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meerblick

Bewertungen

Insgesamt 452 Bewertungen
Bewertung vom 13.08.2024
Ich komme nicht zurück
Khayat, Rasha

Ich komme nicht zurück


ausgezeichnet

Prägende Verletzungen

Hanna oder Johanna, wie ihr Vorname laut Geburtenverzeichnis korrekt lautet, die Ich- Erzählerin des Romans, leidet. Sie leidet unter Einsamkeit, ja eigentlich auch darunter, dass die schönen und unbeschwerten Zeiten der Kindheit, der Vergangenheit angehörten. Damals war die Welt noch in Ordnung. Der Reichtum an Liebe und Geborgenheit schien in übergroßem Maße vorhanden zu sein, abgesehen von kleinen Eifersüchteleien, die sich vielleicht dennoch verankerten im heranwachsenden Bewusstsein der Protagonistin. Materielle Defizite spielten so gar keine Rolle im Leben der drei Freunde aus Kindertagen, die aus unterschiedlichen Kulturkreisen stammen. Die innere Verbundenheit von Hanna, Cem und Zeyna konnte, das war ihre feste Überzeugung, nichts erschüttern und doch hatte das Schicksal Stolperfallen zurechtgelegt, die tiefe Verletzungen, Kerben in die Seelen schlagen sollten.
Ein aufwühlender, sehr sensibler Roman, gebaut aus präzise konstruierten Charakteren erwartet den Lesenden von 'Ich komme nicht zurück'. Die Autorin Rasha Kahyat weiß eine Geschichte zu erzählen, die so überall in Deutschland hätte passiert sein könnte, ob nun verstärkt durch die Isolation in Pandemiezeiten oder durch andere schicksalsbehaftete Lebenswege. Einsamkeit sucht nach Verbundenheit, Stärke und Halt. Die stilistischen Mittel sind in gekonnt schriftstellerischer Art eingesetzt, poetisch betont, um die Spannung als auch den unterhaltenden Wert brillant in Szene zu setzen zur Freude des Lesers.
Was soll ich sagen? Lesen, dieser Roman will gelesen werden.

Bewertung vom 12.08.2024
Am Meer
Strout, Elizabeth

Am Meer


ausgezeichnet

Ein Roman der leisen Töne

Elizabeth Strout ist eine brillante Erzählerin, was sie auch wieder in ihrem Roman 'Am Meer', dem vierten Teil der Lucy Barton Reihe unter Beweis stellt. Sie packt das Thema Corona-Pandemie, welches uns alle auf eine unendliche Geduldsprobe gestellt hat, in eine Geschichte mit empathischen Protagonisten und pittoresken Landschaften. Doch auch kritische Töne wie das Dulden von Fremden in der heimatlichen Umgebung schlägt sie an und zeigt damit Grenzen der Toleranz auf. Ihre scharfe Beobachtungsgabe und ihr feines Gespür für die Handlungen der Menschen verleihen dem Buch eine ganz besondere Note, die den Lesegenuss zum Erblühen bringen.
Lucy ist Schriftstellerin, lebt in New York allein in ihrer Wohnung, nachdem sie von ihrem ersten Ehemann William geschieden wurde und ihr zweiter Ehemann verstorben ist. Zu William pflegt sie ein freundschaftliches, zu ihren beiden Töchtern ein entspannt mütterliches Verhältnis. Als die stark infektiöse Bedrohung des Corana-Virus auch die Millionenstadt New York droht in die Knie zu zwingen, packt William Lucy kurzerhand in sein Auto und bringt beide aus der unmittelbaren Gefahrenzone. Sie richten sich ein in einem leerstehenden wunderschönen Haus am Meer, im malerischen Crosby (Maine). Welche Wandlungen sie in der Abgeschiedenheit durchleben, wie sich ihre Gedankenwelt verändert, aber auch wie Sorge und Ängste sie plagen, erzählt dieses bezaubernde Buch in leisen Tönen.
Es braucht keine Vorerfahrung vorangegangener Romanteile, um in die Geschichte eintauchen zu können. Ich gebe sehr gern meine Leseempfehlung.

Bewertung vom 12.08.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


sehr gut

Wo beginnt geistiger Diebstahl?

June Hayward und Athena Liu kennen sich flüchtig aus Zeiten des gemeinsamen Collegebesuches. Während Athena der gefeierte Jungstar am Literaturhimmel ist, gefragt bei den Verlagen und in den Social-Media-Kanälen gehyped, floppt das Erstlingswerk von June komplett. Als Athena unter tragischen Umständen ums Leben kommt und June in den Besitz ihres unveröffentlichten Romans gelangt, beginnt für sie ein neues Leben, indem sie das Manuskript umarbeitet und es unter ihrem Künstlernamen veröffentlicht wird. Ein Traum wird wahr, doch zu welchem Preis?
Rebecca F. Kuang erzählt in ihrem Roman 'Yellowface' eine Geschichte, die schonungslos ehrlich hinter die Kulissen der Verlagsbranche blickt. Was zählt sind Verkaufszahlen, die gepusht werden mit allen Mittel, die die modernen Medien bieten. Menschliche Schwächen sind fehl am Platz, stete Präsenz am Markt ist gefragt, um nicht in Vergessenheit zu geraten.
Die Geschichte lebt vom erzählerischen Tempo, dem konfliktreichen Potenzial menschlicher Verhaltensweisen unter dem Einfluss der weltweit vernetzten Medien und nicht zuletzt auch durch die fabelhafte Darstellung der Charaktere, die sich durch einen scharfen Blick auf die uns umgebende Wirklichkeit auszeichnen.

Bewertung vom 12.08.2024
Komm tanzen!
Jay von Seldeneck, Lucia

Komm tanzen!


sehr gut

Wo tanzen wir hin?

Es ist eine laue Sommernacht, die geradezu einlädt zum Tanzen, die Sorgen beiseite zu lassen, sich dem Genuss des unbeschwerten Vergnügens hinzugeben. Ein Grundstück direkt am Berliner Wannsee bietet genug Platz und die Besitzer versammeln ihre Freunde und Bekannten zum ausgelassenen Beisammensein. Vorbei ist die Zeit der Isolation durch die Corona-Krise. Doch sind wir wirklich frei von unseren Alltagsproblemen an solchen Tagen? Offensichtlich haben die Auswirkungen der klimatischen Veränderungen auf unsere Umwelt auch einen direkten Einfluss auf unser Wohlbefinden. Ein Thema, dass aufgeworfen wird in der illustren Runde durch das Verhalten eines kleinen Jungen, der Veränderungen des Klimas intensiv körperlich wahrnimmt und durch extremes Gebaren auf sich aufmerksam macht. Der Abend endet schließlich unvorhergesehen.
Lucia Jay von Seldeneck spielt mit Metaphern in ihrem Roman 'Komm tanzen!', in dem sie eine scheinbar unbeschwerte Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt, die Versäumnisse erkennt, die Zeit als unendliches Reservoir betrachtete, die Langeweile bekämpft durch Zerstreuung und schließlich doch mit den Folgen, wie auch immer sie geartet sind, zu leben hat. Stellen wir uns der uns übergebenen Verantwortung für unser Leben im angemessenen Maße? Haben wir alles im Blick?

Bewertung vom 12.08.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


ausgezeichnet

Genetische Vorbestimmung

Valerie ist die Tochter von Christina und Christina liegt wegen einer Krebserkrankung im Krankenhaus. Es ist schwierig, ihr auch nur irgendeine Sache recht zu machen. Die Beziehung zwischen Tochter und Mutter war zu keinem Zeitpunkt harmonisch, ganz im Gegenteil. Aber auch das Verhältnis zwischen Christina und ihrer Mutter Martha war äußerst problematisch, weil Martha keine Kinder haben wollte und aus diesem Grund den ersten beiden ablehnend gegenüberstand. Nur der Letztgeborene mit schwierigem Charakter erreicht ihre Aufmerksamkeit. Dieses Desinteresse am Familiennachwuchs wird über Generationen weitergegeben. Doch Valerie will dieses Muster durchbrechen, denn sie hat in ihrer Jugend sehr unter der Lieblosigkeit gelitten. Aber nun will ihr sechzehnjähriger Sohn Tobi hinaus in die Welt zum Schüleraustausch, was der Helikoptermutter so gar nicht ins Konzept passt. Baut sich da ein neuer, aber andersartiger Konflikt auf?
Felicitas Prokopetz beschenkt uns mit ihrem Debütroman 'Wir sitzen im Dickicht und weinen' durch ihre wunderschöne, feinfühlige Art ein Thema anzugehen, dass sogleich berührend als auch erschütternd ist. Das Buch stellt sich der Frage wieviel Kraft es kostet, sich aus dem Korsett der familiären Prägung der Unfähigkeit menschliche Nähe zu geben, die über viele Jahrzehnte aufgebaut wurde, zu befreien.
Ich wünsche dem Roman eine interessierte und diskussionsfreudige Leserschaft.

Bewertung vom 07.08.2024
Das erste Licht des Sommers
Raimondi, Daniela

Das erste Licht des Sommers


sehr gut

Eine berührende Familiengeschichte

Man muss nicht unbedingt 'An den Ufern von Stellata' gelesen haben, um in 'Das erste Licht des Sommers' eintauchen zu können. Die Teile der Familiengeschichte lassen sich unabhängig voneinander lesen. Daniela Raimondi, die Autorin, erzählt die Geschichte der Familia Casadio über mehrere Generationen hinweg, verbindet gekonnt Erzählstränge aus unterschiedlichen zeitlichen Epochen miteinander und gestattet tiefe Einblicke in die Charaktere ihre Protagonisten. Der Roman beschäftigt sich mit Thematiken wie Freundschaft, mit Erwachsen werden und mit der Wandlung von Gefühlen im Laufe des Lebens. Melancholisch mit tiefgreifenden Emotionen zeigt sich dieser Roman.
Obwohl es einer der kältesten Tage des Jahres war als Norma zur Welt kam, bescheinigte ihr die Hebamme eine Schönheit wie das erste Licht des Sommers. Gemeinsam mit ihrer Cousine Donata wächst sie bei der liebevollen Großmutter Neve auf. Mit Elia verbindet die beiden eine herzliche Freundschaft während ihrer Kindheit. Als Norma nach England geht, verlieren sich die drei Freunde aus den Augen. Doch als sie vom Tod Donatas erfährt, bricht für sie eine Welt zusammen. Elia fängt sie auf und aus Freundschaft wird Liebe. Doch hat diese Verbindung Bestand?

Bewertung vom 05.08.2024
Artemisia Gentileschi und Der Zorn der Frauen
Jaskulla, Gabriela

Artemisia Gentileschi und Der Zorn der Frauen


ausgezeichnet

Portrait einer Künstlerin

Gabriela Jaskulla gelingt es, mit ihrer Romanbiografie 'Artemisia Gentileschi und der Zorn der Frauen' ein bemerkenswertes Portrait einer Künstlerin aus der Zeit des Barocks wiederzubeleben und vor dem Vergessen zu bewahren. Der Autorin schafft mit viel Feingefühl und Sachkenntnis zur historischen Epoche, eine starke Frau in Szene zu setzen, die weiß was sie will, die neben malerischem Talent Kraft und Mut besitzt, ihren Weg im Rahmen ihrer Möglichkeiten in der matriarchalisch besetzten Welt zu gehen. Mit sprachlichem Geschick versetzt sie den Leser in das lebhafte italienische Umfeld der blühenden Städte wie Rom, Florenz, Venedig, Neapel, in eine Gesellschaft, die geprägt ist von frauenfeindlichen Werten.
Die Protagonistin Artemisia leidet bereits in sehr jungen Jahren unter männlicher Gewalt, wird zwangsverheiratet, steht immer wieder auf, nimmt sich ihrem Schicksal an und lebt für die Kunst, für ihre Kunst. Eben diese Gemälde werden ausführlich, meisterlich in der Geschichte beschrieben. Es ist einfach ein Genuss dem zu folgen, der Fantasie freien Lauf zu lassen oder die Bilder zu bestaunen. Das Cover gibt einen kleinen Einblick in die bezaubernde Welt der Artemisia.
Ich kann dieses Buch sehr gern weiterempfehlen und wünsche viel Vergnügen beim Lesen.

Bewertung vom 05.08.2024
Und dahinter das Meer
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


ausgezeichnet

Fremde Heimat

Die Angst ums nackte Überleben bestimmt die Gefühlswelt der Londoner in den Septembertagen des Jahres 1940, als Teile der Stadt im deutschen Bombenhagel vernichtet werden. Familien bangen um die Sicherheit ihrer Kinder. Dieser Verzweiflung folgend, willigen sie schweren Herzens ein, ihre Kinder auch in Gastfamilien zu geben, die weit entfernt von der Heimat in den Vereinigten Staaten von Amerika ihr zu Hause haben. Eine unsagbar schwere, grausame Entscheidung, die ins Ungewisse führt, die nach dem sich bietenden Strohhalm packt, die Herzen bricht, die das Leben der Heranwachsenden schützen soll. Doch zu welchem Preis?
Die Autorin Laura Spence-Ash greift in ihrem Debütroman 'Und dahinter das Meer, die Idee der Verschickung von Kindern zum Schutz vor feindlichen Übergriffen der Nazis auf und erzählt die Geschichte der elfjährigen Beatrix aus London, die die weite Reise mit dem Schiff über den Atlantik nach Boston antritt. Aus ihrer Sicht und aus der Sicht von Reginald und Millie, den Eltern der kleinen Bea, von Ethan und Nancy, den Gasteltern, von William und Gerald, den Söhnen des amerikanischen Ehepaars, werden in kleinen Absätzen, die Gefühle und Gedanken der Protagonisten beschrieben. Empathisch, herzzerreißend erlebt der Leser gute und schlechte Tage, Tage sehnsüchtiger Erinnerungen, Tage unbeschwerter Freude und Glücks, Tage der Trauer und schließlich Tage der Zerrissenheit. Ein wunderschöner Roman, der trotz seines problembelastenden Inhalts, wertvolle Lesestunden beschert, in einer langsamen und bildhaften Sprache.

Bewertung vom 02.08.2024
VERMINTE HEIMAT
Gantis, Ruben

VERMINTE HEIMAT


sehr gut

Fremde Heimat

Ruben Gantis schildert in 'Verminte Heimat' ein Südafrika fernab der Vorzeigelandschaft mit den Wildparks und tüchtigen Rangern, welches den Touristen und Besuchern präsentiert wird. Er schreibt über ein Land, das geprägt ist von Korruption, dem Wunsch in die Zeiten der Apartheit zurückzufallen, von den noch immer rassistischen Anfeindungen trotz vermeintlich demokratischem Wandel und vom wachsenden Einfluss der Chinesen auf die Wirtschaft. Ungeschönt spricht er über die Gier nach dem glänzenden Metall, dem Gold, ein Statussymbol für Wohlstand und Macht.
Jaron sucht nach dem Tod seiner Frau Zuflucht in der alten Heimat, will sich in Südafrika nach zwanzig Jahren eine neue Existenz und ein Leben im Kreise seiner verschollenen Familie aufbauen. Dabei gerät er in gefährliches Fahrwasser. Denn falsche Freunde nutzen seine Arglosigkeit aus.
Es lohnt sich, einen Blick hinter die Kulissen der fernen Welt zu werfen.

Bewertung vom 02.08.2024
Unglücklichsein (MP3-Download)
Kafka, Franz

Unglücklichsein (MP3-Download)


ausgezeichnet

Kafka mal anders

Es ist eine schöne Idee, Klassiker der Literatur in einem Hörbuch zu verarbeiten und damit einen erleichterten Zugang zur anspruchsvollen, fast schweren Kost zu erhalten. Bernd Mannhardt liest 'Unglücklichsein' von Franz Kafka, eine kurze Geschichte, die von einem ungewöhnlichen Besuch berichtet und die Reaktion, die Gedanken, eines einsamen Mannes darauf festhält. Düster fast unheimlich gestaltet sich diese Begegnung. Die Atmosphäre wird wunderbar durch die Stimme des Sprechers eingefangen und wiedergegeben.
Es lohnt sich, dieser Vertonung Gehör zu schenken.