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sleepwalker

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Insgesamt 538 Bewertungen
Bewertung vom 02.09.2020
Hypochonder leben länger
Hein, Jakob

Hypochonder leben länger


weniger gut

Ein unterhaltsames Buch über sein Leben als Psychiater zu schreiben, das war wohl die Intention von Jakob Hein mit seinem Buch „Hypochonder leben länger“. Teilweise hat er es auch geschafft, teilweise aber auch nicht. Er schildert, unterfüttert mit Geschichten aus seinem professionellen Alltag, seine Arbeit, die Probleme und Freuden, die sie mit sich bringt, vom Studium angefangen bis hin zur Selbstständigkeit. Außerdem schreibt er über einige fachtheoretische Aspekte seiner Arbeit. So weit, so interessant. Aber leider schafft der Autor für mich den Spagat zwischen Fach- und Unterhaltungsbuch nicht wirklich, er rutscht mal in die eine, mal in die andere Richtung, was mich als Leser manchmal etwas unbefriedigt zurückließ. Zwar spricht er den Leser immer wieder direkt an (er siezt ihn auch sehr höflich), aber trotzdem fand ich mich bei dem Buch außen vor.
So befindet er sich beruflich ebenfalls in einem Spagat aus Arzt, Zauberkünstler und Orakel. Seit über 20 Jahren ist er als Kinder- und Jugendpsychiater selbstständig und scheint, so kann man es aus dem Buch herauslesen, mit seinem Beruf zufrieden und glücklich zu sein. Allerdings werden auch kritische Zwischentöne laut und immer wieder kam bei mir während der Lektüre die Frage auf, was mir der Autor mit dem Buch eigentlich sagen will. Wie schwer sein Beruf ist? Ja, es ist an manchen Stellen schon ein bisschen Gejammer herauszulesen. Und dazwischen für mich leider kaum Neues, außer vielleicht, dass er als Psychiater auch Zahnschmerzen behandeln dürfte („Interessanterweise dürften wir Psychiater aufgrund der sogenannten Kurierfreiheit auch zahnärztliche Behandlungen vornehmen“). Das gruselte mich dann doch sehr.
Interessant fand ich seinen (leider sehr kurzen) Exkurs zu Hochbegabung und Hypersensibilität, seine Ausführungen über Placebo und Nocebo und die Tatsache, dass Psychiater oft auf Vorurteile und Ressentiments stoßen (dass sie alle „einen an der Klatsche haben“), Hypochonder tatsächlich länger leben (weil sie öfter zum Arzt gehen) und in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Menschen „wie Sie und ich“ herumlaufen, war mir alles nicht neu. „In jedem Fall finde ich meine Patientinnen und Patienten nicht unnormal“ – das will ich doch wohl hoffen! Schließlich wird seit Jahrzehnten gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen gekämpft! Aber seine Abneigung gegen Prominente bringt er auf jeden Fall sehr deutlich und mehrfach zum Ausdruck.
Das Buch zeigt ehrlich die Probleme, aber auch die Chancen der Psychiatrie auf. Allerdings fand ich es nur leidlich interessant, aber weder unterhaltsam oder gar lustig. Als Grundlage für interessierte Leser sicher geeignet, für diejenigen, die schon grundlegendes Wissen haben ist es zu seicht und zu kurz gegriffen. Sprachlich fand ich das Buch nicht schlecht, aber ganz sicher auch nicht gut. „In den Zeitschriften gab es Berichte von Experten, die allein aus der Körperhaltung, in welcher ein Mensch im Bett schläft oder wie er sich einen Kaffeekrümel von der Lippe zupft, ablesen konnten, welche sexuellen Fantasien der Krümelzupfer zu verbergen suchte“ – was muss man beim Kaffeekochen denn alles falsch gemacht haben, damit man Kaffeekrümel an der Lippe hat? Und das war leider nicht die einzige unlogische Passage. Wenn das Buch abgesehen von diesen Holprigkeiten wenigstens Informationswert gehabt hätte, hätte ich von Herzen gern mehr als 2 Punkte gegeben, so bleibt es aber leider dabei.

Bewertung vom 02.09.2020
Sandner, Carolin

"Hauen Sie sich auf die Flöte und singen Sie!" Einblicke in den Alltag einer Logopädin


ausgezeichnet

„Hauen Sie sich auf die Flöte und singen Sie“ – wen würde der Titel des Buchs von Carolin Sandner nicht neugierig machen? Und da ich über den Alltag einer Logopädin ohnehin so gut wie nichts wusste, bot sich die Lektüre geradezu an. Und ich wurde nicht enttäuscht.
Alles in allem ist das Buch eine mehr oder weniger beliebige Aneinanderreihung von Anekdoten aus Carolin Sandners beruflichem Alltag. Daher kann ich auf den Inhalt hier auch gar nicht wirklich eingehen. Von Schlaganfallpatienten, MS- oder ALS-Kranken, Menschen mit Parkinson oder Kieferfehlstellungen – alle sind beim Logopäden gut aufgehoben, denn Logopäden können so viel mehr als Lispeln oder Stottern behandeln. Die Autorin beschreibt bildhaft, manchmal zu bildhaft, die Menschen und die Krankheitsbilder, mit denen sie es zu tun hat. Zu bildhaft fand ich nämlich manchmal negative Aspekte beschrieben, vor allem, wenn es um Übergewicht oder, ganz besonders, um Körperausdünstungen geht. Natürlich ist es nicht angenehm, wenn der Gegenüber schlecht riecht, allerdings gehört das zum Leben und ich fand die Beschreibungen der Autorin manchmal herablassend, fast arrogant. Eines muss man allerdings sagen: sie hat (zumindest laut der Geschichten) nie jemanden im Regen stehen lassen. Jeder bekam seine Therapie – wenn auch nicht unbedingt von ihr.
Aber alles in allem fand ich das Buch eine gelungene Mischung aus Hintergrundwissen über Krankheiten und Störungen, die Menschen zum Logopäden bringen und Geschichten, die das (Berufs-)Leben so schreibt. Und wirklich überrascht hat mich, was alles zur Logopädie-Ausbildung gehört, denn „Neurologie/Psychiatrie, Phoniatrie einschließlich Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Audiologie und Pädaudiologie, Berufs-, Gesetzes- und Staatsbürgerkunde“ gehören ebenso dazu, wie Logopädie, die sich wiederum aus Aphasie, Dysarthrie, Dysphagie, Laryngektomie und Kindersprache zusammensetzt.
Manche Geschichten sind lustig, andere traurig und andere lassen einen mit einem Kopfschütteln zurück. Aber jede einzelne ist lesenswert und durchaus unterhaltsam. Ich habe aus diesem Buch (das eine Mischung aus Sachbuch und Kurzgeschichtensammlung ist) eine Menge neues Wissen mitnehmen können. Das Buch ist flott geschrieben, wie der Autorin der Schnabel gewachsen ist, viel Umgangssprache und Essener Platt. Charmant, wenn man es mag. Nur eines, und da geht mein Gruß an die Autorin und das Lektorat: die Übung am Stufenbarren heißt Felgaufschwung, nicht Feldaufschwung. Aber sonst fand ich das Buch sehr gut und vergebe gerne 5 Sterne.

Bewertung vom 02.09.2020
Simone de Beauvoir
Kirkpatrick, Kate

Simone de Beauvoir


ausgezeichnet

Ich gebe zu, Simone de Beauvoir kannte ich vor der Lektüre des Buchs nur deshalb, weil sie eine Beziehung zu Jean-Paul Sartre hatte, dessen Buch „Geschlossene Gesellschaft“ ich wiederum in der Oberstufe gelesen habe. Aber natürlich war Simone de Beauvoir viel mehr als „Freundin von“. Sie war selbst eine äußerst bemerkenswerte und interessante, eigenständige Persönlichkeit.
Kate Kirkpatrick hat in ihrer Biografie Simons de Beauvoirs Leben und Werk in einer ansprechenden Art beschrieben. Lesbar, verständlich und tatsächlich auch durchaus unterhaltsam, gespickt mit Fußnoten und unzähligen Querverweisen – eine gelungene Mischung aus Sachbuch und Roman.
„Beauvoirs Memoiren zufolge sagte Sartre Beauvoir im Herbst 1929, sie sei ein Doppelwesen.“ – das Gefühl hatte ich beim Lesen der Biografie immer wieder. Schon in ihrer Kindheit war Beauvoir hin- und hergerissen zwischen ihrem Wissensdurst und ihrer Rolle als katholische Tochter, „Bildung und Erfolg hätten ihr nicht nur Achtung eingebracht: Sie waren auch mit Gefühlen tiefer Einsamkeit und Orientierungslosigkeit verbunden.“ Das setzte sich später fort, als sie nach abgeschlossenen Studien versuchte, sich in der Welt und vor allem auch in der Welt der Philosophie einen Namen zu machen und sich zu emanzipieren. Ihr Bestreben war es, einen eigenen Weg zu finden und zu gehen, sich von keinem sagen zu lassen, was und wer sie sein sollte. „So sah sich Simone mit widersprechenden Erwartungen konfrontiert: Um als Frau erfolgreich zu sein, musste sie kultiviert und gebildet sein; aber nicht zu kultiviert, nicht zu gebildet“, sie wollte raus aus der Frauenrolle und sich ihrem Vater beweisen, der Schopenhauers Einstellung teilte, der Frauen als „das zweite Geschlecht“ bezeichnete und vermutete, dass „Frauen Talent haben könnten, aber niemals Genie“. Und auch in ihrer Beziehung zu Sartre war sie immer zwiegespalten.
Kate Kirkpatrick hat mit ihrem Buch ein ganz herausragendes Werk über eine herausragende Persönlichkeit geschaffen, eine Persönlichkeit, die (viel zu) lange nur als „Freundin von“ bekannt war. Manchmal ist das Buch etwas trocken und zu sachlich, die wahre Persönlichkeit Beauvoirs kann man dann eher erahnen als herauslesen. Aber alles in allem fand ich das Buch gut zu lesen, unterhaltsam und vor allem aufschlussreich. Ich habe definitiv viel daraus mitnehmen können. Über die Philosophie im Allgemeinen, Sartre und Beauvoir im Besonderen und fast noch mehr über Zeitgeist und Emanzipation. Simone de Beauvoir war so viel mehr als „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“, denn man wird auch nicht als feministische Ikone geboren, sondern erarbeitet sich diese Bezeichnung hart und ausdauernd. Nicht nur einmal habe ich beim Lesen darüber nachgedacht, was sie wohl zur momentanen Genderdebatte wohl zu sagen gehabt hätte und zu der Aussage, dass Geschlechter nur ein gesellschaftliches Konstrukt sind. In der Diskussion hätten wir einen Geist wie ihren gut gebrauchen können.
Abgesehen von ihrer philosophischen Leistung geht die Autorin (selbstverständlich) auch auf die Beziehung Beauvoirs zu Jean-Paul Sartre ein. Sie erklärte wohl einmal einer ihrer Schülerinnen ihr Verhältnis folgendermaßen: „dass sie sich liebten, sich aber ihre Freiheit bewahren wollten, weshalb sie nicht heirateten und andere Geliebte hatten.“ Bis zuletzt lehnte sie das Konstrukt der Ehe ab, neben der Beziehung zu Sartre unterhielt sie weitere Beziehungen, darunter auch welche zu Frauen. Allerdings befürwortete sie (für mich unverständlich) die Entkriminalisierung der Pädophilie. Trotzdem schafft es die Autorin mit nüchterner und sachlicher Sprache (übrigens dankenswerterweise gendergerecht), mir Beauvoir sehr nahe zu bringen. Als Intellektuelle, als (zeit)kritische Philosophin, aber auch als Ikone des Feminismus ihrer Zeit. Eine absolute Lese-Empfehlung und von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 28.08.2020
Ich hoffe, ich versau das! (eBook, ePUB)
Cease, Kyle

Ich hoffe, ich versau das! (eBook, ePUB)


schlecht

Kyle Cease war mir vor der Lektüre seines Buchs „Ich hoffe, ich versau das“ kein Begriff. Allerdings muss ich sagen, dass er mir auch hinterher vermutlich nicht in (guter) Erinnerung bleiben wird. Er ist Schauspieler, Comedian und inzwischen Motivationscoach und Vortragsredner. Und nach zwei Filmen und mehreren Comedy Alben hat er beschlossen, auch noch zu schreiben. Nach der Lektüre seines ersten Buchs (inzwischen hat er mit „Illusion of money“ zumindest auf englisch nachgelegt) bin ich mir nicht sicher, ob das die beste Entscheidung war und ob er nicht besser bei seinem Leisten hätte bleiben sollen.
Insgesamt konnte mich an dem Buch nichts begeistern. Der Autor ist für mich ein selbstbeweihräuchernder, selbstverliebter Selbstdarsteller. Sein Buch bietet an keiner Stelle wirklich Neues, sondern wärmt in der Hauptsache Althergebrachtes auf, noch dazu ist es nicht einmal gut geschrieben. Schon ganz zu Anfang die Aussage „Ich bin bei einem großen Verlag untergekommen, weil sie in meiner Vorstellung waren und es ihnen gefallen hat, wie ich auf die Bühne gegangen bin und dem Publikum die reine Wahrheit erzählt und es gleichzeitig zum Lachen gebracht habe.“ – wer ist denn „sie“ – die Verlage? Waren die wirklich in seiner Show? Alle?
Und es wird danach nicht wirklich besser. Holprige Sätze, viel zu triviale Aussagen, die auch noch viel zu flapsig formuliert sind, als dass man sie ernstnehmen kann – ich konnte an dem Buch nichts Tiefgründiges finden oder etwas, was ich auch nur annähernd daraus hätte mitnehmen können. Noch nicht einmal lustig finden konnte ich es. Oberflächlichkeit (wie zum Beispiel die häufige Erwähnung seines Sixpacks), Binsenweisheiten und Dinge, die nun wirklich jeder schon einmal wo anders gelesen hat, machen den Großteil des Buchs aus. Für mich ist das Buch teilweise wie eine Dauerwerbesendung und eine Enttäuschung durch und durch. 1 Stern und absolut keine Lese-Empfehlung.

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Bewertung vom 27.08.2020
Ich rede von der Cholera
Heine, Heinrich

Ich rede von der Cholera


ausgezeichnet

Heinrich Heine war ab 1831 als Journalist in Paris tätig und daher vor Ort, als dort 1832 die Cholera ausbrach. Als Journalist befasste er sich mit der Epidemie, denn er blieb auch noch in Paris, als alle, die es sich leisten konnten, die Stadt verlassen hatten. Allerdings nicht, weil er besonders mutig war, sondern, wie er sagte: „ehrlich gesagt, ich war zu faul“. So bekam er einen direkten Einblick in die Krankheit und das Sterben, das er auf wenigen Seiten schildert. Er schildert die Geschehnisse journalistisch-nüchtern und weitgehend deskriptiv, nicht wertend.
Er schreibt über Fake News (damals noch als Mundpropaganda), Panik und die Suche nach Schuldigen – mutet seltsam bekannt an. „[…]da vernahm man plötzlich das Gerücht: die vielen Menschen, die so rasch zur Erde bestattet würden, stürben nicht durch eine Krankheit, sondern durch Gift. Gift, hieß es, habe man in alle Lebensmittel zu streuen gewusst, auf den Gemüsemärkten, bei den Bäckern, bei den Fleischern, bei den Weinhändlern. Je wunderlicher die Erzählungen lauteten, desto begieriger wurden sie vom Volke aufgegriffen“. So vieles scheint sich zu wiederholen, so vieles kommt einem bei der Lektüre bekannt vor.
In Paris war die Seuche nicht ernst genommen worden, als in London, Russland und dem Baltikum schon viele Menschen daran gestorben waren. 100%ig kann man die damalige Situation zwar nicht auf die heutigen Zustände mit Corona übertragen, da hat die Medizin inzwischen zu große Fortschritte gemacht, aber dennoch zeigt das Buch einige verstörende Parallelen, vor allem bezüglich des Umgangs der Bevölkerung mit der Krankheit.
Das Büchlein (das ursprünglich ein Zeitungsartikel mit dem Titel „Französische Zustände“ war) hat es trotz der Kürze in sich, vor allem wegen der Aktualität in der momentanen Situation, auf die sich Herausgeber Tim Jung in seinem Vorwort bezieht. Es kann aufklären und aufrütteln, traurig, wütend und betroffen machen. Auf jeden Fall sollte man es dringend lesen und eventuell daraus lernen. Allerdings schreibt Heine „Angst ist bei Gefahren das Gefährlichste.“ – über vorsichtig sein und Respekt vor der Krankheit schreibt er leider nichts, dabei wäre das vermutlich – damals wie heute – der Königsweg. Von mir 5 Sterne.

Bewertung vom 27.08.2020
No Sound - Die Stille des Todes / Caleb Zelic Bd.1
Viskic, Emma

No Sound - Die Stille des Todes / Caleb Zelic Bd.1


gut

Caleb Zelic und sein bester Freund Gary Marsden arbeiten zusammen als Privatermittler. Jetzt ist Gary tot, seine Ermordung erinnert an eine Exekution. Caleb hat seine Leiche gefunden und gerät sofort in den Fokus der ermittelnden Polizisten. Hatte Gary Geheimnisse? Schließlich wurde schon früher gegen den Polizeibeamten ermittelt – damit fängt das Buch „No sound“ von Emma Viskic an. Aus dem Klappentext war klar, dass Caleb gehörlos ist, was zum ersten Mal erst am Ende des ersten Kapitels zur Sprache kommt. Das gibt dem Buch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal gibt, denn ich kann mich nicht erinnern, schon einmal einen Thriller mit einem gehörlosen Ermittler gelesen zu haben.
Allerdings bleibt die Behinderung des Hauptcharakters das einzige Alleinstellungsmerkmal des Buchs. Insgesamt konnte es mich mit der Geschichte nicht wirklich packen. Es ist leidlich spannend, aber alles in allem kommt nichts drin vor, was man nicht schon unzählige Male wo anders gelesen hat. Stellenweise verwandelt sich der Thriller dann auch fast in einen Liebesroman rund um Caleb und seine Ex-Frau Kat, die beide sehr klar und sympathisch beschrieben werden. Die zahlreichen weiteren Charaktere bleiben, mit Ausnahme von Calebs Kollegin Frankie und ihrem Alkoholproblem, eher blass und ungreifbar, diese fand ich aber von Anfang an nicht sehr sympathisch und eher undurchsichtig.
Sehr gut ausgearbeitet finde ich Calebs Gehörlosigkeit und seine damit verbundenen Schwierigkeiten, die tatsächlich zum Teil anders geartet sind, als man sich als Hörender vorstellen kann. Unsaubere Aussprache macht Probleme beim Lippenlesen, Absetzen von Notrufen ist schwierig (man kann zwar seinen Text „aufsagen“, hört aber keine Reaktion) und „Ableismus“ und Diskriminierung sind da nur wenige Beispiele dessen, womit Menschen mit Behinderungen kämpfen müssen („McFarlane strich die Seite seines Notizbuchs glatt und malte langsam Buchstabe für Buchstabe darauf. Sehr groß, wie für ein Kind. Er unterstrich die beiden Wörter und drehte das Buch dann herum“ – Caleb ist gehörlos, lesen kann er durchaus!).
Die psychologische und soziale Komponente des Buchs konnte mich weitaus mehr begeistern als der halbgare Kriminalfall. Dabei hätte das Buch sehr großes Potenzial gehabt. Auch sprachlich habe ich daran nicht auszusetzen, es ist flüssig zu lesen und unterhaltsam, die Autorin verwendet Umgangssprache, vereinzelt auch Kraftausdrücke oder Fäkalsprache. Auf die eine oder andere Person hätte sie eventuell verzichten können, allerdings werden einige Charaktere nur eingeführt, um dann sehr schnell und gewaltsam zu Tode zu kommen. Alles in allem klappt die Umsetzung des Plots nicht so richtig wirklich gut und am Schluss schien der Autorin die Lust oder die Zeit oder beides auszugehen. Was am Anfang sehr schleppend läuft, überschlägt sich gegen Ende fast und lässt mich als Leser mit vor Spannung trockenem Mund aber dennoch ein bisschen unbefriedigt zurück. Zwar ist der Schluss stimmig aber im Vergleich zum Rest des Buchs hektisch und überstürzt. Und leider fehlt ein konstanter Spannungsbogen, da wäre also noch sehr viel mehr Potenzial vorhanden gewesen, das die Autorin leider bei weitem nicht ausschöpft. Dennoch vergebe ich für die gute Idee, die immer mal wieder aufflammende (aber dann packende) Spannung, die psycho-soziale Komponente und die nette Liebesgeschichte zwischendurch 3 Sterne.

Bewertung vom 25.08.2020
Ans Vorzelt kommen Geranien dran / Online-Omi Bd.14
Bergmann, Renate

Ans Vorzelt kommen Geranien dran / Online-Omi Bd.14


sehr gut

Rüstige Rentner auf Campingtour
Nach der Kreuzfahrt mit Gertrud muss Online-Omi Renate Bergmann der lieben Gerechtigkeit halber auch mal mit den Gläsers, also mit Ilse und Kurt, verreisen. 80 ist zwar das neue 60 und sie sind vielleicht auf der Zielgeraden ihrer besten Jahre, aber Zelten kam dann aus medizinischen Gründen (Ersatzteile im Körper, Blockaden und überhaupt: das Alter!) doch nicht infrage. Also muss ein Wohnmobil her. Auch wenn Kurt mit seinen 87 Jahren den Schlafwagen besser nicht mehr fahren sollte, er ist ja schon mit dem Koyota ein bisschen überfordert. Herr Alex wässert Katerle und die Pflanzen. Oder auch nicht. Vorsichtshalber nimmt Frau Bergmann die Geranien mit. Weil sie für teuer Geld gedüngt wurden und damit der Platz rund um den Schlafwagen hübsch und einladend wird. So auch der Titel: „Ans Vorzelt kommen Geranien dran“. Und auf geht’s.
Und weiter geht es wie man es von Renate Bergmann gewohnt ist. Sie kommt wild von Hölzchen auf Stöckchen, rauscht mit der Kirche ums Dorf und kein Thema bleibt außen vor und kein Auge trocken und muss mit einem „wo war ich“ den Rückweg zum Thema wiederfinden. Ob jetzt Anglizismen („I-Beiks“), hippe Vornamen, die nicht mal die liebenden Eltern aussprechen können („Säwännah Bijonzie“) oder dass es in der Gemeinschaftsdusche keine Duschhocker gibt – Frau Bergmann kommt nicht nur in der Gegend rund um den Campingplatz herum, sondern auch in allerlei Themen. Jedem, der mal auf einem Campingplatz war, kommt sicher das eine oder andere bekannt vor. Ein penibler Platzwart, nervige Nachbarn und das Problem mit dem Ausrichten der Satellitenschüssel auf dem Dach vom Camper – kennen Se alle, oder?
Und jeder, der mal eine Oma hatte, kennt sicher auch einiges. Mir kam es auf jeden Fall manchmal so vor, als läse ich über meine eigene Oma. Die ist inzwischen 92 und damit gut zehn Jahre älter als Frau Bergmann und nicht ganz so kultig, aber in der Familie schon irgendwie legendär. „Oma, bist du es?“ – wollte ich an manchen Stellen schon rufen. Da habe ich gelesen, dass Ilse Schlagkante in die Paradekissen macht, Frau Bergmann aber nicht. Okay, dann kann Renate Bergmann nicht meine Oma sein.
Ja, vielleicht ist das Thema mit dem 14. Band der Reihe inzwischen ein bisschen abgenutzt und der Charakter ausgereizt. Aber die Wortschöpfungen, die bissigen Kommentare und die tatsächlich vorhandene auch ernstzunehmende Kritik (Esoterik-Geschwurbel von Renates Tochter Kirsten, Anglizismen in der Sprache, dass Schokoladentafeln nur noch 90 statt 100g schwer sind und Kindernamen, die nicht mal die liebenden Eltern aussprechen können) sind immer noch erfrischend und kreativ. Ich fand das Buch obwohl es tatsächlich nicht viel Handlung (aber sehr viel Drumrum) hat, sehr unterhaltsam, locker-flockig zu lesen und manchmal musste ich herzhaft lachen. Sehr lustig auch die „Vertipper“ von Frau Bergmann (wer gerne mal die Autokorrektur nutzt, kennt dieses Problem), da wird aus naiv Navi, aus Rente Renate und der Angetraute wird mal ganz flott zum Angegrauten. In geringerer Dosierung sehr lustig, zu viel davon macht es dann eher nervig. Aber alles in allem hat mich das Buch sehr gut unterhalten, daher vergebe ich 4 Sterne.

Bewertung vom 21.08.2020
Das Dorf der toten Seelen
Sten, Camilla

Das Dorf der toten Seelen


weniger gut

Silvertjärn ist eine Geisterstadt in der nordschwedischen Provinz Norrland. Ein Lost Place, seit vor 60 Jahren alle Bewohner bis auf ein Baby und eine gesteinigte, an einen Marterpfahl gebundene Frau, spurlos verschwunden sind. Alice Lindstedt, Absolventin der Stockholmer Filmhochschule macht sich mit Freunden und ehemaligen Kommilitonen auf den Weg dorthin, um einen Dokumentarfilm zu drehen. Und um etwas über ihre Großmutter zu erfahren, die aus dem Dorf stammt, es aber zu der Zeit, als es verlassen wurde, schon in Stockholm gelebt hat. So fahren Alice, Tone, Emmy, Max und Robert gemeinsam mit zwei Autos in die abgelegene Provinz, versorgt mit Proviant, Filmausrüstung und Walkie-Talkies, denn eines ist klar: so weit ab vom Schuss werden sie keinen Handy-Empfang haben. Was zu Anfang aussieht wie eine eher harmlose Expedition in die Vergangenheit, kippt sehr schnell. Alle fünf haben das Gefühl, in dem verlassenen Dorf nicht allein zu sein. Und auch die Stimmung zwischen den eigentlich befreundeten Personen wird nach und nach schlechter. Misstrauen und alte Feindschaften brechen aus und die Geschichte des Dorfes spielt mit der Zeit nur noch eine untergeordnete Rolle, vor allem, als die erste aus der Gruppe tot ist.
Die Geschichte wird in zwei Handlungssträngen aus unterschiedlichen Zeiten erzählt: Heute und vor 60 Jahren. So erfährt man als Leser teils aus Briefen, teils aus tatsächlicher Handlung, nach und nach, was damals in dem Bergwerksstädtchen passiert ist. Das Buch hat dann ein sehr hohes Tempo, man will unbedingt wissen, was denn eigentlich hinter allem steckt. Was haben der Pastor, die Familie des Bergmanns und vor allem „Schwachkopf-Gitta“ mit den Geschehnissen zu tun und was wurde aus ihnen? Diese Fragen an sich bieten Stoff für eine sehr spannende Geschichte und die Autorin schafft es phasenweise, enorm hohe Spannung aufzubauen. Aber an anderen Stellen ist die Geschichte einfach nur dröge und langweilig, womit die Autorin viel von der Spannung kaputtmacht.
Die Charaktere waren für mich zu flach beschrieben und nicht wirklich greifbar, trotz ihrer eigentlich führenden Rolle hat auch Alice für mich eher einen Nebenrollen-Charakter. Die Personen benehmen sich wie (zum Teil verzogene, zickige und kindische) Jugendliche, keiner weiß wirklich, was er tut, es wird viel gestritten und wirklich sympathisch ist mir kein einziger geworden.
Sprachlich ist das Buch einfach gehalten und flott und flüssig zu lesen. Die Geschichte an sich ist auch eine wirklich sehr gute Idee, das Konzept ist anfangs sehr gut – allerdings macht der Schluss vieles wieder kaputt, was die Autorin am Anfang aufgebaut hat. Er ist hanebüchen konstruiert und nicht wirklich befriedigend, da für mich viel zu viele Fragen unbeantwortet blieben und Hintergründe so gut wie nicht aufgeklärt werden. Es ist schade um die gute Idee, denn so ist das Buch eine wilde Mischung aus Gruselkrimi und Esoterikthriller, die nicht wirklich überzeugen kann. Ich hatte mir auf jeden Fall von dem Buch etwas anderes erwartet. Es ist der Debütroman von Camilla Sten, der Tochter der schwedischen Bestseller-Autorin Viveca Sten (ja, die von den Sandhamn-Krimis). Potenzial hat sie sicherlich, das zeigt der starke Prolog. Von mir 2 Sterne.

Bewertung vom 21.08.2020
Mami kann auch anders / Tagebuch einer gestressten Mutter Bd.3
Sims, Gill

Mami kann auch anders / Tagebuch einer gestressten Mutter Bd.3


ausgezeichnet

„Mami kann auch anders“ von Gill Simms ist nach „Mami muss mal raus“ und „Mami braucht ՚nen Drink“ schon der dritte Band der Reihe um Ellen und ihre Familie. Die anderen beiden kenne ich nicht, hatte aber keine Probleme, das Buch zu verstehen.
Das ist echt nicht Ellens Jahr. Ihr Mann Simon hat sie mit einer Frau betrogen, die ihm nichts bedeutet (sagt er). Die Paartherapie, die den beiden helfen soll, scheitert. Daher zieht Ellen mit den pubertierenden Kindern Peter (13) und Jane (15) aufs Land. Und schon befindet man sich als Leser mit Ellen und den Pubertieren auf einer Achterbahnfahrt zwischen Selbstfindung, Neuanfang und Erwachsenwerden. Unterstützt von guten Freunden (die sie verkuppeln wollen), Gin und Wein versucht Ellen ihr Leben neu zu organisieren. Dazwischen wird gestritten, sich versöhnt, getrunken und das Ganze dann wieder von vorn. Aber als dann auch noch ihr Vater einen Herzinfarkt erleidet, stellt Ellen fest: das Jahr kann eigentlich getrost weg. Und sie lernt sehr schnell: Pubertät ist, wenn die Eltern anfangen, den Kindern peinlich zu werden.
Die Autorin hat sich als Bloggerin einen Namen gemacht, ist aber inzwischen auch eine bekannte Autorin, der vierte Teil der Reihe erscheint (zumindest auf Englisch) im Oktober. Das Buch beschreibt das wahre Leben eines alleinerziehenden Elternteils mit Teenagern. Das, was viele Frauen erleben, wenn sie ihre Männer dahin schicken, wo der Pfeffer wächst und plötzlich alleine mit ihren Pubertieren dastehen. Das Leben, das dann folgt, ist nicht zwingend das kuschelige Cottage, sondern oft die kleine, abgeranzte Bude (die zudem nur ein einziges Badezimmer hat!), die aber dafür mit drei „geschwätzigen Hühnern“ und zwei Hunden. Und das Leben mit zwei pubertierenden Teenagern ist ganz sicher kein Zuckerschlecken, vor allem, wenn sie der Mutter die alleinige Schuld an der Trennung der Eltern geben. Damit ist Ellen nicht allein auf der Welt, viele Leser:innen können es ihr sicher nachfühlen. Und die, die es nicht können, amüsieren sich vermutlich bei der Lektüre des Buchs genauso wie ich. Und manchmal kommt alles dann doch anders als erwartet und nach und nach findet sich alles und man rauft sich zusammen.
So überspitzt und überzogen manche Szenen anmuten wollen – unrealistisch ist an dem Buch rein gar nichts. Alltagswahnsinn in Reinkultur eben. Der Ton im Buch ist rau aber herzlich (zumindest meistens), die Sprache ist flapsig und forsch und die Autorin spricht fließend zynisch – alles in allem ist das Buch unterhaltsam und nett zu lesen. Von mir daher 4 Sterne.