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Readaholic

Bewertungen

Insgesamt 413 Bewertungen
Bewertung vom 20.12.2017
Die Rückkehr der Wale / Hebriden Roman Bd.1
Morland, Isabel

Die Rückkehr der Wale / Hebriden Roman Bd.1


weniger gut

So seicht wie ein schottischer Gezeitentümpel
„Die Rückkehr der Wale“ ist ein klassisches Beispiel dafür, dass ich ein Buch aufgrund des schönen Covers gekauft habe, doch, um es vorweg zu nehmen, das Cover ist auch das Beste am ganzen Buch. Auch der Titel klang verheißungsvoll, allerdings ist mir nicht klar, warum die Autorin gerade diesen Titel gewählt hat, geht es doch nur ganz am Rande um Wale.
Die Protagonistin, Kayla, lebt mit ihrem Mann Dalziel auf einer Hebrideninsel im äußersten Norden Schottlands. Sie bewirtschaften eine Croft, ein Inselgehöft. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass Kayla eine Croftersfrau ist, doch scheint sich die Arbeit von selbst zu erledigen, denn nie verrichtet Kayla irgendwelche körperlichen Arbeiten, und wenn von Dalziel die Rede ist, wird meistens auf seinen exzessiven Alkoholkonsum hingewiesen, auch er scheint nicht viel zu arbeiten.
Das Hauptthema des Buchs ist Kaylas unglückliche Ehe. Dalziel ist ein durch und durch unsympathischer Mann, der seine Frau ständig kritisiert und vor anderen lächerlich macht, doch Kayla fühlt sich durch ihr Ehegelübde verpflichtet, bei ihm zu bleiben.
Als Brannan, ein gutaussehender und sympathischer junger Mann, auf die Insel kommt, ist es sofort um Kayla geschehen. Langsam entspinnt sich zwischen den beiden eine Liebesgeschichte. Sie schwören sich gegenseitig ewige Liebe, doch gibt Brannan ihr von Anfang an zu verstehen, dass er nicht bleiben kann. Der Grund, den er dafür angibt, ist nicht sehr glaubhaft. Überhaupt konnte mich die Liebesgeschichte absolut nicht fesseln.
Die erste Hälfte des Buchs ist unglaublich langweilig und ich war mehr als einmal versucht, es einfach wegzulegen.
Was mich unglaublich genervt hat, waren die vielen gaelischen Sätze, die grundsätzlich in einer Unterhaltung dem deutschen Satz vorangestellt waren. Was soll das? Wie viele Leserinnen sind der gaelischen Sprache mächtig? Wahrscheinlich nicht eine. Es ist ja vollkommen in Ordnung, den einen oder anderen gaelischen Begriff einzuflechten, um ein wenig Lokalkolorit in die Beschreibungen zu bringen, aber einen gaelischen Sprachkurs hätte ich nicht gebraucht.
Die Schilderungen der kargen Insellandschaft und die Hoffnung, dass gegen Schluss noch etwas passiert, was mich für die enervierende Lektüre entschädigt, waren der Grund, weshalb ich es zu Ende gelesen habe. Aber das offene Ende ist genauso frustrierend wie der Rest des Buchs. Alles in allem ist es eine Lektüre, die man wahrhaftig nicht gelesen haben muss.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.12.2017
Über den wilden Fluss / His dark materials Bd.0
Pullman, Philip

Über den wilden Fluss / His dark materials Bd.0


sehr gut

Elfjähriges Wunderkind
Der elfjährige Malcolm lebt mit seinen Eltern in einem kleinen Ort in der Nähe von Oxford. Die Eltern besitzen ein Gasthaus und Malcolm hilft ihnen beim Bedienen. Dort schnappt der wissbegierige Junge allerlei interessante Informationen auf. Fast täglich besucht er außerdem die Nonnen in einem nahegelegenen Kloster und hilft auch dort in der Küche und bei handwerklichen Tätigkeiten.
Eines Tages findet er eine kleine hölzerne Eichel, die eine Geheimbotschaft enthält. Eine Wissenschaftlerin nimmt Kontakt zu ihm auf, zwischen den beiden entwickelt sich eine Freundschaft.
Dieser erste Teil des Buchs ist sehr spannend und schön geschrieben. Es macht Spaß, über Malcolm und seinen treuen Dämon, der ihm ständig zur Seite steht und je nach Situation die Gestalt wechselt, zu lesen.
Im Land hat sich eine Geheimorganisation gebildet, die alle bespitzelt. Es geht soweit, dass sogar an der Schule kleine Spitzel angeworben werden. Aus irgendeinem Grund will diese Geheimorganisation ein kleines Mädchen in seine Gewalt bringen, das die Nonnen bei sich aufgenommen haben. Malcolm liebt die kleine Lyra und besucht sie so oft es nur geht. Als eine Jahrhundertflut Teile des Klosters zum Einstürzen bringt, beschließt Malcolm, zusammen mit dem Küchenmädchen Alice die kleine Lyra zu ihrem Vater nach London zu bringen. Einzige Transportmöglichkeit ist Malcolms Kanu.
Hier beginnt die Geschichte nun sehr unglaubwürdig zu werden. Der kleine Malcolm ist mit seinen elf Jahren das reinste Wunderkind. In reißenden Fluten schafft er es, das Kanu sicher zu steuern und seine Verfolger abzuschütteln. Als Lyra entführt wird, ist es ihm möglich, sie wieder zu befreien und trotz widrigster Umstände gelingt ihm die gefährliche Reise nach London. Lyra wiederum ist das zufriedenste und bravste Baby, das je zur Welt kam. Obwohl sie kaum zu essen bekommt, stundenlang in vollen Windeln liegt und es kalt und nass ist, gluckst sie die meiste Zeit zufrieden vor sich hin oder schläft.
Leider ist der zweite Teil des Buchs längst nicht mehr so spannend wie der Anfang. Teile der Geschichte waren für meine Begriffe ziemlich überflüssig.
Am Anfang war ich von dem Buch begeistert, am Schluss war ich froh, als die Gruppe ihr Ziel endlich erreicht hat.

Bewertung vom 23.11.2017
Drei Tage und ein Leben
Lemaître, Pierre

Drei Tage und ein Leben


ausgezeichnet

Schmetterlingseffekt
Nicht der Flügelschlag eines Schmetterlings löst hier eine Katastrophe aus, sondern ein Hund, der angefahren und anschließend anstatt von seinem Besitzer zum Tierarzt gebracht von diesem erschossen wird. Den 12jährigen Antoine stürzt dies in ein schreckliches Gefühlschaos, war der Hund doch sein treuer Begleiter und bester Freund. Außer sich vor Trauer schlägt Antoine um sich und erschlägt dabei den 4jährigen Nachbarsjungen Rémy mit einem Ast. Um seine Tat zu vertuschen, versteckt er die Leiche des Jungen. Eine großangelegte Suchaktion beginnt. Antoine ist sich sicher, dass er bald als Täter entlarvt wird und erleidet Höllenqualen. Er erwägt zu fliehen oder sich umzubringen.
Sturm Lothar, der im Dezember des Jahres 1999 über Westeuropa fegt, kommt ihm zu Hilfe, denn er verwüstet Antoine und Rémys Heimatort und verwischt Spuren. Der Mord ist auch Jahre später noch unaufgeklärt, doch die Angst vor der Entdeckung hängt wie ein Damoklesschwert über Antoines Leben.
Antoine hat mittlerweile Medizin studiert und eine Frau getroffen, die er heiraten möchte, da führt ihn das Schicksal zurück in seinen Heimatort und er erkennt, dass die Tat von damals sein Leben immer noch grundlegend beeinflusst...
Drei Tage und ein Leben ist ein außergewöhnliches Buch, wortgewaltig und intensiv. Von mir eine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 22.11.2017
Leere Herzen
Zeh, Juli

Leere Herzen


gut

Dystopisches Deutschland
Britta Söldner (nomen est omen) betreibt mit ihrem Geschäftspartner Babak eine psychologische Beratungspraxis, „die Brücke“, zumindest soll es nach außen diesen Anschein haben. Lange weiß der Leser nicht, womit die beiden eigentlich ihr Geld verdienen, selbst Brittas Ehemann weiß nicht Bescheid und er scheint sich auch nicht sonderlich für Brittas Geschäfte zu interessieren, solange die Finanzen stimmen.

Im ersten Kapitel wird im Leipziger Hauptbahnhof ein Anschlag verübt, was Britta und Babak extrem beunruhigt. Was haben die beiden damit zu tun? Sie wüssten gerne Details zu dem Anschlag, warum recherchieren sie die Hintergründe nicht im Internet?

Es wird klar, dass im Deutschland des Jahres 2025 jede digitale Bewegung aufgezeichnet wird, der gläserne Mensch ist längst Realität. An der Regierung ist die politisch rechte BBB, die Besorgte Bürger Bewegung. Grundrechte wurden beschnitten, der Import von ausländischem Bier soll verboten werden (Germany first?), doch, man höre und staune, in Deutschland gibt es das bedingungslose Grundeinkommen.
Die Menschen sind politikverdrossen und mit ihrem Leben unzufrieden, die Selbstmordrate ist extrem hoch. Und genau hier kommt die Brücke ins Spiel. Wenn sich Leute umbringen wollen, warum nicht Profit daraus schlagen?
Das Geschäftsmodell ist erfolgreich und andere wollen auch ihren Teil des Kuchens abbekommen. Britta und Babak geraten in Gefahr und müssen fliehen...

Ich hatte mich sehr auf das neue Buch von Juli Zeh gefreut. „Unterleuten“ war für mich eines der Buch-Highlights des vergangenen Jahres gewesen. So hatte ich gehofft, dass mich das neue Buch ähnlich begeistert, aber dies ist leider nicht der Fall.
Ich nehme an, Juli Zeh will mit diesem Buch aufrütteln, „Seht her, was geschieht, wenn ihr nicht wählen geht!“ Da das Buch gerade einmal 8 Jahre in der Zukunft spielt, ist die nächste Botschaft „Und macht euch bewusst, wie schnell das alles passieren kann“. Mir war das alles ein bisschen zu viel Moral und erhobener Zeigefinger. Vor die Wahl gestellt, ob die Leute lieber das Wahlrecht oder eine Waschmaschine möchten, entscheidet sich laut Buch die große Mehrheit für die Waschmaschine. Was ist das überhaupt für eine lächerliche Alternative? Genauso gut könnte man fragen „wollt ihr lieber essen oder wählen gehen?“, da wäre die Antwort doch auch von vornherein klar.

Der Anfang des Buchs hat mir gut gefallen. Die beiden Familien, die zusammen essen, zunächst wirkt alles sehr idyllisch, wenn da nicht die beiden kleinen Mädchen wären, die ein Computerspiel spielen und hin und wieder „Kollateralschaden“ juchzen. Brittas Reinlichkeitswahn ist auch befremdlich. Unterschwellig merkt man schon, dass die Idylle trügt. Britta wirkt kühl, arrogant und berechnend. Sie schaut auf ihre angeblich beste Freundin Janina herab, deren großer Traum es ist, mit ihrer Familie in einem Häuschen auf dem Land zu leben. Dabei ist Janina noch die sympathischste Person im ganzen Buch, während mir Britta immer unsympathischer wurde.

Das Ende ist unerwartet, lässt aber viele Fragen offen. Ich habe dieses als „Politthriller“ beworbene Buch trotz mancher Längen zu Ende gelesen, fand es aber nicht sonderlich spannend. Sprachlich gut, von der Idee her auch, aber es konnte mich nicht fesseln.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.11.2017
Nachtlichter
Liptrot, Amy

Nachtlichter


sehr gut

Selbstfindung auf den Orkneyinseln
In ihrem autobiographischen Roman schildert Amy Liptrot ihren Weg von einem alkoholabhängigen Leben in London zum Entzug und zurück zu ihren Wurzeln auf den kargen Orkney-Inseln im Norden Großbritanniens.
Zunächst fiel es mir schwer, mich auf dieses Buch einzulassen. Amy Liptrot beschreibt ihre Alkoholexzesse so distanziert, als ob sie jemand anderem passiert wären. Der Leser erhält die nackten Fakten, Gefühle kommen nicht ins Spiel. Dies hat es mir sehr schwer gemacht, Empathie mit der Autorin zu empfinden. Trotzdem hat es mich schockiert zu lesen, wie sehr ein alkoholabhängiger Mensch seiner Sucht ausgeliefert ist. Als Amy Liptrot betrunken um Haaresbreite einer Vergewaltigung entgeht, ist ihr erster Gedanke danach, die glückliche Wendung in einer Bar zu feiern.
Nachdem sie alkoholbedingt ihren Job verliert und die Beziehung zu ihrem Freund in die Brüche geht, schafft sie den Entzug und beschließt, dorthin zurückzukehren, von wo sie als Jugendliche gar nicht schnell genug wegkommen konnte: in ihre Heimat, den Orkney-Inseln. Dort gibt es zwar keine Versuchung in Form von Nachtclubs oder Bars, trotzdem ist das Verlangen nach Alkohol ständig präsent und natürlich wäre es ihr ein Leichtes, sich auch auf Orkney mit Alkohol einzudecken. Doch Amy Liptrot schafft es stark zu bleiben. Die Lücke, die der Alkohol und all die damit verbundenen Highs in ihrem Leben hinterlassen hat, versucht sie nun mit Anderem zu füllen: stundenlangen Wanderungen durch die karge Landschaft, die Beobachtung seltener Vogelarten und der Gestirne, Schwimmen und Schnorcheln im eiskalten Meer.
Diesen Aspekt des Buchs habe ich sehr genossen. Die detaillierten Schilderungen der einzelnen Inseln und ihrer Geschichte und Tierwelt sind wirklich sehr interessant. Auch die Tatsache, dass die Autorin über ihr Smartphone ständig den Kontakt zur Außenwelt hält und sie mit Hilfe bestimmter Apps zum Beispiel die Sternenkonstellationen bestimmen kann, fand ich faszinierend. Anscheinend ist es einfacher, auf der allerkleinsten Orkneyinsel eine verlässliche Internetverbindung zu haben als hier auf dem Land mitten in Deutschland!
„Nachtlichter“ ist ein durchaus interessanter und lesenswerter Roman. Dass das Buch, wie vom New Statesman angekündigt, „ein zukünftiger Klassiker“ wird, glaube ich allerdings nicht.

Bewertung vom 31.10.2017
Crimson Lake
Fox, Candice

Crimson Lake


sehr gut

Skurriles Ermittlerduo
Nach unzähligen depressiven, versoffenen und geschiedenen oder verwitweten Ermittlern im kalten Skandinavien begegnet dem Leser hier ein vollkommen neues und anderes Ermittlerduo: die Australier Amanda und Ted. Amanda saß jahrelang wegen Mordes im Gefängnis, während Ted vorgeworfen wird, ein junges Mädchen entführt und brutal missbraucht zu haben. Beide lernen sich in der Kleinstadt Crimson Lake im heißen Norden Australiens kennen. Amanda arbeitet als Privatdetektivin, der frühere Polizist Ted steigt bei ihr ein.
Von Ted wissen wir von Anfang an, dass er es nicht gewesen ist und unschuldig in Untersuchungshaft saß. Seine Frau hat sich von ihm getrennt, die früheren Kollegen, die ihm die Tat durchaus zutrauen, aber nicht beweisen können, haben sich von ihm abgewendet. Sein Leben liegt in Scherben, als er sich eine Bruchbude am Rande eines von Krokodilen bevölkerten Mangrovenwaldes in Crimson Lake kauft.
Bei der vollkommen durchgeknallten Amanda weiß man als Leser nicht so recht, woran man ist, denn sie bezeichnet sich selbst als Mörderin. Hat sie tatsächlich als Teenager eine Schulkameradin brutal erstochen?
Als Ted Amanda kennenlernt, ermittelt sie gerade im Fall eines verschwundenen Bestsellerautors. Ted ist froh, von seinem wenig erfreulichen Privatleben abgelenkt zu werden und befasst sich ebenfalls mit dem seltsamen Fall. Gleichzeitig versucht er mehr über Amandas Vergangenheit herauszufinden und auch Amanda will mehr über Ted und das ihm vorgeworfene Verbrechen erfahren...
Vor dem Hintergrund der schwülen Hitze Queenslands, der nachts in den Mangrovenwäldern bellenden Krokodile und der mannshohen Riesenvögel Kasuare, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, entwickelt sich ein spannender Kriminalroman, dessen einziges Manko meiner Meinung nach die Auflösung eines lange zurückliegenden Mordfalls ist. Es erscheint mir äußerst unwahrscheinlich, dass die damals Beteiligten so lange geschwiegen haben sollen, zumal sie selbst ein Interesse daran gehabt haben müssen, die Schuldigen hinter Gittern zu sehen. Aber abgesehen davon hat mir die Lektüre dieses Buchs, das in einem mir unbekannten Teil der Welt spielt und das ich schon deshalb sehr interessant fand, gut gefallen.

Bewertung vom 27.10.2017
Der Fall Kallmann
Nesser, Hakan

Der Fall Kallmann


ausgezeichnet

Hakan Nesser in Bestform

Nachdem seine Frau und seine Tochter bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen bzw. vermisst sind, hält Leon Berger nichts mehr in Stockholm. Eine ehemalige Kommilitonin, Ludmilla, die er zufällig wiedertrifft, erzählt ihm von einer freien Lehrerstelle an ihrer Schule in der Kleinstadt K. und Berger nutzt die Chance, bewirbt sich darauf und wird genommen.
Bald erfährt er, dass sein bei den Schülern äußerst beliebter Vorgänger an der Schule, Eugen Kallmann, unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen ist. Als Berger beim Ausräumen von Kallmanns Schreibtisch auf dessen Tagebücher stößt, ist sein Interesse geweckt und er beginnt, gemeinsam mit Ludmilla und einem weiteren Kollegen Kallmanns Leben und Tod unter die Lupe zu nehmen.
Vieles in den Tagebüchern erscheint ihnen wie Fiktion. Beispielsweise behauptet Kallmann, er könne erkennen, wenn ein Mensch ein Mörder ist, indem er ihm in die Augen blickt. Wo endet die Realität, wo beginnt die Fiktion? Sie stellen fest, dass keiner den Kollegen Kallmann wirklich gut gekannt hat, obwohl er mehr als 25 Jahre an der Schule tätig war.
Der Kriminalfall Kallmann, sofern es sich wirklich um einen solchen handelt, sowie weitere ungeklärte Verbrechen bilden das Gerüst dieses Romans, stehen jedoch nicht im Vordergrund. Liebhaber von möglichst grusligen und spektakulären Thrillern, in denen viel Blut fließt, werden an diesem Buch keine Freude haben. Die Personen und ihre Lebensumstände werden genau und äußerst humorvoll beschrieben.
Obwohl das Buch fast 600 Seiten umfasst und manchmal nicht sonderlich viel passiert, sondern vielmehr die Gedanken und das Seelenleben der einzelnen Personen beleuchtet werden, hat mir das Lesen jeder einzelnen Seite Spaß gemacht. Nesser ist ein Schriftsteller, dessen Bücher von gleichbleibend hoher Qualität sind. Ich habe jedes seiner Bücher gelesen, dieses hat mir sprachlich besonders gut gefallen, was nicht zuletzt der hervorragenden Übersetzung von Paul Berf geschuldet ist. Ein großer Lesegenuss für alle Nesser-Fans!

Bewertung vom 19.10.2017
Swing Time
Smith, Zadie

Swing Time


gut

Zwischen den Welten
Die Ich-Erzählerin, deren Namen nicht genannt wird, wächst im Norden Londons auf, als Tochter einer schwarzen Mutter aus Jamaika und eines weißen Vaters. Die Mutter ist sehr ehrgeizig. Sie will studieren und Karriere machen, Mann und Kind sind dabei eher hinderlich. So wird die Tochter auch hauptsächlich vom Vater betreut, bekocht und erzogen.
Als kleines Mädchen lernt sie beim Ballettunterricht Tracey kennen, deren Vater schwarz und die Mutter weiß ist („richtig herum“, wie Tracey es nennt). Die beiden werden beste Freundinnen, wenngleich von Anfang an viel Konkurrenzdenken vorhanden ist. Bald stellt sich heraus, dass Tracey die begabtere Tänzerin von beiden ist, die sogar später an einer Tanzschule angenommen wird.
Die Beschreibung der Schulzeit ist ziemlich langatmig und enthält einige für meine Begriffe ziemlich abstoßende Szenen, so dass ich drauf und dran war, das Buch wegzulegen. (Stichwort „Scheidengrapschen“, meiner Meinung nach etwas unglücklich übersetzt, denn welches 9jährige Mädchen spricht denn von seiner „Scheide“?)
Mit Anfang 20 lernt die Protagonistin die Sängerin Aimée kennen, für die sie fortan für viele Jahre als persönliche Assistentin arbeitet. Ihr eigenes Leben gibt sie völlig auf, es sind nur noch Aimée und deren Bedürfnisse, die zählen. Tracey, die mittlerweile als Tänzerin in Nebenrollen auf der Bühne steht, sieht sie auch nur noch durch Zufall.
Aimée jettet durch die Welt, beginnt ein Hilfsprojekt für Mädchen in Afrika, und ihre Assistentin ist immer an ihrer Seite bzw. bereitet Aimées großen Auftritt vor. Die Ehe der Eltern ist längst geschieden, die Mutter ist politisch tätig, für persönliche Beziehungen bleibt keine Zeit.
Die Beschreibung der Verhältnisse in dem afrikanischen Dorf, in dem Aimée ihr Hilfsprojekt ansiedelt, gehört zu den Highlights des Buchs. Idealismus und Naivität treffen auf die Realität und das vollkommen andere Leben in einem armen afrikanischen Land, in dem außerdem Korruption und politische Vetternwirtschaft herrschen. Ein perfekter Nährboden für religiöse Fanatiker.
Bei ihren Aufenthalten im Dorf wohnt die Protagonistin bei der lebenslustigen Hawa, die mit Mitte 20 allerdings schon als alte Jungfer gilt, was Hawa mehr ausmacht, als zunächst ersichtlich ist.
Die Verhältnisse im Dorf werden zunehmend schwierig. Aimée hat ein Auge auf einen attraktiven jungen Mann geworfen und will ihn zu sich in die USA holen. Ihm gefällt ihre Aufmerksamkeit, doch er wünscht sich eine jüngere Frau und Kinder. Aimées Assistentin wiederum bekommt eine Liebeserklärung eines Mannes, für den sie nichts empfindet. Sie weist ihn ab, mit weitreichenden Folgen, wie sich herausstellt...
„Swing Time“ ist ein sehr vielschichtiges Buch, das hauptsächlich von starken Frauen handelt, die Männer spielen eine eher untergeordnete Rolle. Die starke Mutter, Aimée, sogar Tracey mit all ihren Problemen, sie alle prägen die Protagonistin, die am Ende des Buches vor einem Scherbenhaufen steht, jedoch endlich die Chance hat, ihr Leben nach ihren eigenen Bedürfnissen auszurichten.

Bewertung vom 03.10.2017
Der gefährlichste Ort der Welt
Johnson, Lindsey Lee

Der gefährlichste Ort der Welt


ausgezeichnet

Gefahren der anderen Art
Der gefährlichste Ort der Welt liegt nicht, wie man vielleicht annehmen sollte, in Kolumbien, Nigeria oder Syrien und die Gefahren, die dort lauern, sind weder Drogenkriege noch Heckenschützen oder Bomben. Der gefährlichste Ort der Welt liegt in der beschaulichen Bay Area nahe San Francisco, genauer gesagt, in Mill Valley, einem kleinen Ort am Fuße des Mount Tamalpais, an dem Ärzte, Börsenmakler und andere erfolgreiche Geschäftsleute mit ihren Familien leben. Und die Gefahren sind ganz anderer Art.
Zunächst einmal ist es in Mill Valley gefährlich, anders zu sein als die anderen. Dies erfährt der Achtklässler Tristan Bloch am eigenen Leib. Tristan ist nicht dumm, er ist einfach anders als die coolen Kids in seiner Klasse, die ihm das Leben zur Hölle machen, nachdem er einer Mitschülerin einen Liebesbrief schreibt. Calista, das Mädchen seiner Träume, beteiligt sich zwar nicht direkt an dem Mobbing, doch sie liefert ihn dem Spott der anderen aus und kommt ihm nicht zu Hilfe, was fatale Auswirkungen auf ihr weiteres Leben haben wird.
In jedem Kapitel des Buchs lernen wir die einzelnen Mitschüler und Peiniger Tristans kennen und erfahren, in welchem Umfeld sie aufwachsen. Die meisten kennen keine finanziellen Probleme, doch sie werden emotional vernachlässigt. Calistas Freundin Abigail beispielsweise bekommt ihre Eltern kaum zu Gesicht, denn sie leben berufsbedingt „nach New Yorker Zeit“. Dann gibt es noch die Eltern, die viel zu hohe Ansprüche an ihre Kinder haben und nicht erkennen, dass ihr Kind einfach nicht das Genie ist, das sie gerne hätten.
Wilde Partys, die aus dem Ruder laufen, und Drogen sind an der Tagesordnung und die rich kids, die eigentlich alle Chancen hatten, etwas aus ihrem Leben zu machen, geraten immer tiefer in den Sog der Selbstzerstörung.
Was zunächst wie ein Teenie-Roman beginnt, entwickelt sich schnell zu einem Psychodrama, das einen nicht mehr loslässt. Ein Buch, das ich kaum aus der Hand legen konnte.

Bewertung vom 02.10.2017
Manchmal musst du einfach leben
Forman, Gayle

Manchmal musst du einfach leben


ausgezeichnet

Wenn der Körper streikt
Maribeth ist 44, Mutter von 4-jährigen Zwillingen, berufstätig und mit einem Mann verheiratet, der sie kaum entlastet. Als sie einen Herzinfarkt erleidet, macht sie daher zunächst einmal weiter wie bisher, in der Hoffnung, es könnte sich um vorübergehende Symptome handeln. Schließlich ist sie unersetzlich. Denn wer soll die Kinder aus dem Kindergarten abholen, sich ums Abendessen kümmern und die tausend anderen Dinge erledigen, die ihren Alltag ausmachen, wenn nicht sie? Doch es hilft alles nichts, sie muss am offenen Herzen operiert werden.
Nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus wünscht sie sich nichts mehr, als sich erholen zu können, doch alle in ihrer Umgebung sind der Meinung, sie sollte sich zwar noch schonen, aber im Grunde doch dort weitermachen, wo sie aufgehört hat, niemand erkennt, wie schlecht es ihr wirklich geht. So kocht sie, bringt die Kinder ins Bett und holt bei strömendem Regen Medikamente aus der Apotheke, weil ihre Mutter, die eigentlich gekommen ist, um ihr zu helfen, Angst hat, sich zu erkälten...
Nur die Krankenschwester Luca versteht ihre Lage und rät ihr, mehr an sich selbst zu denken. Und so fasst Maribeth einen radikalen Entschluss: sie packt eine Tasche und verlässt ihr altes Leben. Sie zieht nach Pittsburgh, wo sie unter ihrem Mädchennamen ein kleines Apartment mietet, nur in bar zahlt, damit sie nicht gefunden werden kann und sich ganz darauf konzentriert, wieder gesund zu werden. Sie lernt neue Leute kennen, bleibt aber auf Distanz. Sie denkt über ihr bisheriges Leben nach, über Dinge und Menschen, die ihr wichtig sind, und wagt es, Nachforschungen über ihre leibliche Mutter anzustellen.
Normalerweise werden Mütter, die ihre Kinder einfach verlassen, von der Gesellschaft verurteilt und als Rabenmütter bezeichnet. Für jemanden, der die Hintergründe nicht kennt, ist Maribeth mit Sicherheit der Inbegriff einer Rabenmutter. Doch da man als Leser alles aus Maribeths Blickwinkel erlebt, wird klar, dass sie aus Selbsterhaltung so handelt. Sie braucht diese Auszeit, um nicht unterzugehen.
Es ist zwar schwer vorstellbar, wie jemand von heute auf morgen einfach seine Familie verlassen kann, aber ich habe viel Empathie mit Maribeth empfunden und das Buch an einem Tag verschlungen.