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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 763 Bewertungen
Bewertung vom 14.05.2017
Heimat
Schüle, Christian

Heimat


ausgezeichnet

„Ich spürte die Verwurzelung meines Körpers in einem bestimmten Boden, und der Kirchturmglockenklang korrespondiert mit einem Gefühl, das diebstahlsicher im Archiv des eigenen ICHs verwahrt ist.“ (12) Der Autor versteht es, die Geborgenheit, die Menschen mit Heimat verbinden, prägnant zu beschreiben.

Dennoch bleibt Schüle auch widersprüchlich in seinen Aussagen oder er schafft bewusst eine Diskussionsgrundlage. Dies gilt schon hinsichtlich der Frage, was Heimat denn nun ist. Ist Heimat nur die Idylle auf dem Land? Nein. Heimat ist auch: „Die Bindung an den Ort des eigenen Ursprungs – der ebenso gut die Plattenbausiedlung einer Metropole, die Straßenschlucht einer Großstadt oder die Leere einer Mark sein kann ...“ (11/12)

Die Magie der Kirchturmglocken wird am Ende des ersten Teils des Buches noch einmal beschworen, aber in Frageform. Ist Heimat „das Produkt einer poetischen Erinnerungsleistung“ (66) oder „der mystische Modus zu ... Teilnahme an einem Kulturraum, der durch Gerüche, Geschmäcke und Tonfälle sinnlich bestimmt ist.“ (66/67) Da sind sie wieder, die Bilder, die der Autor mit seinen Worten erzeugt.

Offensichtlich ist Heimat für viele Menschen nicht die Idylle, die im ersten Teil des Buches beschworen wird. Millionen Menschen aus Afrika sind wegen Hunger, Dürre und Krieg auf der Flucht. Hier stellt sich die Frage, welche Bedeutung Heimat für diese Menschen hat. Ist Heimat der reale Geburtsort oder hat Heimat eine metaphysische Bedeutung?

Auf der Suche nach neuer Heimat werden flüchtende Menschen, insbesondere wenn sie in großer Anzahl auftreten, mit Misstrauen und Abwehr konfrontiert. Der Autor spricht von anthropologischen Konstanten, die jeder Begründung vorausgehen. (98) „Mehr oder weniger die Hälfte der Bevölkerungen zieht Geschlossenheit der Offenheit vor.“ (104) Hier wäre ein Ausflug in die Evolutionsbiologie hilfreich, um die Zusammenhänge besser verstehen zu können.

Das Thema hat eine gesellschaftliche Dimension. Es geht beim Fremden nicht primär um Hautfarbe oder Religion. Es geht um die Anerkennung der gesellschaftlichen Prinzipien des aufnehmenden Landes. Religion wird nur dann problematisch, wenn sie über das Grundgesetz gestellt wird. Eine Kultur, die Frauen unterdrückt, wird in Europa keine Anerkennung finden.

Migration ist ein schwieriger Prozess und aus den oben genannten Gründen haben es Menschen aus christlich geprägten Kulturen hier leichter als Menschen aus muslimisch geprägten Kulturen. Dabei ist der Autor nicht auf einem Auge blind, sondern macht deutlich, was im Namen des Christentums alles geschehen ist. Der Begriff „Werte“ erscheint als ein Widerspruch zu sich selbst, wenn man ihn spiegelt mit Inquisition, Folter und Verbrennung.

Auch fällt auf, dass Deutschland eine historische Last zu tragen hat und über Assimilation und strukturelle Integration nicht unbefangen diskutieren kann. Der Traum von Multi-Kulti ist in Deutschland beherrschend und die Schuld für misslungene Integration wird allein bei der aufnehmenden Gesellschaft gesucht. Wenn Deutschland als neue Heimat in Betracht gezogen wird, ist – als Minimalforderung - die Kenntnis der Sprache unbedingte Voraussetzung.

Schüle setzt sich mit der Entwicklung in Europa auseinander und benennt Schwächen. „In jeder funktionsfähigen Demokratie westlicher Prägung können die Bürger opponieren und eine Regierung abwählen – in der EU können sie das nicht.“ (207) Trotzdem bestimmt die EU mittlerweile den Alltag. Viele Menschen fühlen sich diesem Hypersystem ausgeliefert. Hier hat die Politik eine Bringschuld, den Nutzen verständlich und plausibel zu erläutern.

Der Autor zeichnet ein Bild der Zerrissenheit, aber auch der Hoffnung. Sein Entwurf ist nicht frei von Widersprüchen, aber das ist auch nicht das Ziel. Es geht nicht um einfache Antworten, sondern um eine Reflexion des Themas in seiner Vielschichtigkeit und damit um eine Diskussionsgrundlage, um den Veränderungsprozess zu begleiten. .

Bewertung vom 07.05.2017
Ich will so bleiben, wie ich war
Bittl, Monika

Ich will so bleiben, wie ich war


sehr gut

Take it or leave it!

Warum der im Buchtitel geäußerte Wunsch nicht erfüllt werden kann, macht Monika Bittl bereits im Vorwort deutlich. „Zu dumm nur, dass aber Älterwerden die einzige Möglichkeit ist, um zu überleben.“ (7) Im Sinne dieser fatalistischen Erkenntnis handelt es sich bei diesem Buch auch nicht um einen Ratgeber, sondern eher um ein Arrangement mit dem Älterwerden.

Die Natur meint es gut mit den Menschen, denn in der Regel sehen wir uns positiver, als unsere Umwelt uns sieht. Insofern sollte das von Frau Bittl beschriebene „Gespenst im Spiegel“ (11) eher die Ausnahme sein. Wer es dennoch erkennt, kann die Brille wechseln oder wie einst Edith Piaf, der die Autorin ein eigenes Kapitel widmet, „Je ne regrette rien“ (67) in den Äther schmettern.

Frau ist heute ihrer selbst bewusst. „Ich bin lustig und heiter, wenn es mir gerade passt, und nicht, wenn eine Radio-Tussi mir das vorschreibt.“ (122) Und da alles relativ ist, gilt auch: „Und ich bin noch jung. Zumindest auf dem Weg zu meinen Eltern – denn dorthin fahre ich immer noch als Kind.“ (122) Alles ist perfekt. Wozu dann noch die Brille wechseln?

Die Autorin greift eine Vielzahl an Alltagssituationen auf, die sie ironisch bzw. humorvoll, verpackt in kleinen Kapiteln, vorstellt. Es sind Ansichten, Einsichten, Erfahrungen und sogar eine kleine Übersetzungshilfe, damit der Partner „sie“ besser versteht. (193) Die Antwort auf viele Fragen gibt die Autorin im Kapitel „Als das Wünschen noch geholfen hat“. Das Beste, was Frau (Mann) erreichen kann ist: „Sei du selbst.“(124)

Bewertung vom 05.05.2017
Effi Briest
Fontane, Theodor

Effi Briest


ausgezeichnet

Ein facettenreicher gesellschaftskritischer Roman

Der in Neuruppin geborene Theodor Fontane gilt als bedeutendster deutscher Vertreter des poetischen Realismus. „Effi Briest“ gehört zu seinen späten Werken und ist ein gesellschaftskritischer Roman, der von der Beziehung zwischen der jugendlichen Effi Briest und dem um 21 Jahre älteren Baron Geert von Innstetten handelt, eingerahmt in das gesellschaftliche Umfeld des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Handlungsorte sind Hohen-Cremmen (Brandenburg), Kessin (Pommern) und Berlin.

Die Ehe entspricht dem Willen ihrer Eltern, aber Effi ist jung und naiv genug, diesen Weg auch als ihren eigenen anzusehen („Natürlich muss er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen.“). Die Liebe zu einem Mann vergleicht sie mit der Liebe zu ihren Freundinnen („Warum soll ich ihn nicht lieben? Ich liebe Hulda, und ich liebe Berta, und ich liebe Herta.“).

Effi wird in ihrer neuen Umgebung in Kessin nicht glücklich. Sie leidet an Einsamkeit und hat Angst. Die Angst wird durch eine düstere Umgebung künstlich geschürt. Fontane versteht es, dies bildlich zum Ausdruck zu bringen („Solch fahles, gelbes Licht gibt es in Hohen-Cremmen gar nicht.“). Sie und Innstetten sind diametral verschiedene Charaktere, getrennt nicht nur durch das Alter. Er ist ein Mann von Grundsätzen und auf Karriere bedacht, sie lebhaft, phantasievoll und naiv. Die Unterschiede sind eine Belastung für Effi, wie sie Pastor Niemeyer gegenüber deutlich macht („ich fürchte mich vor ihm“).

Viel von ihrem Mann alleine gelassen, lässt sich Effi (eigentlich gegen ihren Willen) von Major Crampas, einem Freund ihres Mannes, verführen. Dieser kennt Innstetten von früher und macht ihr gegenüber deutlich, dass Innstetten sie erziehen will. Die Affäre findet ihr Ende, als Effi mit ihrem Mann nach Berlin zieht. Sechs Jahre später findet Innstetten zufällig Liebesbriefe von Crampas und die Entwicklung nimmt einen zwangsläufigen Verlauf.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse und Erwartungen repräsentieren eine Macht, der sich Innstetten nicht entziehen kann. Sein übertriebener Pflichtbegriff schränkt seine Freiheit ein. Die Briefe, einmal aufgetaucht, lösen eine Kettenreaktion aus, die unvermeidlich zum Duell mit Crampas und zur Trennung und Ächtung von Effi führt. Innstetten ist ein Getriebener. Handlungsfreiheit gibt es nur im eingeschränkten Rahmen gesellschaftlicher Pflichten und Konventionen. Fontane lässt die moralische Bewertung, die Frage nach Schuld und Unschuld, offen. Er ist nur Berichterstatter.

Auf Basis dieses Romans sind differenzierte Charakterstudien möglich. Das gilt nicht nur für die Hauptfiguren Effi und Baron von Innstetten, sondern auch für Nebenfiguren wie Johanna und Roswitha. Fontane stellt dar, wie die Menschen von ihrem Umfeld und dem Zeitgeist geformt werden. Sie sind ein Spiegelbild ihrer Epoche. Heute gibt es keine Duelle mehr und Ehebruch führt nicht mehr zur Ächtung. Dennoch hat jede Zeit ihre eigenen gesellschaftlichen Zwänge. Der Roman ermöglicht einen Blick aus zeitlicher Distanz auf gesellschaftlich geformte menschliche Verhaltensweisen und lässt unterschiedliche Interpretationen der Schuldfrage zu. Dies dürften Gründe dafür sein, dass der Roman auch heute noch aktuell ist.

Bewertung vom 29.04.2017
Egozentriker gekonnt abholen
Hinz, Wolfgang; Kirchhoff, Michael

Egozentriker gekonnt abholen


weniger gut

Alter Wein in neuen Schläuchen

Vor über 20 Jahren habe ich einen Wochenendkurs besucht zum Thema Enneagramm [1]. Es handelt sich dabei um eine uralte Typenlehre der Sufis. Der Kursleiter war davon überzeugt, dass diese Typenlehre eine Renaissance erleben wird.

Doch die Erfahrungen waren ernüchternd. Das Enneagramm ist ein Modell, welches versucht, Menschen, die von Natur aus differenziert und kompliziert sind, ein Raster überzustülpen. Eine Zuordnung zu beschriebenen Persönlichkeitstypen wird nur in wenigen Fällen gelingen, da Menschen sich nicht rastern lassen.

So wie in der Physik nicht das Verhalten eines Teilchens im Mikrokosmos bestimmt werden kann, so kann auch in der Psychologie nicht das Verhalten eines Menschen prognostiziert werden. Anders sieht es aus, wenn es um viele Teilchen (radioaktiver Zerfall) oder um viele Menschen (Massenpsychologie) geht. Dann greifen Methoden der Statistik.

Die Autoren bauen ihr Buch auf der Typenlehre des Enneagramms auf. Sie haben das Persönlichkeitsmodell in seiner Komplexität so weit reduziert, dass es alltagstauglich wird, ohne die Aussagekraft zu verwässern. (73) Letzteres kann nicht funktionieren, weil das Raster dann noch gröbere Strukturen aufweist und zwangsläufig an Aussagekraft verlieren muss.

Was ich für zweckmäßig halte, ist die beschriebene Interessengegenüberstellung, wenn es um Konflikte geht. Die gemeinsamen Interessen können durch Gespräche analysiert und zur Grundlage einer Lösung gemacht werden. Das setzt voraus, dass beide Seiten mitmachen.

Der bekannte Kriminalpsychologe Thomas Müller kommt in seinem Buch [2] zu den Erkenntnissen: „Jedes menschliche Verhalten ist bedürfnisorientiert“ und „Menschliches Verhalten lässt sich nicht katalogisieren“. Darauf lässt sich bauen.

[1] Richard Rohr und Andreas Ebert: „Das Enneagramm“
[2] Thomas Müller: „Bestie Mensch“

Bewertung vom 27.04.2017
Die Kraft der Naturgesetze
Dedié, Günter

Die Kraft der Naturgesetze


sehr gut

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile

Elementare Bausteine verbinden sich auf Basis ihrer Wechselwirkungen zu komplexeren Strukturen. Es entsteht durch Selbstorganisation ein hierarchischer Aufbau der Strukturen von den Elementarteilchen bis hin zu sozialen Systemen. In jeder Hierarchiestufe treten neue Eigenschaften auf, die aus den Bausteinen der jeweils niedrigeren Stufe nicht ableitbar sind. Das zugrunde liegende Konzept bezeichnet man als Emergenz.

Der Physiker Günter Dedié beschreibt in seinem Buch eine Gesamtschau auf Basis der Emergenz. Seine Reise beginnt bei den Elementarteilchen; Stationen sind der Aufbau der Atome, die Quantentheorie, die Entstehung der Sterne, die Allgemeine Relativitätstheorie (ART), chaotische Prozesse sowie die Entwicklung des Lebens und des Gehirns bis hin zu menschlichen Gesellschaften.

Dediés Beschreibungen der physikalischen Grundlagen sind verständlich. Das gilt z.B. für die Übersicht über Kräfte, Kraftfelder und Feldteilchen (37), für seine Ausführungen zur Entropie (55) und für seine Erläuterungen zur Metrik (57). Der Autor schreckt auch nicht davor zurück, auf Grenzen und Unsicherheiten im kosmologischen Modell hinzuweisen. So bezeichnet er die ART als Hypothese (121), da sie unter Physikern nicht unumstritten ist und er macht deutlich, dass es Beobachtungen im All gibt, die nicht zur Urknall-Hypothese passen.

In Kapitel 12 behandelt Dedié die chemischen Grundlagen und macht den Zusammenhang zur Physik deutlich. „Die chemischen Bindungen bauen auf der Physik der Atomhülle auf“ (125). Auch in diesem Kapitel wird an den klaren Ausführungen deutlich, dass der Autor Lehrerfahrung hat. „Aus Sicht der Emergenz gibt es für sämtliche Abläufe oder Strukturen in der Welt der Moleküle nur empirische Modelle.“ (133)

Im zweiten Teil des Buches befasst sich der Autor mit lebenden Systemen und der menschlichen Gesellschaft. Er bezeichnet die (biologische) Evolution als „eindrucksvolles Beispiel für die spontane Selbstorganisation“ (134). Um die biologische Evolution im vorhandenen Zeitrahmen erklären zu können, gab es beschleunigende Prozesse, wozu z.B. die Selbstorganisation in frühen Makromolekülen gehört. (136) Dennoch ist die Evolution eine Entwicklung ohne Entwicklungsziel.

Der Zusammenhang zwischen Evolution und Emergenz hätte klarer herausgearbeitet werden können. Wie hängen Mikroevolution, Makroevolution und Emergenz zusammen? Der Autor beschreibt das Gehirn als Paradebeispiel eines emergenten Systems. „Es setzt die materiellen Ebenen in die geistige Ebene um.“ (180) Aber was ist Bewusstsein? Ist nicht Bewusstsein ein Musterbeispiel für Emergenz? Dediés Ausführungen zu diesem Thema sind recht knapp. Für Hirnforscher Gerhard Roth ist Bewusstsein das Eigensignal des Gehirns für die Bewältigung eines neuen Problems.

Das Kapitel über die menschliche Gesellschaft ist überproportional lang und es ist auch ein Sammelsurium unterschiedlicher Themen. Dedié analysiert die menschliche Gesellschaft aus Sicht der Selbstorganisation (201). In diese Thematik passt das Gruppenverhalten, wie Gustav Le Bon es in „Psychologie der Massen“ beschreibt. Wirtschaft und Markt sind wieder andere Themen. Der Autor glänzt mit sozial- und wirtschaftskritischen Ausführungen, wobei das Thema Emergenz gefühlt in den Hintergrund gerückt wird.

Günter Dediés Buch ist originell, herausfordernd und lesenswert. Ich glaube, dass das Thema ausbaufähig ist und insbesondere die Teile außerhalb der Physik und Chemie noch strukturierter und präziser gefasst werden können. Es handelt sich um ein breit gefächertes Thema, welches mich angeregt hat, in verschiedenen Werken nachzuforschen. Das schafft nicht jeder Autor.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 18.04.2017
Heute beginnt der Rest des Lebens
Roger, Marie-Sabine

Heute beginnt der Rest des Lebens


ausgezeichnet

Ein tragisch-humorvoller Roman

Handlungsort ist Paris. Zu den Hauptdarstellern gehören außer Mortimer seine engen Freunde Nassardine und Paquita sowie seine Freundin Jasmine. Auffallend sind die wundervollen Charakterisierungen der Protagonisten. Marie-Sabine Roger hat großes Talent, prägnante liebevolle Charaktere mit Wiedererkennungswert zu skizzieren. Sie webt die Charaktere ein in eine makabere Geschichte voller Überraschungen.

Mortimer muss sterben, wie alle Menschen vor ihm und nach ihm. Das Besondere ist, er glaubt, an seinem 36. Geburtstag sterben zu müssen, da seit Generationen alle Männer in seiner Familie an genau diesem Tag gestorben sind. Er bestellt den Strom ab, räumt den Kühlschrank leer, kündigt seine Wohnung und wartet auf den Tod. - Es kommt anders, sonst wäre der Roman schnell zu Ende.

Ausgerechnet Paquita findet ihn vor seinem vermeintlichen Ableben und denkt sich nichts Schlimmes dabei. Ihre unbekümmerte Art wirkt beim ersten Lesen tragisch-humorvoll und beim zweiten Lesen nur noch humorvoll. Der Roman ist durchsetzt mit Szenen dieser Art. Nebenbei erfahren die Leser noch einiges über die Lebensgeschichte von Mortimers Ahnen. Seltsame Ereignisse verbindet diese Familie.

Es gibt nur wenig zu kritisieren. Widersprüchlich ist, dass Mortimer einerseits nie den Raum Paris verlassen hat (104), andererseits aber in der Provence seine Ferien verbracht hat (110). Von dieser Kleinigkeit abgesehen fällt die Schleichwerbung für konkrete Produkte an verschiedenen Stellen des Buches auf. Aber das ist man ja von vielen Filmen gewohnt. Und der „Rest des Lebens“ kommt ein wenig zu kurz.

Die Kapitel sind knapp und ansprechend. Die Autorin versteht es, die Leser zu verblüffen. Viele Ereignisse verlaufen anders als erwartet und das macht neugierig. Am Ende angelangt wünscht man sich eine Fortsetzung der Geschichte, weil ihr Ende dafür prädestiniert ist. Zwecks Steigerung des Unterhaltungswertes sollten Nassardine und Paquita auch darin vorkommen. Marie-Sabine Roger ist eine Autorin, die man sich merken sollte.

Bewertung vom 15.04.2017
Der Weg zum Erfolg
Loriot

Der Weg zum Erfolg


gut

Ein satirischer Ratgeber

Vicco von Bülow alias Loriot gilt als einer der vielseitigsten deutschen Humoristen. Der Karikaturist Loriot ist bekannt durch Film, Fernsehen und Theater. Zudem hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht. Zu seinen Hauptthemen gehören Kommunikationsstörungen in Alltagssituationen.

Im vorliegenden Buch geht es um Wege zum Erfolg. Das Buch enthält ca. 80 Cartoons zu Alltagssituationen zu Hause, beim Sport, im Verkehr oder im beruflichen Umfeld. Das Geheimnis seiner Methode besteht darin, dass der Erfolg keineswegs sicher ist. Damit setzt er einen ironischen Kontrapunkt zu realen Ratgebern.

Seine Figuren und Formulierungen haben Wiedererkennungswert. Viele seiner Sprüche und Sketche sind zeitlos. Er schießt nicht aus der Hüfte, sondern überlegt genau, was er schreibt und sagt. Dennoch macht der Zeitgeist auch vor Loriot nicht halt und so wirken die Cartoons von 1958 in der heutigen Zeit eben nicht mehr ganz frisch.

Bewertung vom 15.04.2017
Vom Mann, der auszog, um den Frühling zu suchen
Bagus, Clara Maria

Vom Mann, der auszog, um den Frühling zu suchen


gut

Auf der Suche nach dem inneren Frühling

Ein kleiner bunter Vogel vermag es, eine karge Winterumgebung in ein buntes Frühlingspanorama zu verwandeln. Plötzlich sprießen aus den Zweigen Blüten hervor, wo vorher noch Eiszapfen hingen. Der namenlose Protagonist, der die Szene beobachtet, ist begeistert von diesem Vogel und begibt sich auf die Suche nach ihm. Von dieser Reise handelt das Buch.

Psychologin Clara Maria Bagus vermittelt, verteilt auf 59 kurze Kapitel, einfache Lebensweisheiten, die einem Buch von Paulo Coelho entsprungen sein könnten. Die Suche nach dem Vogel reflektiert die Suche nach sich selbst. Ebenso wie der andalusische Hirte Santiago in „Der Alchimist“ begegnet der Protagonist auf seiner Reise vielen Menschen, die ihm bei seiner Suche behilflich sind.

Es handelt sich bei diesem Buch um ein modernes Märchen. Die Leser tauchen für ein paar Stunden ein in eine Fantasiewelt. Der Fokus liegt auf den Weisheiten und nicht auf den Protagonisten, erkennbar an der fehlenden Charakterisierung und Namensgebung. Die Geschichte ist zeitlos und auch unabhängig von der Geografie. Für eine Lebenshilfe ist es zu oberflächlich, zu einfach gestrickt, es ist eher ein poetisches Werk.

Bewertung vom 13.04.2017
Der Mann, der das Glück bringt
Florescu, Catalin Dorian

Der Mann, der das Glück bringt


sehr gut

Lebensgeschichten vom Rand der Gesellschaft

„Der Fluss nahm die Toten sanft auf, als ob er wusste, dass es besondere Tote waren.“ (5) Bereits im ersten Satz schwingen Tragik und Melancholie mit, sodass die Leser auf den Inhalt eingestimmt und von diesem nicht überrascht werden. Es sind die Lebensgeschichten zweier armer Familien, beginnend 1899 bzw. 1919, deren Lebenswege sich zwei Generationen später kreuzen.

Ray und Elena treffen sich das erste Mal im September 2001 in New York. Der Zufall hat sie zusammengeführt. Sie erzählen sich ihre Lebensgeschichten, beginnend bei ihren Großeltern. Die für die Zuordnung der beiden Handlungsstränge und für das tiefere Verständnis wichtigen Erzählperspektiven kristallisieren sich erst im Verlauf der ersten Kapitel heraus. Das wirkt anfangs etwas störend.

„Da ist er ja, unser kleiner Caruso!“, riefen die einen. „Da ist er, der Mann, der das Glück bringt!“, die anderen. (183) Diese Anspielung bezieht sich auf den Großvater von Ray, der in ärmlichen Verhältnissen als Waisenkind in New York aufwächst und von einer Karriere als Künstler träumt. Das Glück bringt er den armen Menschen, den ausgestoßenen der Gesellschaft. Die große Karriere bleibt ein Traum. Der Großvater ist geprägt vom Überlebenskampf in den Straßen von New York und kein Sympathieträger. Manche Szenen sind grenzwertig.

Im zweiten Handlungsstrang geht es um Elenas Großmutter und Mutter, beide aufgewachsen in Rumänien, im Donaudelta am Schwarzen Meer. Armut, Aberglaube und Krankheit prägen das Leben der Dorfbewohner. Elenas Mutter findet eine Arbeit in einem Friseursalon in dem Ort Sulina und träumt davon, nach Amerika auszuwandern. Es kommt ganz anders.

„Der Mann, der das Glück bringt“ klingt im Hinblick auf das harte Leben der Protagonisten wie Ironie, bekommt aber auf einer anderen Ebene eine besondere Bedeutung. Es gelingt Catalin Dorian Florescu, die Leser emotional anzusprechen. Während einige Szenen in der New Yorker Zeit um 1900 abstoßend wirken, überwiegt in Rumänien die Traurigkeit. Glück ist ein zartes Pflänzchen, welches selten entdeckt wird und gehegt und gepflegt werden muss.

Der Autor ist ein fantastischer Geschichtenerzähler, dem es gelingt, die Leser mitzunehmen auf eine literarische Abenteuerreise durch die Geschichte. Er streut gezielt politische Ereignisse ein und die Reaktionen der Menschen darauf. Er kontrastiert die Verhältnisse der kleinen Leute in einer Großstadt mit den Verhältnissen der kleinen Leute in einer Dorfregion. Er verschneidet Perspektiven und führt eine Synthese herbei.

Hinsichtlich seiner Art die Lebensverhältnisse zu beschreiben, rau, hart, düster und melancholisch, erinnert er mich an den irischen Schriftsteller Colum McCann. „Der Himmel unter der Stadt“ von McCann besteht auch aus zwei Erzählsträngen, die konvergieren und in denen trotz aller Düsternis immer mal wieder ein kleiner Hoffnungsschimmer aufblitzt.

Florescu ist ein begabter Schriftsteller, der es versteht, gesellschaftliche Verhältnisse ausdrucksstark darzustellen, so mein Eindruck.