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Juti
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HD

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Insgesamt 749 Bewertungen
Bewertung vom 31.08.2021
Besetzte Gebiete
Grünberg, Arnon

Besetzte Gebiete


sehr gut

satirische Autobiografie

Ich weiß nicht, ob es das genannte Genre gibt, aber der niederländische Autor nimmt alles aufs Korn, was ihm in seinem Leben begegnet. Ich kann dieses an Wendungen reiche Buch nicht bewerten, ohne auf den Inhalt einzugehen und bitte alle, die sich mehr Spannung bewahren wollen, nicht weiterzulesen.

Das Buch beginnt mit einer Patientin eines Psychiaters, die sich erst das Leben nehmen wollte, jetzt aber nur wütend auf ihren Therapeuten Kadoke ist. Kadoke hatte sie zur Pflege seiner Mutter, die ursprünglich sein Vater war und wieder zum Vater wird eingesetzt, damit sie eine Lebensaufgabe hat. Auch der Vater möchte totgemacht werden. Damit thematisiert Grunberg mit Euthanasie und Geschlechtsumwandlung gleich zwei Themen, die in den liberalen Niederlanden niemanden aufregen und damit den Gedanken grüner Gesellschaftsschichten in Deutschland entspechen.

Kern der ersten Kapitel des Romans ist aber, dass Kadoke wegen seiner „alternativen Therapie“ nicht mehr als Psychiater arbeiten darf, weil seine Patientin eine Schriftsteller gefunden hat, der ihre Geschichte unter dem Pseudonym „Walvisch“ aufgeschrieben hat und Kadoke eine Vergewaltigung seiner Patientin unterstellt. Seine Patientin nennt dann in einer Talkshow Kadokes richtigen Namen. Kadoke verliert seine Zulassung, weil er seine Unschuld nicht beweisen kann und wird antisemitisch beschimpft.

Anstatt als gefallener Psychiater in Amsterdam zu bleiben, wandert Kadoke zu einer entfernten Cousine nach Israel aus, mit der kurz vorher auf dem heimischen Sofa Sex hatte, wo er als agnostischer Jude unter radikale jüdische Siedler gerät. Immerhin bezeichnet er sich als Verlobter seiner Cousine Anat und wird als Wunder gefeiert, weil Anats Freundinnen stets für einen Mann gebetet haben, damit sie viele Kinder kriegen kann.

Da die beiden schon älter sind, hat Anats Mutter, die im Warten auf den Messias auf jegliche Reinigung der Wohnung verzichtet, im Gebet mit ihrem im Koma liegenden Rabbi die Erleuchtung bekommen, dass sie die Potenz des zukünftigen Ehemanns ihrer Tochter überprüfen muss, damit ihre Tochter nicht wie bei ihrem ersten Ehemann mit einem impotenten zusammen lebt.
Kadokes Sex mit Anat unter Aufsicht der Mutter funktioniert zunächst nicht, da er Erektionsprobleme hat. Als der Leser schon denkt, die Ehe scheitert, nimmt die Mutter das „schreckliche Ding“ in den Mund und sucht mit der Taschenlampe in Anat, ob sie auch Samen bekommen hat.
Doch anstatt nun als Deckhengst ein normales bürgerliches Leben zu führen, wählt Kadoke eine neue Affäre, diesmal zu einem Mann, damit auch noch die bisexuellen Werte nicht zu kurz kommen. Das Ende einer Satire wird, wie fast üblich, dermaßen übertrieben, dass ich es nicht mehr schildern möchte. Etwas Spannung soll ja doch erhalten bleiben.

Ein nichtjüdischer Autor bekäme vermutlich Ärger, die Siedlungspolitik Israels so drastisch darzustellen, aber ich kann mir tatsächlich das Leben orthodoxer Juden so vorstellen. Weil Kadoke aber teilweise um der Geschichte willen unklug handelt und weil das Ende mir nicht gefällt, gibt es 4 Sterne. Mir hätte besser gefallen, wenn Anat einfach schwanger geworden wäre, aber das wäre für Grunberg wohl zu langweilig.

Bewertung vom 28.08.2021
Retroland
Groebner, Valentin

Retroland


sehr gut

O, du mein Luzern

Der Luzerner Historiker legt ein Buch vor, dass zwischen Vergangenheit und Geschichte unterscheidet. Die armenische Stadt Ani in der heutigen Türkei hat nur eine Vergangenheit, da von der großen Stadt des Mittelalters nur Ruinen übrig sind, die Stadt Luzern dagegen bemüht das Mittelalter, auch wenn die Stadt die Befestigung weitgehend abgerissen hat und was als Altstadt bezeichnet wird, erst im 19. Jahrhundert entstanden ist.
Dafür gibt es eine Erzählung von der Vergangenheit, die wir mit der Anknüpfung an die Gegenwart als Tradition bezeichnen. Bei Stadtjubiläen allerdings, vor allem wenn vom authentischen Geschehen nicht viel bekannt ist, wird häufig etwas vom Pferd erzählt, um eine gemeinsame Identität zu erzeugen.

Damit aber genug der Definitionen. Das Buch gibt neben Luzern noch zahlreiche Beispiele, wie Varallo im Piemont mit seinem Sacri Monti, auf dem Kapellen aus dem 16. und 17. Jh. das Leben Jesu so nachzeichnen, dass eine Reise nach Jerusalem überflüssig wird. Weiter gefällt mir die Suche nach dem Paradies, das wörtlich nur ein umzäuntes Gebiet sei. Der Autor erwähnt das Hotel Paradiso im Martello-Tal, dessen Eröffnung abgesagt wurde, weil der Sohn des Besitzer am Tag vorher bei einem Autounfall ums Leben kam.

Das Buch fällt auf durch steile Thesen: Da es keine unentdeckten Orte mehr gebe, bliebe nur noch die Reise in die Vergangenheit ist die Hauptthese. Mag sein. Aber seine Behauptung: „Jeder Ort , der in den letzten 200 Jahren ein Touristenziel gewesen ist, ist es heute immer noch,“ (141) möchte ich mit Bad Gastein widerlegen. Nun wird der ein oder andere sagen, das stimme nicht, aber sobald ich einen Namen nennen kann, ist der Ruinentourismus eröffnet.

Ein spannendes Thema, auf hohen Niveau erzählt, aber leider nicht ohne Wiederholungen, 4 Sterne.

Bewertung vom 24.08.2021
Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Ogawa, Yoko

Das Geheimnis der Eulerschen Formel


sehr gut

Geheimnisvolle Zahlentheorie

Erkenntnisse der Mathematik als Einblick in Gottes Buch der Schöpfung zu werten, ist die Weltanschauung des Professor, der dank seiner Schwester und einer Agentur für Haushaltshilfen Arbeitgeber der Ich-Erzählerin wird. Seine mathematische Weltfremdheit wird noch verstärkt durch einen 1975 erlittenen Unfall, der dem Genie sein Kurzzeitgedächtnis auf 80 Minuten beschränkt.

Das Setting wäre nicht vollständig, wenn nicht die Ich-Erzählerin noch einen Sohn hätte, der vom senilen Professor geliebt wird und Mathematikaufgaben zum Knobeln bekommt. Die Zahlentheorie als Krone der Mathematik eignet sich besonders gut, um von 28 als vollkommene und dem Paar 220 und 284 als befreundete Zahlen zu sprechen und einfache Probleme mit schwierigen Beweisen einzuführen. Mich hat der Eulersche Satz immerhin dazu inspiriert, mir ein Video der Vorlesung des jungen Kultprofessors aus der Heidelberger PH anzuschauen.

Die Lebensgeschichte der Haushälterin mit Entlassung und Wiedereinstellung, vor allem aber die langen Baseballberichte haben mich weniger interessiert. Deswegen 4 Sterne. Ich will noch bemerken, dass mich die Sprache sehr an Murakami erinnert. Ob das an der gleichen Übersetzerin liegt oder ob alle Japaner ähnlich schreiben, wage ich nicht zu beurteilen.

Bewertung vom 23.08.2021
Chronik einer angekündigten Krise
Schreyer, Paul

Chronik einer angekündigten Krise


ausgezeichnet

andere Sichtweise

Corona-Bücher müssen aktuell sein. Dieses Buch ist nach dem ersten Lockdown geschrieben und auch die 6. Auflage enthält kein aktualisiertes Vorwort. Es zeigt aber eindrücklich, dass das Szenario einer Pandemie von den Amerikaner erst als Anschlag von Terroristen mittels einer Biowaffe, dann als eine natürliche Epidemie geprobt wurde.
Die klingt alles plausibel, selbst der Exkurs der Bevölkerungsreduzierung als Wunsch bestimmter Gruppen wird Realität sein.

Für die Anfänge der realen Corona-Krise werden unsere Medien scharf kritisiert. In der Tat hätte die Tagesschau beim Ausbruch in Bergamo über die Schwächen des italienischen Gesundheitssystem und die schlechte Luft in den Wintermonaten in Norditalien berichten müssen.
Verschwörungsmäßig geht es nur zu, wenn dem RKI-Chef nach einer Sprechpause unterstellt wird, dass er die Harmlosigkeit des Corona-Virus verschwiegen hätte.

Es ist schade, dass FAZ und SZ dieses Buch nicht besprechen. Eine lebendige Demokratie lebt davon, dass Meinungen ausgetauscht werden. Ich bin inzwischen ziemlich sicher, dass ein verbesserter schwedischer Weg die bessere Politik gewesen wäre.

Schreyer aber berichtet nur, was passiert ist, eine Chronik eben. Alternativen zeigt er nicht. Dafür werde ich noch das neuere Buch vom hier oft zitierten Wolfgang Wodarg lesen. Lesenswerte 5 Sterne

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 22.08.2021
Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk im Weltkrieg
Hasek, Jaroslav

Die Abenteuer des guten Soldaten Svejk im Weltkrieg


ausgezeichnet

die tschechische Bibel

Wenn ein Buch über 1.000 Seiten hat und selbst wenn der Anhang über 100 Seiten hat, dann kann ich von diesem Meisterwerk nur die Höhepunkte nennen.

Es beginnt mit der Nachricht der Zugehfrau an Švejk, dass der Ferdinand umgebracht wurde. Dies gibt unserem Helden gleich Anlass über die ihn bekannten Ferdinande zu spekulieren. Was später seitenlang ausgewälzt würde, ist nur eine kurze Antwort. Der Autor muss sich erst warm schreiben.

So fällt schon auf, dass im ersten Teil die Kapitel deutlich kürzer sind und dass auch mehr passiert. Švejk wird mit einem Trinkkumpanen von einem Zivilpolizisten in einer Kneipe wegen Majestätsbeleidigung festgenommen, dann für verrückt erklärt. Aber auch die Irrenanstalt will ihn nicht haben. Erst bei der Predigt des Militärpfarrers, die Švejk als einzigen zu Tränen rührt, wird er dem Geistlichen überstellt, der ihn aber wegen Spielsucht an Oberleutnant Lukasz verliert.

Das reichte schon für ein Buch. Aber im zweiten Teil geht es glatt so weiter. Švejk wird bei der Fahrt zur Kompanie nach Budweis aus dem Zug geschmissen, weil er verdächtigt wird, die Notbremse gezogen zu haben. Sein Fahrgeld für den nächsten Zug versäuft er. Švejk will zu Fuß gehen, läuft im Kreis, wird als Spion gefangen, dann aber nur für einen Drückeberger gehalten und doch zu seiner Kompanie geschickt.

Beim Militär lernt er den Einjährigfreiwilligen kennen, der von seinen Erfahrungen bei der wissenschaftliche Zeitung „Die Welt der Tiere“ erzählt (385-393), für die er schließlich Tiere wie den „Schwefelbauchwal" erfunden hat. Als er dann noch den Eichelhäher in „Nussling“ umtaufte, wird er entlassen. Im Nachwort erfahren wir, dass Autor Hasek früher selbst dort und so gearbeitet hat.
In ähnlicher Weise wird ein Spottgedicht auf das Militär entlarvt, weil der Dichter die männliche Laus „Lausser“ anstatt auf tschechisch korrekt „Läusling“ zu nennen (458).

Der dritte Teil behandelt auf über 250 Seiten nur die Zugreise an die Front, was an der Vielzahl der Anekdoten liegt, die nicht alle so witzig sind wie die Verwechselung vom ersten und zweiten Bandes eines Buches, den man zur Dechiffrierung geheimer Befehle gebraucht hätte (557-563). Heute wundere ich mich, dass bereits Anfang der 20er Jahre „Fußball“ erwähnt wird (582) und selbst Kindermissbrauch in Klöstern (651) thematisiert wird.

Im letzten Teil folgt der wohl bekannteste Abschnitt. Švejk zieht aus Interesse eine russische Uniform an und wird von den Österreichern selbst zum Kriegsgefangenen. Wegen seiner Deutsch-Kenntnisse hält man ihn für einen Spion, aber ein Telegramm seiner Kompanie rettet ihn vor der Hinrichtung.

Wegen des Todes des Autors endet das Werk, so dass ich es gewagt finde, Hasek dafür zu loben, dass er keine Gefechtsszenen beschrieben habe, weil wir nicht wissen, was noch gekommen wäre.
Selbstverständlich 5 Sterne, auch wenn es gegen Ende zu viele Anekdoten gibt.

Bewertung vom 21.08.2021
Inniger Schiffbruch
Witzel, Frank

Inniger Schiffbruch


schlecht

enttäuschendes Missverständnis

Vorweg empfehle ich der Leserin sich vor dem Kauf im Buchladen die ersten beiden Textseiten mit dem Rhinozerostraum zu lesen. Wem dies gefällt, der möge das Buch auch kaufen. Ich kann damit wenig anfangen. So fehlt mir in diesem Buch, das nicht gerade von einer durchgehenden Handlung strotzt, auch noch der Bezugspunkt.

Ich wollte dieses Buch lesen, weil der Autor bei den Heidelberger Literaturtagen zu Gast war, doch dann habe ich die Lesung doch nicht besucht. Dann hoffte ich, dass ich ähnliche Geschichten wie von Annie Ernaux lese, doch waren Witzels Anekdoten für mich langweilig.

Ich hoffte noch auf das zweite Kapitel, doch die Angst vor Kugelblitze auf S.49 (die man sicher auch metaphorisch sehen kann, doch wenn die erste Ebene nicht stimmt, nutzt auch die zweite Ebene nicht) und die seitenlange Analyse von Peterchens Mondfahrt, kurz unterbrochen von den Eulenspiegel der Mainzer Fasnacht überzeugten mich nicht.

Als Schachspieler freut mich aber, dass ich nach genau 64 Seiten dieses Werk zur Seite legen konnte. Und so endet meine Schiffbruchsepisode mit Blumenberg und Witzel enttäuschend. 1 Stern

Bewertung vom 17.08.2021
Schiffbruch mit Zuschauer
Blumenberg, Hans

Schiffbruch mit Zuschauer


weniger gut

Reichlich philosophisch

Vor dem Fliegen war das Wasser der Zwischenzustand, in dem sich der Mensch dank eines Schiffs auf Reisen aus dem sicheren Hafen begab. Doch bestand dort immer die Gefahr, Schiffbruch zu erleiden. Dies konnte sowohl zuviel Wind wie in einem Gewitter als auch die Flaute sein. Nicht nur die Odyssee lebt von diesen Metaphern, selbst Goethe benutze sie im übertragenen Sinn neben vielen anderen.

Der Zuschauer hingegen verlässt seinen Ort nicht, begibt sich also nicht in Gefahr. Die Neugierde der Aufklärung habe sich erst der Gefahr des Schiffbruches ausgesetzt. Sie sieht das Liegenbleiben im Hafen als Verfehlen der Lebenschance des Glücks. Der Hafen ist keine Alternative zum Schiffbruch. Die Distanz zum Geschehen lässt den Zuschauer sich sicher fühlen.

In seinem Überlebenswillen wird das ungerechte Wirkliche zum Vernünftigem. Goethe bescheinigt dem Geschehen auf dem Meer eine Spurlosigkeit. Fortschritte wie Untergängen hinterließen dieselbe unberührte Oberfläche. Letztlich braucht der Zuschauer keinen Schiffbruch mehr, weil er seine vergangene oder zukünftige Not projizieren kann. Wir möchten nur noch die Welt kennen, in deren Ozean wir treiben und leben schließlich mit dem Schiffbruch.

Das alles ist noch halbwegs plausibel. Von der Theorie der Unbegrifflichkeit habe dagegen nichts mehr verstanden. Ein dünnes Buch, das schnell vergessen ist. 2 Sterne

Bewertung vom 16.08.2021
Die Halbwertszeit der Liebe
Sievers, Corinna T.

Die Halbwertszeit der Liebe


sehr gut

heißes Thema für heiße Tage

Margarete Dorn mit klitzekleinen Brüsten (an wen erinnert sie mich bloß?) ist Fachärztin für Penisverlängerungen und beurteilt die Männer nach der Länge ihres Geschlechtsteils und dem Erektionswinkel (wie sieht sie das nur?).

Das alles spielt auf einem femiphoben Ärztekongress, bei dem sich die Ich-Erzählerin Margarete in ihren Kollegen Heinrich verliebt. Er beißt natürlich an und wird gerade bei der Eifersucht mit anderen Männern erregt. So verabredet er mit Margarete ein Spiel, dass sie beim Anmachen des Mitbewerbers Monte ein trockenes Höschen behalten muss.

Doch gerade mit diesem Monte basiert mir zu vieles auf Zufällen, die auch geschickt eingefädelt sein können. So wundert es wirklich nicht, dass nicht alle von der ominösen Bergtour bei St. Moritz nicht heil ins Tal zurückkommen. Zu allem Überfluss stirbt auch noch von Lotte und Werther, den beiden Hunden Margaretes, letzterer, der von Franz, ihrem Ex-Mann, zum Abschied als Leiche vorbei gebracht wird und auch das ist noch nicht alles.

Da lob ich mir das Schlusskapitel, wo die Ich-Erzählerin in ihrer Praxis einen Italiener seinen Penis aus dem Ehering befreien muss, weil das gute Teil schon blau angelaufen ist. Gut, dass wenigstens seine Frau dabei ist.

Die Handlung hätte etwas spannender sein können, sonst habe ich mich köstlich amüsiert. 4 Sterne

Bewertung vom 09.08.2021
Daheim
Hermann, Judith

Daheim


gut

Ich bin Denis Scheck Fan. Aber warum er die Handlung des Romans in der Sendung „lesenswert Quartett“ – wer mag, kann googeln - an die Ostsee verlegt, bleibt mir ein Rätsel. Seitenlang wird von Ebbe und Flut gesprochen, ja die Nachbarin Mimi kann nur bei Flut im Hafenbecken schwimmen, weil alles andere zu flach ist – ein klarer Indiz für die Nordsee. Auch das Hochwasser von 1967 (41) meint ziemlich sicher die Nordsee. Die in Bremerhaven geborene Insa Wilke sitzt daneben und schweigt.

Es ist nämlich gar nicht wichtig, wo dieser Roman spielt. Wichtiger sind Kisten die zu einer Falle werden. So hätte die Ich-Erzählerin mit einem Zauberer und seiner Frau in ihrer Jugend nach Singapur fahren können, wenn sie bereit gewesen wäre, sich beim Zaubertrick der zersägten Jungfrau von ihm in einer Kisten zerteilen zu lassen.

Im zweiten Teil befindet sich ein Marder in ihrem Dach, der dank der Falle des Schweinebauern Arild, der Bruder von Mimi, in einer Kiste gefangen werden soll, aber nur anderes fängt, als sie soll. Denis Scheck spricht von einer großartigen Liebesszene zwischen dem Schweinebauern und der Ich-Erzählerin, aber das ist nur ein Teil. Vor allem die Figur der Nike, der Freundin des Bruders der Ich-Erzählerin hat mich gelangweilt.

Nachdem das Setting aufgebaut ist fehlt es bis kurz vor Schluss auch an Handlung, so dass ich mich letztlich nur für 3 Sterne entschieden habe, auch wenn ich mir sicher bin, dass der ruhige Erzählstil der Autorin mehr leisten kann.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.08.2021
Monschau
Kopetzky, Steffen

Monschau


gut

Falsch abgebogen

Manchmal musst du als Autor den richtigen Riecher haben. Da hat Kopetzky gerade einen Roman mit dem Militärarzt Dr. Stüttgen 1944 im Hürtgenwald geschrieben und kurz darauf bricht die Corona-Epidemie aus. Sich an seinen Held erinnernd, fällt dem Autor ein, dass der Düsseldorfer 1962 in Monschau eine Pockenepidemie besiegte. Und so liegt es auf der Hand darüber den nächsten Roman zu schreiben.

Gespannt lesen wir zu Beginn, wie der Doktor Maßnahmen wie Quarantäne verhängt, Patienten impft und in den Ritter-Werken, dem größten Arbeitgeber vor Ort und den Ausgangsort der aus Indien eingeschleppten Pocken, seinen besten Mitarbeiter abstellt, um die Schließung der Firma zu verhindern.

Wir erleben die ersten Arbeitstage von Nikos und wie er mit Geheimzeichen viele Mitarbeiter isoliert. Doch dann lernt er in seiner Unterkunft die Firmen-Erbin Vera kennen, in die er sich verliebt. Der Kampf gegen das Virus wird zweitrangig, die Hindernisse der Liebe stehen im Vordergrund, weil - ziemlich unglaubwürdig - Vera als nichtgeimpfte frühere Poliopatientin die erkrankte Tochter des Indienmitarbeiters im Krankenhaus besuchen will. Sie verschafft sich Zugang mit einer Schwesternmütze aus dem Karneval und wird in Quarantäne festgehalten.
Viel zu lang wurde vorher auch die Karnevalsveranstaltung beschrieben und das Problem, das Teilnehmer aus Monschau ihre Quarantänebestimmungen nicht eingehalten haben, wird erwähnt, aber bestraft werden die zur Schlägerei neigenden Männer deswegen nicht. Dafür lesen wir mehrmals, dass am 30. Mai der Weltuntergang ist.

Kopetzky liebt offenbar Kriege. Nikos darf mehrfach vom Krieg auf Kreta erzählen. Wen das interessiert, dem würde ich aber eher „Der kretische Gast“ von Modick empfehlen.
Einzig interessant ist noch, dass Dr. Stüttgen vorgeworfen wird, dass er die Firmen-Erbin im Krankenhaus festhält, um sie mit Pocken zu infizieren, damit die Ritterwerke ans Aachener Klinikum fallen. Von Kriegsveteranen wird ihm nämlich auch vorgeworfen, dass er seine Einheit gegen Kriegsende kampflos den Amerikanern übergeben hat und deshalb in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Das hat er übrigens gemeinsam mit Helmut Schmidt, dessen Bekämpfung der Sturmflut in Hamburg in diesem Roman auch nicht fehlt. Ob das nötig war?

Weil der Romanschreiber aber die Pocken nahezu gänzlich aus den Augen verloren hat, vergisst er den Fakt, dass laut Wikipedia Stüttgen selbst an der von den Behörden anfangs nicht erkannten Pocken erkrankte, aber wieder gesund wurde.
Dafür hören wir von einem Quick-Reporter über die Nazi-Vergangenheit der Ritter-Werke und fragen uns, ob 1962 tatsächlich schon über Zwangsarbeiter gesprochen wurde. Zweifellos darf ein Autor fiktives erfinden, aber da dieser Roman einen historischen Kern hat, der nicht auserzählt wird, gefällt mir nur der Anfang. Insgesamt 3 Sterne

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.