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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 962 Bewertungen
Bewertung vom 08.10.2020
Triceratops
Roiss, Stephan

Triceratops


weniger gut

Beklemmende Lektüre

Mit «Triceratops» von Stephan Roiss scheint sich eine Tradition österreichischer Psychiatrie-Romane zu verstetigen, denn prompt landete heuer auch dieses Debüt auf der Longlist des Frankfurter Buchpreises, so wie im Vorjahr schon «Vater unser» von Angela Lehner. Aber damit enden auch schon alle Gemeinsamkeiten der beiden Romane, denn was wir hier zu lesen bekommen, das ist vergleichsweise schwere Kost. Er habe fünf Jahre an seinem autobiografisch inspirierten Roman geschrieben, hat der Autor erklärt, zum einen wegen der extrem komprimierten Erzählweise, andererseits aber auch wegen der schwierig durchzuhaltenden, ungewöhnlichen Wir-Perspektive, aus der heraus erzählt wird. Und es handelt sich beileibe nicht um den Pluralis Majestatis dabei, diese spezielle Erzählform verdeutlicht als Selbstschutz des Protagonisten vielmehr seine hoffnungslose Einsamkeit. Der titelgebende Dinosaurier wiederum, ein wehrhaftes Urzeit-Nashorn mit einem mächtigen Nackenschild und drei Hörnern, ist ein beredter Hinweis auf seine Sehnsucht nach Geborgenheit.

Erzählt wird die traumatische Geschichte eines namenlos bleibenden Jungen, der in einer psychisch gestörten Familie aufwächst. Die Mutter war schon fünfmal in der geschlossenen Psychiatrie, sie sei gemütskrank, seit sie ihren Vater aufgefunden habe, der sich in der Scheune erhängt hat. Die psychisch labile, ältere Schwester wiederum glaubt, ihre Verhaltensstörung von der Mutter geerbt zu haben. Gebetsmühlenartig wiederholt sie den Satz «Alles wird gut», der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Dem frömmelnden, eher weichlichen Vater gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, Normalität herzustellen in seiner Familie, auf der ein Fluch zu liegen scheint, er flüchtet sich resigniert in den Alkohol. Und der Sohn schließlich, der in solch trostloser Umgebung aufwächst und all dem nicht gewachsen ist, weicht in die Sprachlosigkeit aus. Er bleibt meist stumm und rettet sich in Traumwelten hinein. Und zu denen gehören eben auch die Dinosaurier, um deren Stärke und Unverwundbarkeit er sie beneidet, sie sind immer wieder Motive seiner kindlichen Malereien. Trotz aller psychischen Probleme jedoch gibt es auch ein ‹normales› Familienleben, zu dem die altersbedingt zeitweise demente Großmutter beiträgt.

Sprunghaft und in kleinste Abschnitte unterteilt wird mit «Triceratops» eine bedrückende Coming-of-Age-Geschichte erzählt, die in den 1980/90er Jahren angesiedelt ist. Angefangen vom achtjährigen Schulkind bis in die späte Adoleszenz hinein reiht sich da, geradezu lakonisch, ein Erinnerungssplitter an den anderen. Das reicht vom plötzlichen Versagen in der dörflichen Schule, diversen Streichen und Missgeschicken, dem Ausbrechen auch aus familiären Pflichten bis hin zur Initiation durch ein Punk-Mädchen und dem Abtauchen in den städtischen Untergrund. Zu einer Zäsur kommt es, als die seelisch gestörte Schwester ihr wenige Monate altes Baby erstickt, weil sie ihm ein Schicksal wie das ihre nicht zumuten will.

Stephan Roiss hat mit seinem Roman nicht nur eine eindringliche Darstellung der Verzweiflung geschaffen, er hat cool und emotionslos das Psychogramm einer Familie beschrieben, mit allen ihren seelischen Vorbedingungen und Abhängigkeiten. Die seltsame Wir-Perspektive, die immer wieder die Frage aufkommen lässt, von wo aus da erzählt wird, trägt mit ihrer ungewohnten Tonalität einiges bei zur düsteren Stimmung dieser Erzählung, sie wirkt geradezu beschwörend auf den Leser ein. Erst auf der letzten Seite wechselt die Perspektive, plötzlich ist von dem ‹Jungen› die Rede, der da seine Schwester in der geschlossenen Anstalt besuchen kommt. «Ich heiße Konrad. Wie heißen Sie?» lautet der letzte Satz, mit dem ein seit Jahrzehnten weg gesperrter Insasse, den er aber schon jahrelang kennt, sich ihm vorstellt. «Triceratops» ist eine gekonnt erzählte, beklemmende Lektüre, narrativ durchaus bereichernd, aber inhaltlich völlig inkonsistent, und recht unerfreulich obendrein!

Bewertung vom 07.10.2020
Ein Tag wird kommen
Caminito, Giulia

Ein Tag wird kommen


gut

Mit persönlichem Bonus

«Ein Tag wird kommen», der erste auf Deutsch erschienene Roman der jungen italienischen Schriftstellerin Giulia Caminito, ist von der eigenen Familiengeschichte inspiriert. Ihr Urgroßvater war Anarchist und liefert damit die Vorlage für einen der beiden Protagonisten dieses politisch geprägten Romans. Den religiösen Widerpart dazu bildet als ebenfalls historische Figur die aus dem Sudan verschleppte Zeinab Alif, sie hatte als Nonne den Namen Maria Giuseppina Benvenuti angenommen, das Volk nannte sie nur La Moretta. Die Erzählung mit dem neugierig machenden Titel ist in der italienischen Region ‹Marken› angesiedelt und schildert das Leben der vom Unglück verfolgten Familie des Bäckers Luigi Ceresa in der kleinen Ortschaft Serra de’ Conti. Den historischen Hintergrund bilden Anfang des 20ten Jahrhunderts Ereignisse wie der Erste Weltkrieg, die anarchistische Bewegung von Errico Malatesta und das Aufkeimen des Faschismus unter Mussolini.

Ein Roman über zwei ungleiche Männer, zum einen der kämpferische Anarchist Lupo, dem die Autorin allegorisch gleich zu Beginn den auf dem Titel abgebildeten Wolf zugesellt. Der von ihm verletzt aufgefundene und großgezogene Welpe wird, symbolisch leider deutlich überzogen, ‹Cane› genannt, künftig sein treuer Begleiter. Zweiter Protagonist ist sein schwächlicher und ängstlicher Bruder Nicola, der zum Arbeiten absolut nicht taugt. Die ungleichen Brüder lieben sich inniglich, sie bilden ein unzertrennliches Paar mit dem Kraftprotz Lupo als unermüdlichem Beschützer, der seinerseits von der Bildung des introvertierten jüngeren Bruders profitiert. Im Prolog legt Nicola das Gewehr auf Lupo an und schießt, ein gekonnt Spannung erzeugender Beginn, dem allerdings eine anfangs ziemlich verwirrende Geschichte folgt, die erst ab der zweiten Buchhälfte geläufiger lesbar wird. In getrennten Handlungsfäden wird, mit diversen Rückblenden und Vorgriffen, die Geschichte der Familie Ceresa erzählt, die in ärmlichsten Verhältnissen lebt. Nach vielen Totgeburten sind dann auch noch zwei ihrer überlebenden fünf Kinder früh gestorben, außer den beiden Söhnen gibt es nur noch die rebellische Nella, die aber als junges Mädchen ins örtliche Kloster gehen musste. Hinter all dem verbirgt sich, das wird dem Leser schon bald klar, ein düsteres Familiengeheimnis, auf das ja schon der Buchtitel hindeutet.

In dieser elegischen Geschichte der Hungerleider geht es sehr rau zu, alle fristen ihr karges Dasein in dem zutiefst ungerechten Halbpächter-System Italiens. Der Widerstand gegen dieses verhasste Relikt aus feudalen Zeiten eskaliert in der «Settimana Rossa», den Unruhen und Streiks in Ancona im Juni 1914, an denen auch Lupo in vorderster Front beteiligt ist. Sein Bruder Nicola wird als 1899-Geborener blutjung in den sinnlosen Krieg geschickt, dessen Grauen die Autorin eindrucksvoll schildert. Ebenso eindrücklich sind die Beschreibungen des Klarissinnen-Klosters, in dem die unglückliche Nella wie eine Gefangene lebt. La Moretta hat dort als Äbtissin unerbittlich ein strenges Reglement etabliert, zu dem besonders das unbedingte Schweigegelübde gehört, aber auch die ausnahmslose Klausur. Was der Krieg nicht geschafft hat, das vollendet die Spanische Grippe, die weite Teile der Bevölkerung dahinrafft und ganze Landstriche entvölkert, weitaus schlimmer als das, was wir zur Zeit mit Corona erleben.

Diese in dreizehn Kapitel sowie Prolog und Epilog gegliederte Geschichte wird in einer dem freudlosen Geschehen angepassten, schlichten Sprache erzählt, wobei die verwendeten Metaphern manchmal alles andere als überzeugend sind. Vom Plot her reizvoll ist der gut herausgearbeitete Gegensatz zwischen politischer Anarchie und naivster Religiosität. Der Roman erscheint thematisch jedoch ziemlich überfrachtet, Giulia Caminito hat sich regelrecht verzettelt mit ihrem multi-thematischen Sujet. Wer lange in den ‹Marken› gelebt hat wie ich, wird ihr das aber, als persönlicher Bonus quasi, gerne nachsehen.

Bewertung vom 04.10.2020
Aus der Zuckerfabrik
Elmiger, Dorothee

Aus der Zuckerfabrik


gut

Unikat der Postmoderne

Das dritte Buch von Dorothee Elmiger mit dem Titel «Aus der Zuckerfabrik» verdeutlicht durch die fehlende Genrebezeichnung die Probleme bei der Definition der Gattung Roman. Bei Wikipedia wird dieses Buch nonchalant als ‹Roman› klassifiziert, eine literarische Form, die von Georg Lukács als «Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit» bezeichnet wurde, die Schweizer Autorin selbst hat ihr Buch als Recherchetagebuch bezeichnet. Auf potentielle Leser kommt also ein ungewöhnliches, verwirrendes Stück Prosa zu, soviel sei vorab schon mal gesagt.

Als Leitthema fungiert, dem Buchtitel entsprechend, der Zucker als Metapher für Begehren und Genuss, die Zuckerfabrik dient als Sinnbild der Gesellschaft. Ferner sind Gewalt, Kolonialismus, Ökonomie, Verteilungsgerechtigkeit, Glückssuche, Sexismus und anderes mehr markante Themen dieses konsequent abstrakt bleibenden, literarischen Sammelsuriums. Aber auch die Literatur ist, oft mit längeren Zitaten, breitgefächert vertreten. Peter Kurzeck wird genannt und Max Frisch, aber auch Joseph Roth, Marie Luise Kaschnitz oder Heinrich von Kleist. Zu den absonderlichen Geschichten, die häufig wiederkehrend im Buch thematisiert werden, gehört auch die des ersten Schweizer Lottokönigs von 1979 Werner Bruni. Der Titel seines Buches «Einmal Millionär und zurück» veranschaulicht besonders deutlich die Gedanken von Dorothee Elmiger zum Thema Geld. Mit Ellen West wiederum, berühmte Patientin des Schweizer Psychiaters Ludwig Binswanger, wird das Thema Suizid aufgegriffen, und der Russe Vaslav Nijnsky schließlich steht als begnadeter Tänzer für Ruhm, aber auch für ein tragisches Ende in geistiger Umnachtung. Die im Buch durch Karl Marx und Adam Smith vertretene Ökonomie wird, ihre Maßlosigkeit betreffend, mit einer köstlichen, filmreifen Szene beschrieben: Während einer Teestunde nimmt Adam Smith, ganz in Gedanken verloren, ein Stück Zucker nach dem anderen aus der Zuckerschale und isst es auf, bis die verstörte Gastgeberin die Schale vom Tisch nimmt und in Sicherheit bringt.

All diese vielen Textfragmente sind scheinbar ziemlich zusammenhanglos aneinandergereiht, ihr tieferer Sinn erschießt sich oftmals nicht. Die Ich-Erzählerin, in der die Autorin unschwer zu erkennen ist, gibt offen zu, sie sei nicht in der Lage, «ihr Material in eine Erzählung zu fügen». Man hat es quasi mit einem prall gefüllten Zettelkasten in Buchform zu tun. In dem sind weder Zeit noch Ort konkret fassbar. Von allen Zwängen befreit, wie die Grübeleien ihrer phantasiebegabten Schöpferin auch, werden vielmehr in wilden, unkoordinierten Sprüngen mühelos sämtliche realen Dimensionen überwunden. Was hier erzählt wird sind Schnappschüsse und Szenen aus den Gedanken und Visionen einer Schriftstellerin, die sich verzweifelt bemüht, die Gegenwart zu verstehen. Dabei landet ihre Ich-Figur erzählerisch sehr häufig in einem «Gestrüpp», Sinnbild für Weglosigkeit und Unbehaustheit.

Dieses Buch ist eine berührende Anklage gegen die himmelschreiende Ungerechtigkeit und die unvermindert anhaltenden, eklatanten Fehlentwicklungen des 21ten Jahrhunderts. Sprachlich umgesetzt wird dieses Lamento durch ein brüchiges, inkonsistent erscheinendes Narrativ mit einer ausgesprochen eigenwilligen Syntax, die durch häufige fremdsprachige Einsprengsel und Zitate noch zusätzlich sperriger wird. Allein die sechs Seiten mit Quellenangaben zeugen davon, dass von flüssigem Lesen in diesem Buch wahrlich nicht die Rede sein kann. Dass die Autorin sich dieser Schwierigkeiten bewusst ist, wird an mehreren Stellen deutlich. Während sie am Schreibtisch sitze, sagt die Ich-Figur einmal selbstreflexiv, passiere gleichzeitig um sie herum alles Mögliche, «und das muss dann natürlich alles auch erzählt werden, weil das ja die Bedingungen sind, unter denen der Text entsteht». Kaum vorstellbar, dass diese experimentelle Prosa, ein Unikat der Postmoderne, den diesjährigen Frankfurter Buchpreis gewinnt, - aber man soll ja nie Nie sagen!

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 01.10.2020
Was Nina wusste
Grossman, David

Was Nina wusste


weniger gut

Der Whisky bringt’s

Der neue Roman «Was Nina wusste» von David Grossmann basiert auf der Lebensgeschichte der kroatischen Kommunistin Eva Panic-Nahir, die als jüdische Partisanin zusammen mit ihrem serbischen Mann gegen die Nazis gekämpft hat. Als das Tito-Regime sie später als Stalinisten verfolgte, beging ihr Mann im Gefängnis Selbstmord, sie selbst wurde zur Umerziehung auf die berüchtigte Insel Goli Otok gebracht. Im Roman ergänzt der Autor diese Fakten vor allem durch psychologische Tiefenlotungen seiner Figuren, er entwickelt in seinen fiktionalen Ergänzungen detaillierte Psychogramme von ihnen, Freudianer dürften begeistert sein.

Vera, zentrale Figur des Romans, feiert im Kibbuz ihren 90ten Geburtstag. Ihre Tochter Nina, die ihr geradezu feindlich gegenübersteht und mit der sie seit vielen Jahren kaum Kontakt hatte, kommt von einer Insel am Polarkreis angereist, auf die sie sich in ihrer Weltflucht zurückgezogen hat. Die 39jährige Enkeltochter Gili, die wie ihr Vater Rafi beim Film arbeitet, hat beschlossen, die Feier filmisch zu dokumentieren, anschließend sollen alle gemeinsam nach Kroatien reisen, zu den Stätten von Veras Geschichte. Es geht dabei um die Leerstellen in deren Vita, vieles ist rätselhaft geblieben. Denn sie hatte sich, als sie von der Geheimpolizei verhört wurde, strikt geweigert, ihren toten Mann als stalinistischen Verräter zu denunzieren, was ihr die Freiheit gebracht hätte. Man hatte ihr angedroht, dass ihre sechseinhalbjährige Tochter Nina unbetreut auf der Strasse landen würde, wenn sie nicht unterschreibt. Aber Vera blieb stur, ihr verstorbener Mann war die große Liebe ihres Lebens, ihn zu verraten wäre für sie gleichbedeutend damit, ihr eigenes Leben auszulöschen, er war nun mal ihr Ein und Alles. Nina hat diese Entscheidung niemals akzeptiert, sie wurde zu einer schwierigen Einzelgängerin, hat sich von ihrer Familie gelöst und ist entwurzelt in der Welt herumvagabundiert, jahrelang war sie unauffindbar. Auf der Feier offenbart die total verbitterte Nina plötzlich, dass sie seit einigen Monaten unheilbar an Demenz erkrankt ist. Sie bittet, die Dokumentation über Veras Leben perspektivisch in einen Film für die ‹Demente Nina› abzuändern, so als würde man alles nur der erzählen. Später könne man der Patientin immer wieder mal diese Aufnahmen vorspielen, um sie in die reale Welt zurückzuholen.

Es ist ein weites Feld, das David Grossmann da bearbeitet, mit der Liebe in den verschiedensten Intensitätsgraden als zentralem Thema vor dem Hintergrund der Verwerfungen des 20ten Jahrhunderts. Krieg, Nationalismus, Völkermord, Kommunismus, Diktatur, Verbannung, Holocaust und Zionismus sind Themen, die in den Plot hineinwirken und die Schicksale seiner Figuren bestimmen. In all dem schrecklichen Geschehen sind es die Frauen dreier Generationen aus dieser Familie, die beherzt gegen die politischen Pressionen ankämpfen, allen voran Vera. Mit viel Empathie gelingt es dem israelischen Autor, seine Protagonisten menschlich überzeugend zu beschreiben, eine beinahe vorbehaltlose Nähe des Lesers zu ihnen herzustellen. Vieles erschließt sich in dieser Geschichte aus den Dialogen, bei denen besonders Veras kroatisch/jüdisch gefärbtes Idiom ebenso zum Schmunzeln reizt wie ihre eigensinnige, manchmal verblüffende Sicht der Dinge. Was Vera im Roman nur zögernd preisgibt, ihr vermeintliches Geheimnis, ist genau das, «Was Nina wusste», wie ja schon der Titel verrät.

Es ist nicht weniger als eine zutiefst moralische Frage, die dieser Roman aufwirft. Ist Veras Entscheidung vertretbar, die Ehre ihres - ja bereits toten - Mannes höher zu bewerten als die schlimme Zukunft, die ihre alleingelassene Tochter in einem mörderischen System zu erwarten hat? Leider gelingt es dem Autor nicht, sein schwieriges Thema ohne Pathos zu behandeln, was erheblich stört beim Lesen. Und wirklich peinlich wird es, wenn am Ende das Trauma einer jahrzehntelangen Entfremdung einfach mit einer Flasche Whisky hinweg gespült wird.

Bewertung vom 28.09.2020
Kokoschkins Reise
Schädlich, Hans Joachim

Kokoschkins Reise


gut

Solitäre lakonische Diktion

Mit «Kokoschkins Reise» hat Hans Joachim Schädlich einen Jahrhundertroman geschrieben, nicht der Bedeutung nach, sondern inhaltlich. Der in breiten Leserkreisen kaum bekannte Schriftsteller schlägt darin zeitlich einen weiten Bogen, der die politischen Umbrüche und Katastrophen des Jahrhunderts in Europa abhandelt und schließlich sogar 9/11 mit einbezieht. In Anlehnung an die reale Figur des 1918 von Bolschewisten ermordeten, der Demokratischen Partei angehörenden Ministers Kokoschkin ist dessen fiktionaler Sohn Fjodor der Protagonist dieser Geschichte. Seine historische Tour d’Horizon sei quasi ein Nebeneffekt seines narrativen Vorhabens, hat er im Interview erläutert. «Ich wollte wirklich nur eine Geschichte erzählen, in deren Mittelpunkt die Konfrontation eines Einzelnen mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts steht».

Dieser ‹Einzelne› ist der 95jährige Exilrusse Fjodor Kokoschkin, der sich am 8. September 2005 in Southampton auf den Luxusliner ‹Queen Mary II› einschifft. Der rüstige Pensionär, ein emeritierter Professor aus Boston, kehrt nach einer Europareise zu den Stätten seiner Kindheit und Studentenzeit nach Hause zurück. Die wechselvollen politischen Verhältnisse und materielle Nöte hatten ihn früh von seiner Mutter getrennt. Nach dem Internat ging er nach Berlin, begann ein Biologie-Studium und flüchtete dann vor den Nazis nach Prag. Glückliche Umstände verhalfen dem mittellosen jungen Studenten durch Vermittlung der dortigen Botschaft 1933 schließlich zu einem Stipendium in den USA, er durfte dorthin auswandern. In Boston schloss er sein Studium ab und gelangte als Spezialist für Gräser und Halme zu akademischen Ehren. 1968 lernte er dann bei einem ersten Europa-Besuch in Prag den deutlich jüngeren Jakub Hlaváček kennen. Dieser Freund hatte Kokoschkin nun auf auch seiner mutmaßlich letzten Europareise begleitet.

Der Roman ist, in der nur wenige Tage dauernden Erzählebene der Gegenwart, neben der Prozedur zur Einschiffung in fünf nach Tagen auf See gegliederte Kapitel unterteilt und endet mit der Ankunft in New York. In Tischgesprächen mit anderen Passagieren, Begegnungen bei den verschiedensten Veranstaltungen an Bord und so manchem Barbesuch erzählt Kokoschkin in der zweiten Erzählebene aus seiner bewegten Vergangenheit. Dabei fungieren seine verschiedenen Gesprächspartner zumeist als reine Zuhörer oder Stichwortgeber, er berichtet in langen Passagen aus seinem Leben. Diese in direkter Rede erzählten Rückblicke enthalten neben den politischen Themen einiges an Intertextualität, vor allem Iwan Bunin wird häufig genannt und in längeren Passagen auch zitiert. Wladislaw Chodassewitsch und seine Frau Nina Berberowa gehören ebenfalls mit zu den engen Freunden von Kokoschins Mutter, sie folgt ihnen schließlich sogar nach Paris. Häufig geht der Protagonist in seinen Erzählungen auf besonders schöne Bauwerke ein, bewundert Kunstwerke und genießt ganz bewusst den Luxus, den er sich als renommierter Wissenschaftler im Alter leisten kann.

Auffallend ist die große Gelassenheit, mit der Kokoschkin aus seinem durchaus nicht immer erfreulich verlaufenen Leben berichtet, ein derartiger Gleichmut den politischen Zumutungen gegenüber ist allenfalls durch die Milde des Alters zu erklären. Hans Joachim Schädlich erzählt seine Geschichte in einer für ihn typischen, hoch verdichteten Sprache, die von der schnörkellosen Verkürzung auf das Nötigste lebt, die bei allem, was sie sagt, vermeidet, es direkt auszusprechen. Der Text wirkt dadurch natürlich eher als nüchterner Bericht denn als mitreißende, angenehm unterhaltende Erzählung. Diese lakonische Diktion, im Feuilleton und in Kollegenkreisen als solitär bewundert, versteckt ihre Botschaft quasi zwischen den Zeilen. Sie erfordert damit einen stets aufmerksam mitdenkenden und sensiblen Leser.

Bewertung vom 24.09.2020
Die Unschärfe der Welt
Wolff, Iris

Die Unschärfe der Welt


gut

Ein leiser Roman

In ihrem vierten Roman «Die Unschärfe der Welt» erzählt die aus Siebenbürgen stammende Schriftstellerin Iris Wolff auf gerade mal zweihundert Seiten die vier Generationen umfassende Geschichte einer Familie, deren starke Bindungskräfte die Zeiten überdauern. Bereits der Buchtitel kündet ein narratives Verfahren an, das vieles nur andeutet und in ‹Unschärfe› belässt, während ‹Welt› andererseits auf ein breit gestreutes Themenspektrum verweist. Mit einer wunderbar bilderstarken Sprache gelingt dieser literarische Spagat auf beeindruckende Weise, der Autorin verleiht ihrem Text damit etwas geradezu poetisch Schwebendes. Erinnerung sei «ein Raum mit wandernden Türen», heißt es im Roman dazu.

Es beginnt gleich dramatisch. Die schwangere Frau des Pfarrers einer dörflichen Gemeinde im rumänischen Banat, die beinahe ihr Kind verliert, wird mit der Kutsche eiligst ins nächste Krankenhaus gefahren. Dort verdächtigt man sie zunächst mal, eine in Rumänien strafbare Abtreibung eingeleitet zu haben, nichts jedoch liegt ihr ferner als das. Wochen später bringt sie schließlich dann Samuel zur Welt, der auch die folgenden sechs Episoden als rätselhafte Figur lose miteinander verbindet. Samuels Großmutter gehört als Tochter aus reichem Hause zu den ewiggestrigen Monarchisten, die sich sehnlich den rumänischen König zurückwünschen, sie wird sich mit dem verhassten Sozialismus niemals abfinden können. Hannes, der glückliche Vater, als evangelischer Seelsorger dazu verdonnert, die Gastfreiheit katholischer Klöster in seinem Pfarrhaus weiterzuführen, muss sich nach der Beherbergung zweier schwuler Lehrer aus der DDR bei der verhassten Securitate verpflichten, künftig Berichte über seine jeweiligen Gäste abzuliefern. Es ist ein bunter Reigen von Figuren aus der Familie und ihrem Umfeld, über die da, vor dem Hintergrund sich wandelnder politischer Verhältnisse, von den sechziger Jahren an bis in die Umbruchjahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs berichtet wird. Die Liebe spielt dabei eine wichtige Rolle, auch die zwischen Männern, Freundschaften zerbrechen, tragische Unfälle ereignen sich. Religion, Krankheit und Tod sind ebenfalls Themen, die die Menschen permanent beschäftigen. Aber auch ein Husarenstück wie die Flucht nach Österreich in einem gestohlenen Agrarflugzeug wird erzählt.

Immer wieder sind stimmig die verschiedensten Symbole in diese Geschichte eingebaut, wird mit Metaphern verdeutlicht und komprimiert zugleich. Von der Suche nach Glück wird berichtet, welches oft in der Natur zu finden sei, aber auch im friedlichen Miteinander bescheidener, genügsamer Menschen und im unverdrossenen Neubeginn nach Enttäuschungen und Verlusten. Die ethnische Vielfalt und Vielsprachigkeit bildet dabei kein Hindernis, selbst bei Familienfeiern unterhält man sich oft wie selbstverständlich in drei verschiedenen Sprachen. Auf die Frage, wer denn in dem kleinen Dorf, in dem es «mehr Schafe als Einwohner gibt», heute noch eine einheimischer Suppe zu kochen vermag, fragt die Pfarrersfrau schnippisch zurück: «Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch»? Amüsant ist auch ein Intermezzo in einer Buchhandlung, in der ein dort beschäftigter, ehemaliger Lehrer nur das Lesen von gekauften Büchern statthaft findet: «Geliehene Bücher zu lesen war wie Sex mit angelassenen Klamotten» lautete seine Erkenntnis.

Vieles wird nur angedeutet in diesem komplexen Plot, dessen Prinzip die extreme Komprimierung ist, Iris Wolff vermeidet konsequent jede Vertiefung des historischen Geschehens, Stichworte dazu müssen reichen. Ein sprachliches Kennzeichen dafür sind unter anderem die kurzen Sätze, die den Text flüssig lesbar machen und ihn zuweilen geradezu musikalisch schwingend erscheinen lassen. Bei alldem muss der Leser ständig wachsam sein, um nachvollziehen zu können, wie die einzelnen Episoden zusammenhängen, worauf das alles denn hinausläuft in diesem leisen Roman.

Bewertung vom 23.09.2020
Bis wieder einer weint
Sichelschmidt, Eva

Bis wieder einer weint


weniger gut

Ein schreckliches Kind

Eine der frühen Neuerscheinungen dieses Jahres, der zweite Roman von Eva Sichelschmidt, spielt mit seinem Titel «Bis wieder einer weint» auf die Warnung der Erwachsenen an, wenn Kinder übermütig herumalbern. Weil ja, wer kennt das nicht, oft das Kichern und Getobe plötzlich umschlägt. Die nach Bekunden der Autorin autobiografisch gefärbte Geschichte, beginnend in der Adenauerzeit und bis in die frühen neunziger Jahre hineinreichend, schildert Aufstieg und Fall einer westdeutschen Unternehmerfamilie am Rande des Ruhrgebiets.

«Am 29. Juni 1971 hat niemand fotografiert» heißt es zu Beginn des Romans, es war der Tag, an dem die Mutter der damals knapp zehn Monate alten Ich-Erzählerin beerdigt wurde. An diesen Tag glaubt Suse sich später erinnern zu können, sie hatte eine Blumenvase umgerissen und ihren Laufstall damit unter Wasser gesetzt. Diese nonverbale Erinnerung bezeichnet ein Kinderpsychologe, dem sie am Ende privat von ihrem verkorksten Leben erzählt, als das bekannte Phänomen ‹emotionaler Erinnerung› in Bildern. In permanentem Wechsel zwischen personalem und auktorialem Erzähler wird zunächst die Geschichte von Inga und Wilhelm erzählt, dem glamourösen Elternpaar von Suse. Schönheit und Reichtum kamen da zusammen, die siebzehnjährige Tochter eines praktizierenden Augenarztes eine geradezu strahlende Erscheinung, der zwölf Jahre ältere Bräutigam glamouröser Dressurreiter und erfolgreicher Geschäftsmann. Inga stirbt bald nach Suses Geburt an Leukämie, das Baby wird zu den mütterlichen Großeltern gegeben, ihre sechs Jahre ältere Schwester bleibt beim Vater. Der holt dann aber auch die inzwischen achtjährige Suse wieder zu sich, sie kommt damit unter die Fuchtel der pietistischen Großmutter und leidet sehr darunter. Was sich dann in einer permanenten Widerborstigkeit im familiären Umgang ausdrückt und ebenso in einem eklatanten schulischen Versagen. Sie entwickelt sich zu einer allerseits gemiedenen Außenseiterin und weist keinerlei erkennbare Talente auf, ihre Zukunft bleibt bis zum Ende ungewiss.

Das chronologisch erzählte Geschehen nimmt seinen Anfang in den Jahren der zunehmend prosperierenden BRD, deren wirtschaftlicher Aufschwung auch Wilhelms mittelständische Maschinenfabrik mitreißt. Ein Erfolg, den er in vollen Zügen genießt, er wirft geradezu um sich mit dem reichlich vorhandenen Geld, verwöhnt seine junge Frau und nach deren Tod auch die beiden Töchter. Mit einer überbordenden Fülle an Details, vor allem aus der schillernden Konsumwelt, erzählt die Autorin, den Leser damit auf Dauer ermüdend, Alltägliches aus jener Zeit, - vieles davon ist unübersehbar klischeehaft. Diese materielle Dominanz beeinträchtigt narrativ leider allzu sehr das Seelenleben ihrer Figuren. Deren Psyche bleibt auffallend blass, es wird auch nicht angemessen differenziert beim Blick auf die verschiedenen Charaktere. Denn auch Wilhelm hat seine dunklen Seiten. Vor allem hat er eine heimlich ausgelebte homosexuelle Prägung, er ist mit der ahnungslosen Inga einmal sogar als Gast geladen zu einem Empfang von Arndt von Bohlen und Halbach in der Essener Villa Hügel.

In der zweiten Hälfte kommt endlich ein wenig Schwung in die bis dahin eher langweilige, deutlich zu breit ausgewalzte Geschichte, die Lebenslügen werden entlarvt, die glamouröse Fassade bekommt zunehmend Risse. Denn irgendwann endet auch Wilhelms Firma im Konkurs, die Zeiten haben sich geändert, für ihn eine harte Landung nach den Höhenflügen der glorreichen Vergangenheit. Wilhelm ist zum Alkoholiker geworden, leidet an verschiedenen Krankheiten, er lässt sich nahezu willenlos von seinem Liebhaber finanziell ausnehmen. Den Töchtern bleibt nur die Flucht aus dieser Misere in ein selbstbestimmtes Leben, das für sie ganz bei Null anfängt. Dieser Gesellschaftsroman endet mit dem an Suse gerichteten, resignierenden Satz ihrer Tante: «Du warst wirklich ein schreckliches Kind». Und das ist es auch schon, was sich dem Leser eingeprägt hat, mehr ist da nicht.

Bewertung vom 17.09.2020
Serpentinen
Bjerg, Bov

Serpentinen


weniger gut

Der Schwarze Gott

Mit seinem neuen Roman «Serpentinen» hat der Schriftsteller Bov Bjerg eine düstere Thematik aufgegriffen, es geht um scheinbar schicksalhaft von Generation zu Generation weitervererbte Depressionen, die im Suizid enden. Kein Wohlfühlroman also, sondern eine bedrückende Schilderung des verzweifelten Versuchs eines Vaters, der unheilvollen familiären Prägung durch einen intensiven Prozess des Erinnerns zu entgehen und damit auch seinen Sohn aus dieser vermeintlichen Teufelsspirale zu befreien.

Der Ich-Erzähler Höppner ist ein auf Statistik spezialisierter, hoch angesehener Soziologie-Professor aus Berlin, der mit der deutlich jüngeren Rechtsanwältin M verheiratet ist und mit ihr einen namenlos bleibenden, siebenjährigen Sohn hat. In seiner Familie haben die väterlichen Ahnen allesamt Suizid begangen. «Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Pioniere zu Wasser, zu Land und in der Luft» heißt es im Roman. Er leidet selbst unter schweren Depressionen, hat seine Therapie aber als nutzlos abgebrochen. Stattdessen reist er mit seinem Sohn nun auf die Schwäbische Alb, zu den Schauplätzen seiner Kindheit. Diese Reise in die Vergangenheit, deren Sinn «der Junge», in der Geschichte ebenso unpersönlich wie die Mutter benannt, einfach nicht begreift. «Um was geht es?» lautet denn auch seine häufig wiederholte Frage. Was für Höppner als Rettungsanker aus seiner Psychose dienen soll, um diese fatale Schicksalskette zu durchbrechen, ist für den Sohn als so gar nicht kindgerechte Reise eher eine Zumutung, die er jedoch geduldig erträgt.

Bei Churchill und Chaplin, prominente Leidensgenossen des Ich Erzählers, der ‹schwarze Hund› genannt, das anfallartige Auftreten schwerer Depressionen nämlich, wird hier im Roman als «Schwarzer Gott» bezeichnet. Die Autotour mit dem Sohn soll dazu dienen, sich von diesem Familienfluch zu befreien, seine dadurch geweckten Erinnerungen sind jedoch eher dazu geeignet, ihn herunter zu ziehen als aufzurichten. Es kommt so weit, dass er völlig verzweifelt nach abrahamschem Vorbild sogar zur Opferung seines Sohnes bereit ist, ihn mit einem Kissen ersticken will. In 45 manchmal nur aus wenigen Zeilen bestehenden Kapiteln berichtet Bov Bjerg anekdotisch von vielen prägenden und zumeist unerfreulichen Ereignissen im Leben Höppners. Dabei wird oft unvermittelt zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her gependelt, der Buchtitel scheint sich damit eher auf den kurvenreichen Plot zu beziehen als auf die psychischen Verwerfungen bei der verzweifelten Identitätssuche, über die da berichtet wird. «Diese Scheißwut der Scheißväter, gegen sich, gegen alle. Die Kinder mussten für die Kindheit ihrer Väter büßen. Ich war auch nur ein Scheißvater» sinniert der selbstzweiflerische Ich-Erzähler in seinem permanenten Lebensschmerz. Seine ergebnislosen Grübeleien münden in den Satz: «Als ob ein Suizid das Ergebnis einer logischen Operation wäre», man kann ihn als Beweis für das ständige Ringen des Erzählers mit den Dämonen deuten, die ihn im Traum heimsuchen.

Die schonungslose Offenheit, mit der hier eine Familientragödie beschrieben wird, offenbart auf eindrucksvolle Weise die Bodenlosigkeit einer tückischen Psychose, die zur Obsession des Ich-Erzählers geworden ist und all sein Denken bestimmt. All das wird jedoch stilistisch unterkühlt in einer sperrigen Prosa ziemlich schleppend erzählt. Man muss sich als Leser besonders am Anfang geradezu quälen, um irgendwie hinein zu kommen in diese von weitgehender Emotionslosigkeit dominierte, melancholische Geschichte. Als beste Momente beim Lesen erweisen sich die giftigen Kommentare über die Nazivergangenheit des Vaters sowie die vehementen Ausfälle gegen eine zeitgenössische, akademische Bourgeoisie, die sich zum Stehempfang trifft und der Höppner als Professor ebenfalls angehört. Wenn da nur nicht immer auch der Schwarze Gott im Hintergrund lauern würde, den er mit viel Alkohol vergebens zu bekämpfen sucht, - wie schon seine Väter!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 13.09.2020
Geschichten mit Marianne
Bayer, Xaver

Geschichten mit Marianne


sehr gut

Groteske Versuchsanordnung

Der neue Band von Xaver Bayer mit dem deskriptiven Titel «Geschichten mit Marianne» enthält zwanzig Kurzgeschichten, in denen genannte Dame jeweils als Initiatorin, Begleiterin, Partnerin, Stichwortgeberin und sogar als Domina fungiert. Gemeinsam ist ihnen, dass alle diese zunächst harmlos beginnenden Geschichten einen völlig unerwarteten Verlauf nehmen, der kafkaeske Züge trägt. Das wird besonders deutlich in einer als Schnitzeljagd per WhatsApp angelegten, grotesken Erzählung, deren Handlungsort ein verfallenes «Schloss» ist. Man muss sich als Leser also auf allerlei Überraschungen gefasst machen, die allesamt irreal erscheinen und einen traumatischen Verlauf nehmen.

Ein namenloser Ich-Erzähler ist mit der titelgebenden Protagonistin liiert, die Beiden wohnen nicht zusammen, leben aber häufig für einige Zeit in Mariannes diversen Domizilen. Während man von Marianne nur erfährt, dass sie sehr wohlhabend ist, deutet beim Ich-Erzähler, der in ihrer Wohnung immerhin seinen Schreibtisch stehen hat, einiges darauf hin, dass er mit Literatur zu tun hat, aber sicher ist auch das nicht. In diesen jeweils für sich stehenden Kurzgeschichten bleibt immer alles vage, was dem Leser reichlich Raum für allerlei Assoziationen und eigene Deutungen lässt. Die unbetitelten Geschichten, meist ausgelöst durch die spontane Abenteuerlust der Beiden, kippen nach einem zunächst plausibel erscheinenden Anfang plötzlich ins Irreale ab.

Gleich in der ersten Geschichte ist Er bei Ihr zum Essen eingeladen, Marianne serviert ihm ein mehrgängiges Menü, während direkt vor der Haustür Terroristen ein Massaker anrichten. Nach dem seelenruhig eingenommenen Essen greifen die beiden Gourmets schließlich mit den Gewehren des Vaters in den Straßenkampf ein, wobei Marianne schon bald tödlich getroffen zusammensinkt. Ähnlich makaber endet der dörfliche Perchtenlauf, aus dem plötzlich blutiger Ernst wird, und auch ein Waldspaziergang wird unversehens zu einer tödlichen Treibjagd auf Menschen. Eine Spazierfahrt mit dem Auto, die immer weiter in unbekanntes Gelände führt, wird zur Falle und endet in einem Kreisel, aus dem es kein Zurück mehr gibt. Im Fahrstuhl zu Mariannes Wohnung zeigt das Display schon die 18te Etage an, obwohl das Haus nur zwölf hat, der Aufzug fährt einfach immer höher. In einer anderen Geschichte berichte er ihr am Telefon von zwei Drohnen, die ihn plötzlich auf allen seinen Wegen begleiten und nicht abzuschütteln sind; auch als er sie in eine Falle lockt und zerstört, sind sie bei nächster Gelegenheit wieder da. Nach einem Flohmarktbesuch, bei dem die Beiden wegen der Unkenntnis der Verkäufer äußerst Wertvolles für lächerliche Beträge ergattert haben, zerstören sie, zuhause angekommen, bei einem Glas Wein genüsslich ihre Beute. Zunächst geht ihre kostbare Brocard-Vase in Stücke, es folgen das Aquarell von Joseph Beuys und die rare Erstpressung einer LP von Can, zuletzt verbrennen sie Stück für Stück seinen ganzen Bücherkarton voller Rarissima im Ofen. Auf dem Weg zu einem Swinger-Club diskutieren die Beiden über die beste Art, sich das Leben zu nehmen, und dieses Thema beherrscht dann auch den gesamten Aufenthalt in diesem Etablissement, dessen erotische Verheißungen allesamt ungenutzt bleiben.

Man merkt den Geschichten die Neugier an, mit der ihr Autor seine skurrilen literarischen Irrfahrten inszeniert, um damit seine Protagonisten in die absurdesten Situationen zu stürzen. Er tut dies in einem gefälligen Plauderton, viele seiner Kurzgeschichten beginnen denn auch völlig unverfänglich, geradezu spielerisch mit einer harmlosen Idee, womit er das bald ins Makabre kippende Geschehen wirkungsvoll konterkariert. Von diesem Wettstreit zwischen Wirklichkeit und Traum wird in angenehm lesbaren, teilweise amüsanten, aber immer auch nachdenklich machenden Geschichten erzählt, die unerwartet zum Albtraum werden. Aus übermütigem Spiel wird in einer Art grotesken Versuchsanordnung plötzlich immer bitterer Ernst.

Bewertung vom 11.09.2020
Die Infantin trägt den Scheitel links
Adler, Helena

Die Infantin trägt den Scheitel links


gut

Man wird doch noch träumen dürfen

In Zeiten, in denen der Dorfroman fröhliche Urständ feiert, hat Helena Adler mit «Die Infantin trägt den Scheitel links» eine autobiografisch inspirierte Anti-Idylle thematisiert, die Geschichte «eines Aschenputtels, das anstatt gläserner Schuhe dreckige Stallstiefel trägt», wie sie erklärt hat. Die Figur der Infantin, hinter der sie sich versteckt und deren Leben sie in ihrem zweiten Roman erzählt, charakterisiert sie als «eine kratzbürstige Alice im Hinterland, die gelernt hat, sich zu wehren». In 21 Kapiteln, die quasi als narrativer Sidekick jeweils Bilder aus Museen rund um den Globus zitieren, entwickelt die Autorin ein wahres Erzählfeuerwerk um Kindheit und Adoleszenz ihrer wehrhaften Infantin und demaskiert ironisch die verlogene Idylle vom Landleben als erstrebenswertem Ideal.

Die namenlose Heldin, die sich selbst als Infantin bezeichnet, wächst als jüngstes Kind auf einem österreichischen Bauernhof in der Nähe von Salzburg auf. Man solle, so heißt es gleich im ersten Satz, ein Gemälde von Pieter Bruegel nehmen, - gemeint ist der Ältere, der Bauernbruegel. «Nun animieren Sie es», fordert Helena Adler dann den Leser auf, denn was sie nachfolgend beschreibt gleicht in der Tat dem kruden Geschehen auf den bäuerlichen Gemälden des Niederländers, ein deftiges, literarisches Wimmelbild sozusagen. Die Großfamilie, in der die Infantin heranwächst, besteht aus den Urgroßeltern, denen der Hof gehört, der dementen Großmutter, dem trinksüchtigen Vater, der frömmelnden Mutter und den bösartigen, älteren Zwillingsschwestern, von denen sie unentwegt gepiesackt wird. Aber sie weiß sich zu wehren, wovon schon der Romantitel zeugt, sie trägt den Scheitel links! Und so ist sie es denn auch, die den Hof abfackelt, ohne dass ihr daraus wirklich Ungemach entsteht, die Erwachsenen sehen es mit einem weinenden und einem lachenden Auge, die Versicherung zahlt ja. Standhaft weigert sie sich, in den Kindergarten zu gehen, gehört in der Schule zu den auffälligen Schülern, feiert in der Adoleszenz wilde Partys mit der Dorfjugend und ist plötzlich unversehens erwachsen.

Die schweißtreibende, dreckigen Stallarbeit, das Schlachten der Tiere, die unsäglichen hygienischen Bedingungen auf dem heruntergekommenen, überschuldeten Hof begleiten sie ebenso wie die ständigen, rüden Anfeindungen ihrer Schwestern, denen sie wenig entgegenzusetzen hat. Trotz all dieser Zumutungen behält sie den Kopf oben, sucht ihnen durch ihre Träume zu entkommen oder stemmt sich ihnen beherzt entgegen so gut sie kann. Dabei ist es insbesondere der Vater, der in allen Lagen zu ihr hält, auch gegen die wüsten Gewaltexzesse der bigotten Mutter. In diesem ungewöhnlichen Roman wird ein fast archaisches Landleben in einer Diktion beschrieben, die weitgehend allein steht als narrativer Benefit. Der Plot selbst nämlich vermag niemanden wirklich mitzureißen, zu profan ist das Geschehen. Aber wenn die Infantin zum Beispiel erzählt, «zum Abendessen servieren sie mir Rindermilch mit Rindenmulch», dann bekommt man eine Vorstellung von der überschäumenden Sprachwucht der Autorin, denn so tönt es immerfort in dieser Geschichte. Sie würzt den Zorn der aufrührerischen Infantin Pointe für Pointe mit einem köstlichen, stets ironischen Humor und verwandelt ihn mit permanenten Zuspitzungen zuweilen in beißende Satire um.

«Lass mich ein Kind sein, sei es mit!» lautet ein dem Roman vorangestelltes Motto aus Schillers ‹Maria Stuart›. Was da aus kindlicher Perspektive so zynisch, vulgär, brutal, böse, eklig und stets aggressiv beschrieben wird, ist eine surrealistische Coming-of-Age-Geschichte ohnegleichen. Im Jaguar XK, «mein neuer Roman, der gerade zum Weltkulturerbe ernannt wurde, auf dem Beifahrersitz» brause ich «auf dem «Weg zu meiner Nobelpreisrede» durch New York, hat Helena Adler träumerisch auf die Frage geantwortet, was sie so treibe, wenn sie gerade nicht schreibe. Na und, man wird doch noch träumen dürfen!

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