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Juti
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HD

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Insgesamt 748 Bewertungen
Bewertung vom 14.06.2022
Der Erinnerungsfälscher
Khider, Abbas

Der Erinnerungsfälscher


sehr gut

gutes Sommerbuch

Eigentlich möchte ich mir noch kein Urteil erlauben, ob ich das Buch eines großen Autors gelesen habe. Dafür müsste er zunächst etwas schreiben, das nichts mit Migration zu tun hat.

Als Einheimischer fehlt in diesem kurzen Werk nichts, was ich nicht mit Flüchtlingen verbinde. Dabei ist unser Protagonist Said integriert – im Gegensatz zu seinem „Schulfreund“, eigentlich ist er nur ein zweiter Araber in seiner Klasse und plant keine Anschläge auf Khufas. Dennoch darf Said nicht mehr in der Bayerischen Staatsbibliothek ausleihen, weil er wegen eines Referats verfassungsfeindliche Bücher ausleihen musste.

Diese kleinen Anekdoten sind die Würze der Geschichte, die auch vom erschwerten Umgang mit der deutschen Polizei handelt. Dieser erscheint aber leicht, wenn man seine Familiengeschichte in seiner Heimat Bagdad bedenkt, wo die Familie seiner Schwester bei einem Terroranschlag ausgelöscht wird. Auch sein Vater hat kein Grab. Er wird als Regimegegner vermisst.


Der traurige Stoff wird in heiterer, lebensbejahender Atmosphäre erzählt. Für 5 Sterne fehlt mir aber das Überraschende, das wirklich Neue. Aber 4 Sterne mit einer Leseempfehlung für unterwegs, da die Kapitel kurz sind und man jederzeit wieder reinkommt.

Bewertung vom 06.06.2022
Zukunftsmusik
Poladjan, Katerina

Zukunftsmusik


gut

Pfingstsonntagbeschäftigung

Ähnlich wie bei „Dunkelblum“ werden hier vier verschiedene Charaktere beschrieben. Doch wird hier nur ein Tag behandelt, der Tag an dem Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wird. Nur kommt der Name Gorbatschow nicht vor.

Vielmehr kommen die Probleme und Freuden des Alltagsleben zum Ausdruck. Mal verliert eine Frau die Wohnung, eine andere wird schwanger, mal will eine nach Paris reisen oder erfreut sich am schönen Nachbarn. Und Männer gibt es auch, aber sie sind mir nicht in Erinnerung geblieben, außer dass Janka nicht weiß, ob Andrej oder Pawel der Vater ihres Kindes ist.

Der Vorteil gegenüber Eva Menasses Buch ist, dass 185 Seiten deutlich schneller zu lesen sind. Aber für die Kürze kann nicht mehr Sterne vergeben. Also 3 Sterne.

Bewertung vom 05.06.2022
Dunkelblum
Menasse, Eva

Dunkelblum


gut

Fehlende Spannung

Lange habe ich überlegt, ob ich dieses Buch überhaupt lesen soll. Aber da ich Eva Menasse als gute Autorin kenne und wegen der Vielzahl guter Kritiken, habe ich mich dazu entschlossen.

Dennoch war es recht mühsam. In diesem Dorfroman kommen unzählige Figuren vor. Mitgefiebert habe ich nur mit zweien: Horka, das Nazi-Ungeheuer, das Ende des Krieges noch zwei Russen platt machte, dann erst Polizeichef wurde, um sich dann ins Ausland abzusetzen.
Und Flocke, die die Kriegsverbrechen an jüdischen Zwangsarbeitern aufklären will, aber auf Widerstand stößt und dann vermisst wird.

Einerseits ist es nicht nötig, sich alle Figuren zu merken, andererseits geht durch diese umfassende Erzählweise die Spannung verloren, so dass 512 Seiten zu harter Arbeit werden. 3 Sterne

Bewertung vom 15.05.2022
Besichtigung eines Unglücks
Loschütz, Gert

Besichtigung eines Unglücks


sehr gut

Spannender Anfang

Der deutsche Buchpreis bot letztes Jahr nicht viel. Dieser hätte 5 Sterne verdient, wenn denn das Ende so wäre wie der Anfang.

Unglaublich spannend berichtet Loschütz über das größte Zugunglück der deutschen Eisenbahn 1939 in Genthin. Er geht selbst den Irrwegen nach, etwa das eine Inversionswetterlage die Sicht behindert hätte. Stattdessen wir deutlich, dass der zweite Lokführer nur wegen der im Krieg befindlichen Kollegen einen Personenzug führen durfte und mehrfach Haltesignale überfuhr. Zuletzt wurde der erste Zug in Genthin angehalten, weil das Signal 4 Sekunden zu früh auf Halt geschaltet wurde.

Auch das zweite Kapitel gefällt mir. Hier wird vor allem das Leben von Clara Finck geschildert, die mit einem Juden in Düsseldorf liiert, im Zug mit einem Italiener reist und sich später als dessen Witwe ausgibt.
Dann aber wechselt der Roman zur Mutter unseres Ich-Erzählers, die aber mit dem Unfall nur insofern zu tun hatte, als dass sie die Briefe Claras gekannt und für die Korrespondenz gesorgt hatte.

Auch wenn das kurze letzte Kapitel alles wieder zusammenführt, ist mir dieser Strang zu dünn und die Familiengeschichte nicht interessant genug. Also 4 Sterne.

Bewertung vom 12.05.2022
Museumsgeschichte

Museumsgeschichte


weniger gut

Spezialliteratur

Heute weiß jeder, das ein Museum nicht nur eine Sammlung von Merkwürdigkeiten ist. Wie eine Ordnung in die Museen kam, kann hier jeder nachlesen, aber wirklich Neues wird man nicht erfahren.

Da ich an kreativen Konzepten interssiert war, von mir nur 2 Sterne.

Bewertung vom 12.05.2022
Das mangelnde Licht
Haratischwili, Nino

Das mangelnde Licht


sehr gut

Düsteres Georgien

Dass ich kein Fan von dicken Schinken bin, habe ich mehrfach gesagt. 830 Seiten ist eine Herausforderung. Aber es lohnt sich.

Das Buch fängt an mit einer Szene von vier Mädels im Botanischen Garten in Tiflis, von denen sich drei Jahre später bei einer Ausstellung von Dinas Fotos in Brüssel wiedersehen. Letztere lebt nicht mehr.

Das erste Kapitel behandelt dann den Hof mit allen Bewohnern, das ist das Quartier in dem die Ich-Erzählerin Keto aufgewachsen ist und schon sind 150 Seiten geschafft. Da ich nicht zurückblättern wollte, machen mir dann zunächst die vielen Namen zu schaffen, aber nach weiteren hundert Seiten kannte ich meine Pappenheimer.

Georgien leidet unter der Transformation vom Kommunismus. Ständig fällt der Strom aus und es ist ein Höhepunkt dieses Werkes wie sie den Stromausfall in der Metro mit zwei der vier Protagonistinnen verbindet. Überhaupt ist die fehlende Sicherheit und die Auswirkungen der veränderten Politik, der beginnende Bürgerkrieg die Stärke dieses Buches.

Zwei Dinge stören mich jedoch. Manchmal diskutieren die Frauen über das Geschehen, das die Leserin bereits kennt. Hier hätte wirklich gekürzt werden können. Und dann ist die Geschichte im Zoo, die die FAZ spoilert. Ich will das nicht tun, halte auch nicht die Gewalt für unglaubwürdig, sondern Dinas Menschenliebe. Die Zooerzählung ist aber in der Tat prägend für den Rest des Buches.


Mir gefällt, wie die Autorin anhand der Bilder der Ausstellung die Vergangenheit rekonstruiert. Ich mag auch ihren Stil. 4 Sterne sind absolut gerechtfertigt.

1 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.05.2022
Serge
Reza, Yasmina

Serge


gut

Was Peter Handke nicht schreiben sollte

Keine zehn Bücher ist es her, dass ich bei der jungen niederländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld sicher war, dass Handke Ärger bekommen, wenn er dasselbe Buch geschrieben hätte.
Gleiches gilt für Serge. Aber zum Glück stammt die französische Autorin aus einer jüdischen Familie und wer ihren Wikipedia-Eintrag liest, wird nicht umhinkommen in den chaotischen Poppers autobiografische Züge zu vermuten.

Auf meine Leseliste kam Serge, weil ich von einer satirischen Darstellung einer Reise nach Auschwitz hörte und mich auf Ähnliches wie in Robert Menasses „Hauptstadt“ freute. In der Tat ist das der Höhepunkt des Buches und nein als Skandal eignet es sich nicht. Mir hat es gefallen wie sie das Erlebnisinteresse der Touristen mit ständigem Handyklingeln und Fotowahnsinn schildert und wie sie das historische Desinteresse auch in der jüdischen Familie veranschaulicht. Aber wenn das Wort Vernichtungslager mit Nichts oder die Desinfektionsräume mit Sauna beschrieben werden kann von Verharmlosung nicht die Rede sein.

Leider sind nur etwa 30 Seiten der Reise gewidmet. Wenn die FAZ von „Meisterschaft der gestörten, lückenhaften Dialoge“ könnte ich dem zustimmen, wenn nicht ausgerechnet diese Meisterschaft das Leseerlebnis schmälern würde. Auf Seite 149 habe ich mich zum Beispiel gefragt, wo die lange wörtliche Rede eigentlich beginnt, die mit Herzchen aufhört. Da ich trotz minutenlanger Suche die Lösung nicht gefunden habe, freue ich mich über Kommentare.
Und wie bei Annie Ernaux fehlt jede Gliederung, allein Ernauxs Bücher sind deutlich kürzer.

Eigentlich schade, dass ich außer den Kindern den Überblick über die Personen verloren habe. Denn ihre Beschreibung des Schachspiels mit dem Schachspruch des Vaters: „Ein König der Spiele, ein Spiel der Könige“ ist meisterlich. „Da wurde Partien von Spassky, Fischer , Capablanca, Steinitz und anderen analysiert, aber sein Held, dessen Noblesse und Unerschrockenheit er unablässig pries, war Mikhail Tal, das Genie des Opferns, der Alexander der vierundsechzig Felder. Die ganzen russischen oder tschechischen Champions sind Juden, erklärte er uns. Und wenn der Typ kein Jude war, war er trotzdem Jude.“ (71f)
Als Schachtrainer werde ich diese Idee des Vaters übernehmen: „Sobald er sich bedroht fühlte, sagte er, oh, interessant, sehr interessante Situation! Analysieren wir die Varianten! Er verwandelte die Partie in eine Übung, sie wurde völlig neutral, und keiner gewann sie mehr.“ (72) Das passt zu der Schlussfolgerung: „Im Schach zu verlieren war bei uns eine niederschmetternde Demütigung.“ (72)


All diese schönen Zitat können nicht verhindern, dass Serge von mir wegen des fehlenden roten Faden, der außer in Auschwitz Familienkomödie mit Längen nur 3 Sterne erhält.

Bewertung vom 02.05.2022
Eine runde Sache
Gardi, Tomer

Eine runde Sache


weniger gut

Wo ist Christine Westermann?

Wieso bekommt ein Roman in schlechtem Deutsch einen Preis. Offenbar haben die gelehrten Literaturkritiker die Nase voll von unserer Schriftsprache. Dann hört man Sätze wie „Der Autor geht spielerisch mit der Sprache um.“ Aber ich will fragen, welchen Mehrwert das schlechte Deutsch hat? Hätte es die erste Geschichte ins Buch geschafft, wenn sie korrekt geschrieben wäre? Gut, der Witz des Schäferhundes, der wegen der Maulkorbvagina nur den Vokal „ü“ kennt, wäre vielleicht schwächer, aber sonst.

Da lobe ich mir Christine Westermann, die – zwar längst nicht so rhetorisch geschliffen wie die anderen Literaten – immer die Leserinnen mit im Auge hatte. Welcher Leser will denn einen Text lesen, der klassisch ausgedrückt von Fehlern nur so wimmelt? Mit Frau Westermann in der Leipziger Jury hätte dieses Buch keinen Preis bekommen.

Will der Autor einen Migrantenbonus? Ich wünsche ihm lieber eine Lektorin, die den ersten Teil lesbar macht. Dann rätseln die Kritiker, wie beide Teile zusammenhängen. Ich möchte darauf hinweisen, dass auch im zweiten Teil der Buchstabe e sehr häufig vorkommt.

Immerhin ist die zweite historische Geschichte von Indonesier Saleh, der für die niederländischen Kolonialherren nach Europa kommt nicht ganz uninteressant, wenn auch nur die Geschichte um die Erfindung des Dampfmotor bei Schiffen und bei der Eisenbahn mich wirklich vom Hocker rissen. Immerhin kann ich so guten Gewissens 2 Sterne vergeben.

Bewertung vom 26.04.2022
Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen
Kermani, Navid

Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen


ausgezeichnet

Einführung in die Theologie

Was wie ein Sachbuch klingt, wird dank der Kunst des Autors zu großen Literatur. Kermani erklärt seiner Tochter seine Religion mit sehr viel Witz. Er weist aber auf den Irrtum hin, dass die Theologie nur die Erklärung, nicht die Religion sei (vgl.66).

Zunächst behandelt er unterschiedliche Gottesbilder, sei es die große Unendlichkeit im Weltall oder die kleine in der Quantenphysik, sei es sein Wirken in der Natur, bis hin zur Vorsicht mancher Sufis keine Ameise zu zertreten, sei es der Atem der uns lebendig macht. „ ‚Geist‘ oder ‚Atem‘ wäre[..] eine Umschreibung von Gott“ (19). In anderen Sprachen wird nämlich zwischen Geist und Atem nicht getrennt.

Kermani erklärt den Islam, der anstatt vom Bekenntnis lieber vom Zeugnis spricht und auf fünf Säulen beruht: die Einheit Gottes, das Prophetentum, die Vernunft, die Gerechtigkeit und dem Auferstehungsglauben. Glaube sei Dankbarkeit (192).

Er würzt seine Erklärungen mit zahlreichen Anekdoten, die titelgebende ist oft zitiert. Ich erinnere daher an den Rabbi, zu dem zwei streitende Männern zur Schlichtung kamen. Er gab beiden Männern recht. Da rief seine Ehefrau aus einem Nebenraum, er können nicht beiden recht geben. Nach langem Überlegen gab der Rabbi auch ihr recht (35).

Fundamentalismus lehnt der Kölner klar ab. Er zitiert einen Gelehrten, der Koran sei nur eine Schrift zwischen zwei Deckeln, erst die Menschen bringen ihn zum Sprechen (38).
Nach etwa 80 Seiten beginnt die inhaltliche Diskussion, vor allem im Vergleich zum Christentum. Der Mensch werde im Islam nicht als Ebenbild, sondern als Stellvertreter oder Nachfolger Gottes geschaffen. Gott nur als Barmherzigen zu sehen, verengt das Gottesbild, wenngleich religiöse Opfer kritisch zu sehen sind.

Sein Christentum ist aus Kölner Sicht katholisch. So bezeichnet er das Christentum als Religion der Bilder, vergisst also die Calvinisten, und bezeichnet den Islam sinngemäß als Religion des Wortes. Kermani schreibt, dass er vom Theologen Graf beraten wurde, aber die christliche Erbsünde (172) hätte ich ihm besser erklären können. Sie ist eher eine Erblast als eine Sünde.

Er spricht sich gegen eine Änderung der Texte in eine geschlechtergerechte Sprache aus (167), vor allem, weil man nicht wisse, was man in Zukunft alles ändern müsse, wenn man einmal damit anfinge. Und er lobt Goethe für seine Marienbader Elegie und seinen Diwan für sein Islamverständnis und interpretiert seine „Talismane“.

Der Autor wundert sich, dass wir von Kalifin sprechen müsste, weil das Wort im Arbabischen seltsamerweise weiblich ist. Die Mystekerin Rabia wird zitiert: „Ich will die Hölle löschen und das Paradies verbrennen, damit Gott nur noch für seine ewige Schönheit geliebt wird.“ (207) und ich schließe mit Carl Friedrich von Weizsäcker, der über die Bibel sagte, was auch für den Koran gilt: „Du kannst den Koran entweder ernst nehmen oder wörtlich.“ (210)

Obwohl ich gerade die christliche Religion einige Unklarheiten enthält – ich möchte das Wort Fehler nicht in den Mund nehmen – habe ich über den Islam so viel gelernt, dass ich an 5 Sternen nicht vorbei komme.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.04.2022
Ungläubiges Staunen
Kermani, Navid

Ungläubiges Staunen


ausgezeichnet

Theologie mit Kunstgeschichte

Auch nach Jahren ist mir dieses Buch noch in Erinnerung. Der Autor
beschreibt religiöse Bilder und verbindet so die Kunstgeschichte mit der Theologie.

Alle Kapitel sind interessant, ich erinnere mich aber besonders an die Opferung des Isaak, bei der der Engel dem Vater Abraham mit einem kleinen Fingerzeig deutlich macht, dass er nicht seinen Sohn opfern soll.

Ferner fällt mir die Auferweckung des Lazarus ein, der eigentlich gar nicht auferweckt wollte. Kermani lud mich quasi zur zweiten Lektüre der Perikope ein. In der Tat würde ich diese Geschichte heute als biblische Satire bezeichnen.

Wenn ein Buch es schafft, Bekanntes aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten, dann sind volle 5 Sterne gerechtfertigt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.