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Aischa

Bewertungen

Insgesamt 575 Bewertungen
Bewertung vom 30.12.2019
Handeln statt hoffen
Rackete, Carola

Handeln statt hoffen


sehr gut

Carola Rackete lief im Juni 2019 als Kapitänin der Sea-Watch 3 in den Hafen von Lampedusa ein, mit 40 auf dem Mittelmeer in Seenot geratenen Geflüchteten an Bord. Sie setzte sich damit über das Verbot des italienischen Innenministeriums hinweg und erlangte dadurch internationale Bekanntheit.

Zusammen mit Co-Autorin Anne Weiss ist nun ein Buch entstanden, das Racketes Erlebnisse von damals Revue passieren lässt. Doch es ist wesentlich mehr, als ein Erfahrungsbericht der Seenotretterin. Denn Rackete mag es eigentlich gar nicht, so sehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Und schon gar nicht sieht sie sich als Heldin der Seenotrettung. Vielmehr sieht sie es als ihre Pflicht an, in einer derartigen Situation auf dem Meer durch zivilen Ungehorsam Menschenleben zu retten.

Das Buch beginnt mit einem Vorwort von Hindou Oumarou Ibrahim, einer Klimaaktivistin aus dem Tschad. Sie zeigt die Auswirkungen des Klimawandels - Rackete spricht lieber von Klimakatastrophe - auf ihr Heimatland auf und schafft so eindringlich Bewusstsein dafür, was wir mit unserem westlich geprägtem Konsumverhalten in Entwicklungsländern anrichten.

Rackete gibt zunächst einen unerwartet privaten Einblick in ihre Vita. Sie schildert ihr Elternhaus, ihren Werdegang als Kapitänin und ihr Studium der Naturschutzökologie. Dann nimmt sie den Leser mit auf die Sea-Watch 3. Sie lässt ihn an den miserablen Zuständen mit Dutzenden traumatisierten Menschen an Bord teilhaben, sie schildert ihre moralische Verpflichtung, das Leben dieser Menschen zu retten, auch wenn sie dafür den Weg der Legalität verlassen muss. Und schließlich benennt Rackete deutlich zwei Hauptursachen für aktuelle große Fluchtbewegungen: die Klimakatastrophe und globale Ungerechtigkeit. Sie sieht uns alle in der Verantwortung, hier schnellstmöglich zu handeln, und zwar durch zivilen Ungehorsam. Es ist keine Zeit mehr für blinden Optimismus, sondern es ist Zeit zu handeln. Der zivile Ungehorsam soll friedlich bleiben, dennoch schlägt sie radikale Maßnahmen vor.

Teils fand ich die Ansichten etwas zu pauschal formuliert, aber das mag auch dem relativ knappen Umfang mit 176 Seiten geschuldet sein.

Zahlreiche Literatur- und web-Tipps fordern zu weiterer, vertiefender Lektüre auf.

Fazit: Ein gelungener Appell, der wachrüttelt. Lesen, diskutieren, handeln!

3 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.12.2019
Menschen neben dem Leben
Boschwitz, Ulrich Alexander

Menschen neben dem Leben


ausgezeichnet

Herausgeber Peter Graf hat sich auf die Wiederentdeckung in Vergessenheit geratener Texte spezialisiert. So erschien nun der Debütroman von Ulrich Alexander Boschwitz erstmals auf Deutsch, 82 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in schwedischer Sprache.

Der Berliner Boschwitz emigrierte 1935 nach Skandinavien, später nach England. Er starb im zweiten Weltkrieg im Alter von nur 27 Jahren.

Sein Erstlingsroman spielt im Berlin der Zwanzigerjahre. Seine Protagonisten sind die "kleinen Leute", die Verlierer, die am Rande der Gesellschaft ums Überleben kämpfen und dabei doch auch ihren Spaß haben wollen.

Boschwitz schildert den harten Alltag von Bettlern, Hausierern, leichten Mädchen und Kriegsversehrten. Seine Figuren erschließen sich nicht sofort, aber der Romancier zeichnet - für seine 22 Jahre erstaunlich lebenserfahren - die Charaktere feinfühlig, nach und nach gewinnen sie Kontur und auch die ein oder andere Sympathie des Lesers. Etwa dann, wenn man erfährt, welches Trauma "Tönnchen" zu dem Menschen gemacht hat, der er nun ist: ein übergewichtiger, schwachsinniger Erwachsener, der nur noch an der Befriedigung seiner primären Bedürfnisse Essen, Trinken und Schlafen interessiert ist, und der entsetzliche Angst vor dem Alleinsein hat.

Mit ungeschöntem Blick auf den unfassbar schweren Überlebenskampf inmitten der Wirtschaftskrise ist Boschwitz ein beeindruckender Gesellschaftsroman gelungen. Seine Sprache ist beklemmend, eindringlich, unvergesslich.

Mein großer Dank gilt Herausgeber und Verlag für diese (Wieder-)Entdeckung!

Bewertung vom 10.12.2019
WW - Genial saisonal!
WW

WW - Genial saisonal!


gut

Dieses Weight Watchers Kochbuch stellt 60 saisonale Rezepte vor, die Sternekoch Andi Schweiger entwickelt hat.

Die Bandbreite ist groß, zu allen vier Jahreszeiten finden sich Salate, Suppen, Hauptgerichte und Süßspeisen. Ich habe drei Rezepte nachgekocht, die allesamt sehr lecker waren. Die benötigten Zutaten sind übersichtlich aufgelistet, die Zubereitung ist detailliert und verständlich beschrieben. Zusätzlich findet sich zu jedem Rezept ein QR-Code, über dessen Scan man den Link zu einem entsprechenden Kochvideo erhält.

Dennoch konnte mich dieses Kochbuch in mehrfacher Hinsicht nicht überzeugen: Ob es genial ist, wie der Titel so vollmundig verspricht, sei mal dahin gestellt. Aber saisonal - wie das zweite Adjektiv auf dem Cover ankündigt - sollten die Rezepte ja dann doch sein. Und dazu hätte ich doch mehr erwartet, als dass ein oder zwei Zutaten zur jeweiligen Jahreszeit passen. Gerade im Hinblick auf Nachhaltigkeit versuchen immer mehr Menschen in der Küche frische Zutaten zu verwenden, die gerade Saison haben, und zwar bei uns, also auch regional sind. Denn nur so kann man lange Transportwege und/oder energieintensive Lagerung vermeiden. Doch leider benötigt man für viel der Rezepte neben der saisonalen Zutat auch Obst oder Gemüse, das von weit her kommt, etwa für den winterlichen Feldsalat importierte Physalis.

Überhaupt sind viele Zutaten - wenn man nicht gerade wie der Sternekoch in einer Großstadt lebt - nur durch lange Einkaufswege oder online zu bekommen: Kerbelwurzel, Topinambur, Schwarzkohl, gelbe Beete oder Vadouvan Würzmischung bekomme ich jedenfalls weder im Supermarkt noch im örtlichen Bioladen. Auch einen Küchengasbrenner dürfte nicht jeder Haushalt sein eigen nennen.

Bei den Mengenangaben heißt es aufpassen: Mal sind die Rezepte für sechs, mal für vier oder auch nur für zwei Personen angegeben. Außerdem finde ich es schade, dass sich das Buch offenbar nur an Teilnehmer des Weight-Watcher-Programms richtet, die sich mit dem verwendeten Punktepgrogramm zur Gewichtsreduzierung bereits auskennen. Es wird zwar auf einer Doppelseite kurz vorgestellt, verstanden habe ich es dadurch aber leider nicht.

Optisch ist das Buch sehr gelungen, Fotos, die eine echte Augenweide sind und ein modernes Layout machen sofort Appetit. Ein Lesebändchen und das Register nach Zutaten sind praktische Details.

Inhaltlich kann das Werk leider nicht mithalten: Die "Kleine Frühlingskräuterkunde" ist zum einen wirklich sehr kurz geraten: Gerade mal drei Kräuter werden aufgeführt und in je drei Sätzen abgehandelt. Zum anderen wird erwähnt, dass Koch Andi Bärlauch am liebsten im Wald sammelt. Bärlauch wird jedoch leicht mit giftigen Maiglöckchen oder Herbstzeitlosen verwechselt, daher ist der Aufruf zum Sammeln ohne entsprechenden Warnhinweis in meinen Augen fahrlässig!

Desweiteren hat mich an vielen Stellen die "Lobhudelei" des Sternekochs genervt: "Und weil Andi eben ein echter Profi ist ..." "Wird die Natur im Sommer für einen Profi wie Andi Schweiger ..." usw. Alles in seiner Küche ist "cool" und "fresh" - ich kam mir bei der Lektüre vor als wäre ich in eine Kochvorführung eines TV-Shopping-Kanals geraten.

Was die reine Betrachtung der Rezepte angeht, hätte ich vier Sterne vergeben, so reicht es gerade eben für drei.

Bewertung vom 09.12.2019
Das Freulein backt! zur Weihnacht
Nauheimer, Sandra

Das Freulein backt! zur Weihnacht


ausgezeichnet

Im Advent 2018 riefen im Rahmen einer Kampagne hessische Tageszeitungen und soziale Medien ihre Leser dazu auf, ihre weihnachtlichen Lieblingsbackrezepte einzusenden. Bloggerin Sandra Nauheimer hat für den vorliegenden Band eine Auswahl der Einsendungen nachgebacken.

Unterteilt in Keksiges, Fruchtiges, Cremiges, Kuchiges, Nussiges, Salziges und Schokoladiges werden knapp 60 Lieblingsrezepte der Hessen vorgestellt. Die Auswahl zeigt eine große Bandbreite. Klassiker wie Vanillekipferl oder Bratäpfel sind ebenso vertreten wie (zumindest für mich) für die Weihnachtszeit Unterwartetes: Vollkornbrot oder Rote-Beete-Chips.

Jedes der Rezepte ist mit einem großen Foto bebildert, die Zutaten sind übersichtlich aufgelistet und die Zubereitung ist verständlich Schritt für Schritt beschrieben. Jedes Rezept führt Namen und Herkunft des Einsenders auf.

Ich habe bislang drei Rezepte nachgebacken, das Schoko-Mandel-Gebäck, die Zimttaler und die Zitronensterne, alles war einfach, ist gut gelungen und überzeugt geschmacklich. Einzig ein alphabetisches Register zum schnelleren Auffinden einzelner Rezepte fehlt mir. Davon abgesehen ist das Backbuch sehr gelungen und es gibt von mir eine klare Empfehlung - nicht nur für Hessen!

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.11.2019
Poppy
Korten, Astrid

Poppy


ausgezeichnet

Um es gleich vorneweg zu sagen: Poppy ist kein typischer Psychothriller. Es gibt kein Team von Ermittlern, das nach einer Mordserie im Dunkeln tappt, keinen Profiler, der dem Täter schließlich das Handwerk legt.

Aber was Autorin Astrid Korten hier auf gut 200 Seiten zu Papier gebracht hat, kann es an Spannung und kalten Schauern, die einem über den Rücken jagen, mit jedem Werk von Stephen King oder Sebastian Fitzek aufnehmen.

Zumal sie sich den Plot nicht ausgedacht hat: Der Roman basiert auf der wahren Geschichte eines missbrauchten Mädchens; die inzwischen erwachsene Frau hat Korten ihre Vergangenheit erzählt, es ist brutale Realität.

Die sechsjährige Poppy wird von ihrem Stiefvater jahrelang sexuell missbraucht. Die Erwachsenen im näheren Umfeld schauen weg, sie verhalten sich wie die berühmten drei Affen: "nichts sehen, nichts hören, nichts sagen ...".

Die Autorin setzt das Thema mit bewundernswertem Fingerspitzengefühl um. Sie verzichtet weitestgehend auf explizite Darstellung sexueller Handlung, und doch weiß man als Leser jederzeit, was dem armen Mädchen angetan wird. Besonders gelungen ist die Erzählperspektive aus der Sicht Poppys. Mit dem Heranwachsen der Protagonistin reift auch die Sprache, in der erzählt wird.

Gestört haben mich ein vorgreifender Anachronismus sowie einige Rechtschreib- und Grammatikfehler. Diese sind aber laut Auskunft der Autorin in aktuellen Auflagen behoben.

Ich habe den Roman vor allem als Appell verstanden: Als Appell an alle, denen Unrecht widerfährt, sich anderen anzuvertrauen und Hilfe zu suchen. Und als Appell an uns alle, als Gesellschaft, als jeder einzelne, nicht wegzusehen, wenn auch nur der leiseste Verdacht besteht, dass einem Kind etwas angetan werden könnte. Sondern im Gegenteil, wir müssen genau hinsehen, nachfragen, uns nicht mit billigen Ausreden abspeisen lassen. Und ist der Verdacht begründet, dann müssen wir handeln. Anzeige erstatten, Beratungsstellen aufsuchen.

Sexueller Missbrauch von Kindern passiert täglich, die Täter sind mehrheitlich aus dem engen sozialen Umfeld. Wir müssen das Tabu brechen und darüber reden, nur so kann dieses unsägliche Leid beendet werden. Daher: meine unbedingte Lese- und Diskussionsempfehlung!

Bewertung vom 27.11.2019
We are Feminists!
Stokowski, Margarete;Strickson, Rebecca

We are Feminists!


sehr gut

Die "kurze Geschichte der Frauenrechte" kommt sehr auffällig daher, bunt, schrill, wie dem Beatles-Film Yellow Submarine entsprungen. Der deutsche Untertitel hat gegenüber dem englischen Original etwas verloren: "An Infographic History of the Women´s Rights". Aber wenn man das schmale Bändchen durchblättert, wird die große Besonderheit der Darstellung ohnehin sofort klar: Hier wird der grafischen Darstellung ebenso viel Gewicht eingeräumt, wie dem Inhalt der Texte.

Und dies ist definitiv die Stärke des Buches. Die Geschichte des Feminismus wird kurz und prägnant dargestellt. Die drei Wellen - meines Erachtens nicht der passendste Begriff, ich hätte Phasen bevorzugt - des Feminismus werden auf je einer Doppelseite in den historischen Kontext gesetzt. Wichtige Wegbereiterinnen, Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen werden angeführt, oft mit plakativen Zitaten. Zahlreiche Infografiken veranschaulichen politische Errungenschaften der Frauenbewegung, etwa die Einführung des Frauenwahlrechts, der Elternzeit oder das Recht auf Scheidung.

Das alles ist optisch sehr ansprechend und kurzweilig präsentiert. Schade finde ich jedoch, dass sowohl Titel aus auch die Statements zu Beginn der Kapitel im englischen Original belassen wurden. Nicht jeder wird dies richtig verstehen oder korrekt übersetzen. Auch hätte ich Quellenangaben und Literaturhinweise schön gefunden, für alle, die sich weiter in ein Thema vertiefen wollen. Hierzu findet sich im Anhang lediglich eine Auflistung von Einrichtungen, die sich mit Feminismus beschäftigen (v.a. Archive und Bibliotheken). Mein letzter Kritikpunkt betrifft die jüngsten Strömungen des Feminismus. Diese sind leider sehr kurz, auf nur einer Seite abgehandelt. Hier fehlt mir die Erwähnung von Slut Walks, Pussy Riot und #metoo-Bewegung.

Dennoch: Eine Leseempfehlung für alle, die sich dafür interessieren, wie (wir) Frauen dahin gekommen sind, wo wir heute stehen.

Bewertung vom 12.11.2019
Juli verteilt das Glück und findet die Liebe
Kokoska, Tanja

Juli verteilt das Glück und findet die Liebe


sehr gut

Protagonistin Juli ist echt schräg: Sie sammelt Staubflusen und Ängste (ihre eigenen wie die von anderen), kein Wunder, dass sie kaum Bekannte und keine Freunde hat. Nach dem Tod der Mutter springt sie über ihren schüchternen Schatten und mischt sich als Blumenbotin ungefragt ins Leben anderer ein.

Dies ist überraschend gelungen, auch wenn sich mir anfangs beim Lesen ob des seltsamen Plots oft die Haare gesträubt haben, so schafft es Tanja Kokoska mit der Zeit, dass ich den Figuren ihre Handlungen und Reaktionen abnehme. Bis auf den Schluss - aber ich möchte nicht spoilern.

Sehr gefallen haben mir die großen Themen, die behandelt werden: Trauer, verpasste Chancen, Vergebung. Und dies meist in ganz leisen Tönen, ohne riesige Orchestrierung.

Sprachlich ist der Roman dennoch nicht ganz mein Fall, da kommt er manchmal etwas zu gewollt naiv bzw. süßlich daher, aber das ist sicher Geschmackssache.

Insgesamt (gerade noch) vier Sterne, wer sich vor etwas Kitsch in Handlung und Sprache nicht scheut, dem wird der Roman gut gefallen.

Bewertung vom 12.11.2019
Das weiße Gold der Hanse
Laurin, Ruben

Das weiße Gold der Hanse


ausgezeichnet

Ja, das war ein Historienroman ganz nach meinem Geschmack: Ruben Laurin hat die Lebensgeschichte des historisch verbrieften Bertram Morneweg, eines Lübecker Kaufmanns Mitte bis Ende des 13. Jahrhunderts, geschickt mit fiktiven Elementen ausgeschmückt. Die Geschichte ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend, ich konnte das Buch kaum zur Seite legen.

Besonders schätze ich die - zumal für ein Paperback - hervorragende Ausstattung: Liste der handelnden Personen sowie eine historische Karte erleichtern den Überblick, ein Glossar mit Fachbegriffen erspart dem Leser aufwändige Eigenrecherche.

Der Autor zeichnet seine Protatgonisten vielschichtig, es gibt wenig Schwarz-Weiß-Malerei, sondern vielmehr gute Charakterstudien. Auch sprachlich kann sich der Roman durchaus mit den großen dieses Genres messen, ja, ich habe z.B. von Ken Follet schon schlechtere Werke gelesen. Beim Plot mache ich kleinere Abstriche, hier war es mir gegen Ende teils doch etwas sehr konstruiert.

Was den Titel angeht, ist er in meinen Augen ein wenig irreführend. Ja, es geht um die Hanse, jedoch kommt das "weiße Gold", das Salz nur als Randnotiz vor.

Dennoch reicht es für aufgerundetet 4,5 Sterne und eine klare Leseempfehlung für alle, die gute Historienromane schätzen.

Bewertung vom 12.11.2019
Ein Jahr voller Wunder
Burton-Hill, Clemency

Ein Jahr voller Wunder


ausgezeichnet

Zugegeben - einen Ratgeber für klassische Musik zu schreiben ist nicht gerade die Neuerfindung des Rades. Aber was Clemency Burton-Hill hier zwischen zwei Buchdeckel gebracht hat, zeigt erfrischend neue Ansätze.

Die preisgekrönte Cellistin, Redakteurin und Moderatorin zahlreicher Klassikformate hat einen immerwährenden Kalender mit klassischer Musik verfasst. Die 366 ausgewählten Stücke (nicht 365 wie der Klappentext fälschlich anführt, es ist nämlich auch der 29. Februar berücksichtigt!) zeigen eine große Bandbreite: von der mittelalterlichen Nonne Hildegard von Bingen bis zum zeitgenössischen You-tube-Star Eric Whitacre erstreckt sich die zeitliche Spanne. Überhaupt ist viel Abwechslung geboten: Unter den Komponisten finden sich viele Frauen, es sind alle Hautfarben vertreten, viele Kulturen, schwule und transgender Tonschöpfer.

Auf je einer Seite erklärt Burton-Hill, wieso sie gerade dieses Werk für den jeweiligen Tag ausgewählt hat. Mal ist es der Geburts- oder Todestag des Komponisten, mal die passende Jahreszeit oder die Uraufführung des Stückes. Die Texte sind kurz und prägnant und doch voller Überraschungen. So erfährt man etwa, dass Pianisten vor Francois Coupertin nur mit acht Fingern - ohne Daumen - spielten. Oder dass Philip Glas auch als Taxifahrer und Klemptner arbeitete. Die Autorin hat Klassiker wie Bach ausgewählt, aber auch relativ Unbekanntes. Oder wussten Sie, dass Rockmusiker Frank Zappa auch Klassik komponierte?

Das Büchlein ist handlich und hochwertig gestaltet. Das Cover wirkt mit der Goldprägung sehr edel, das blaue Lesebändchen ist eine praktische Ergänzung. Lediglich das Papier hätte ich mir etwas stärker gewünscht.

Die Autorin verfolgt mit ihrem Kalender ein Ziel: Sie möchte klassische Musik aus dem Elfenbeinturm holen, in dem sie teils ihr Dasein fristet, sie will, dass jeder diese Musik für sich entdeckt, unabhängig von sozialem Status, Bildung oder Kulturkreis. Burton-Hills Plädoyer lautet: Klassik ist für jeden da, nicht nur für eine elitäre Minderheit.

Ich kann nur sagen, in meinem Fall hat ihr Aufruf Gehör gefunden: In einem Elternhaus aufgewachsen, das von Rock- und Popmusik geprägt war, tat ich Klassik bislang meist als "nerviges Gedudel" ab. Burton-Hill hat mir gezeigt, wie vielfältig die Welt der Klassik ist, meine Entdeckungsreise hat begonnen, herzlichen Dank!

Bewertung vom 07.11.2019
Die Altruisten
Ridker, Andrew

Die Altruisten


gut

Der vorliegende Roman wurde vom Feuilleton förmlich mit Lorbeeren überhäuft, in der von mir sonst so geschätzten Wochenzeitung "Die Zeit" heißt es gar, es sei "der klügste und humorvollste Debütroman des Herbstes". Entsprechend groß waren meine Erwartungen.

Diese wurden leider nur zum Teil erfüllt. Bis auf die Mutter (die gleich zu Beginn verstirbt) waren mir die Protagonisten recht unsympathisch. Vater Arthur und die erwachsenen Kinder Maggie und Ethan sind sehr eigen, besser gesagt: Jeder ist auf seine eigene Art extrem gestört. Nun muss ich nicht alle Romanfiguren mögen, aber der Autor sollte mir erklären können, wieso sich die Personen so verhalten wie beschrieben. Dies ist erst in den letzten Seiten und auch da nur ansatzweise gelungen.

Überhaupt bleiben viele Fragen offen, zuoberst: Was will mir diese Geschichte sagen? Es geht um das gehobene amerikanische Bildungsbürgertum, um einige wirkliche und viele eingebildete Probleme, und oft habe ich mir gedacht: "Habt ihr sonst keine Sorgen?" Das Ende ist allerdings gelungen, ich will nicht zu viel verraten, aber es geht um die Frage, was man verzeihen soll und kann.

Sprachlich ist der Roman durchaus interessant, und es finden sich einige nachdenkenswerte Stellen. ("Er wusste, dass er in einer Beziehung war, weil er begonnen hatte, sie über seinen Verbleib zu belügen.") Allerdings haben mich einige U.S.amerikanische Spezifika gestört, die man als deutscher Leser ohne Anmerkung nicht ohne weiteres versteht, wie etwa den hierzulande kaum gebräuchlichen Solo-Becher. Hier hätte Übersetzer Thomas Gunkel gerne die ein oder andere erläuternde Fußnote einfügen können.

Insgesamt reicht es für mich leider nur für eine mittlere Bewertung, man versäumt nicht viel, wenn man den Roman nicht liest.