! Krass ist völlig mittellos, er liegt buchstäblich auf der Straße. Jüngel, inzwischen Professor für Urbanistik und nach einer zweiten Ehe wieder geschieden, ist als Forscher in der ägyptischen Metropole. Lidewine wiederum ist dort unterwegs, um eine Galerie zu gründen, in der Superreiche aus den Emiraten ihr überflüssiges Geld in moderne Kunst investieren können.

Martin Mosebach erzählt seine mephistophelische Geschichte in einem altväterlichen Duktus mit Sätzen wie diesem: «Dass sein Körper, so wie er nun einmal war, als Wohnstatt seines Willens höchste Beachtung verdiente, das stand für ihn außer Frage». Die auktoriale Erzählweise wechselt im Mittelteil zur personalen, mit Jüngel als Ich-Erzähler, abwechselnd im Brief oder Tagebuch. Es bleibt offen, ob Krass mit seinen Allmachts-Fantasien unternehmerisch ein Genie ist oder ein Hochstapler. Außer einer nur telefonisch in Erscheinung tretenden Sekretärin gibt es offensichtlich keine weiteren Mitarbeiter. Alle Geschäfte werden rund um den Erdball nur papierlos in Hotels und Restaurants abgewickelt. Der atmosphärisch dichte, bildstarke Roman verdeutlich in seinem spannenden Plot, der letztendlich aber nirgendwo hinführt, das Wesen und die Wirkungen der vergehenden Zeit. Das geschieht in einer eigenwilligen Form, die unübersehbar ironisch gefärbt ist und unterschwellig zuweilen sogar Humor erahnen lässt. Erstaunlich ist jedenfalls, dass dieser ambivalente Roman, in dem sich zwar vieles ereignet, aber nicht wirklich auch etwas passiert, es mit seiner Schadenfroh-Thematik ‹sic transit gloria mundi› auf Anhieb in die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hat.

Bewertung vom 18.03.2021
Insomnia
Andric, Ivo

Insomnia


gut

Vom Bruder des Todes

Im Nachlass des jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andrić fanden sich Notizbücher mit etwa 1500 Einträgen, von denen Michael Martens unter dem Titel «Insomnia» im vorliegenden Band mehr als zweihundert neu übersetzt herausgegeben hat. Der Nobelpreisträger von 1961 litt an Schlaflosigkeit, gehörte als Oneironaut jedoch zu jenen Menschen, die sich im Klaren sind, dass sie träumen und diese Klarträume sogar bewusst herbeiführen können. Was schon der Untertitel «Nachtgedanken» verdeutlicht und die Nachttischlampe auf dem Cover symbolisch unterstreicht. Der Klartraum-Forschung zufolge sind Introvertiertheit und Neugierde typische Persönlichkeits-Merkmale solcher Menschen, und in der Tat trifft denn wohl auch Beides auf den Autor zu.

Das Konvolut nachgelassener Notizen aus den Jahren 1915 bis 1974 war nicht zur Veröffentlichung bestimmt, die einzelnen Texte sind bis auf wenige Ausnahmen undatiert und lassen sich nicht chronologisch lesen. Die vielstimmige Zusammenstellung in diesem Band ist in zwölf Abschnitte aufgeteilt, in denen Notate enthalten sind, die zum überwiegenden Teil aus Reflexionen des Autors bestehen. Sie beschäftigen sich vornehmlich in immer wieder neuen Variationen mit den Qualen der Schlaflosigkeit selbst. Es finden sich darin aber auch viele Erinnerungs-Fragmente, Selbstbetrachtungen, Anmerkungen und Beobachtungen zur Vergänglichkeit, zu Schaffenskrisen, zum Alltaggeschehen. Ferner gibt es Rückblicke in die Kindheit, Begegnungen mit Menschen, Naturbetrachtungen. All das wird noch ergänzt um Kurzgeschichten, Anekdoten und Aphorismen. So schreibt er zum Beispiel über die knarzenden Geräusche, die sein Parkett bei nächtlichen Temperatur-Schwankungen erzeugt, registriert das Abflauen des munteren Gezwitschers der Nachtigallen im Morgengrauen oder berichtet über einen Konzertabend mit Werken von Mozart, Liszt und Brahms. Der eher elegische Schluss bei Brahms baue sich ganz auf das Vorhergehende auf, ganz so, wie er es sich denn auch von seinem Leben erwarte. Und er distanziert sich vehement vom kleinbürgerlichen Leben, «das in nichts Größe, Schönheit oder echte Freude zeigt, weil in ihm alles vergiftet ist von Vorurteilen und befleckt von Berechnungen, die sich noch in die entlegensten Tiefen des menschlichen Lebens hineinziehen».

Der von seinen Dämonen heimgesuchte Autor bezieht sich in puncto Schlaflosigkeit zuweilen auf seine schreibenden Kollegen und Leidensgenossen Franz Kafka und Fernando Pessoa, die er zum Teil wörtlich zitiert. Bei all seinen Selbsterkundungen bleibt Ivo Andrić aber auffallend distanziert, er wird nie wirklich persönlich, man erfährt nichts Intimes von ihm, und auch sein Arbeitsleben wird nicht thematisiert. Seine übermächtigen Selbstzweifel hingegen verdeutlicht der bemerkenswerte Satz: «Wenn ich nicht verzweifelt bin, tauge ich nichts». Keinesfalls hat er seine Meditationen als narrative Selbstzeugnisse aufgefasst, im Gegenteil: «Ein Schriftsteller sollte schreiben und erzählen, aber nicht aus seinem Leben eine Erzählung machen. Die dies tun, versündigen sich an sich selbst und an der Leserschaft, vor allem aber an der Wahrheit».

«Der Schlaf ist ein Bruder des Todes» heißt es im Volksmund, und auch wenn man diesen Spruch in Zweifel zieht, zeugt zumindest dieses düstere Buch von deren existentieller Nähe. Denn der Leser lernt hier einen seelisch gequälten Mann kennen, der sich selbst nicht ganz geheuer ist, ein stoisch resignierender Ivo Andrić voller innerer Spannungen, der sich die Vanitas-Rhetorik vollinhaltlich zu Eigen gemacht hat. Es ist gerade diese zutiefst existentielle Dimension seiner Skizzen, die das uneitle, aufrichtige Selbstzeugnis eines chronisch schlechten Schläfers lesenwert macht. Dass ein solch skeptisches Werk allerdings schwer zu lesen ist und alles andere als Wohlfühl-Literatur darstellt, das liegt auf der Hand. Den nobelpreis-gekrönten Autor grandioser historischer Romane wird man hier kaum wiedererkennen!