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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 962 Bewertungen
Bewertung vom 30.07.2020
Die Liebe der Väter
Hettche, Thomas

Die Liebe der Väter


weniger gut

Bereichernd und erfreulich?

Thomas Hettche thematisiert in seinem fünften Roman «Die Liebe der Väter» die unlösbar scheinenden Konflikte eines unverheirateten Paares, das nach der Trennung in einem Dauerstreit um das damals zweijährige, gemeinsame Kind lebt. Die vom Gesetzgeber als alleinerziehende Mutter grotesk einseitig mit diktatorischen Befugnissen ausgestattete Frau macht in diesem Roman bösartig von ihrer Macht Gebrauch und treibt den Vater rachsüchtig immer wieder zur Verzweifelung. Ist es dem Autor, der für seine unkonventionelle Stoffwahl bekannt ist, wirklich gelungen, mit diesem eher für ein Ratgeberbuch taugenden Thema ein belletristisches Werk zu schreiben, das man als ‹bereichernd und erfreulich› und also als ‹lesenswert› bezeichnen kann?

Vor dem Hintergrund der Atmosphäre von Sylt wird erzählt, wie der Ich-Erzähler und Vater der dreizehnjährigen Annika zwischen Weihnachten und Sylvester zusammen mit seiner Tochter bei einem befreundeten Ehepaar in deren Ferienhaus eine Urlaubswoche verbringt. Für den freiberuflichen Vertreter einiger Buchverlage ist dies eine der seltenen Gelegenheiten, seiner Tochter nahe zu sein. Außerdem sieht er die Insel wieder, auf der er als Kind mit seiner Mutter viele Sommer verbracht hat. Annika kommt in den Gesprächen mit dem Vater immer wieder auf die quälende Frage zurück, warum er damals ihre Mutter und damit ja auch sie verlassen habe, aber es gelingt ihm nicht, darauf eine für die Pubertierende befriedigende Antwort zu finden. Es kommt zum Eklat, als er die schon leicht alkoholisierte Annika wegen einer patzigen Bemerkung während der pompösen Sylvesterfeier in einem Top-Restaurant vor allen Leuten ohrfeigt. Sie läuft davon und ist für mehrere Tage nicht auffindbar, er aber traut sich nicht, ihre Mutter darüber zu informieren.

Weite Teile des Romans beschäftigen sich mit der Ohnmacht des nahezu rechtlosen Vaters der sorgeberechtigten Mutter gegenüber, aber auch mit seinen quälenden Schuldgefühlen als berufsbedingt fast immer abwesender Vater. In diversen Rückblenden berichtet er von den tragischen Vorbedingungen dieses menschlichen Dramas und von der Liebe getrennt lebender Väter, die doch so ganz anders sei als die in intakten Familien. Thomas Hettche unterminiert mit der narrativen Form des unzuverlässigen Erzählers die Glaubwürdigkeit seines Protagonisten, und allzu oft erwischt man ihn denn auch dabei, wehleidig durchaus fragwürdige, egoistische Positionen zu vertreten. Seine Freunde beginnen sich allmählich zu distanzieren von ihm und legen ihm schließlich sogar nahe, abzureisen. Diese elegische Geschichte ist mit zweifellos gekonnten, aber leider viel zu ausschweifenden Beschreibungen von Sylt garniert, ohne dass dabei eine wie auch immer geartete motivische Verbindung zum eigentlichen Thema erkennbar wird. Die eher nüchternen, knappen Dialoge sind fast schon spröde zu nennen, sie werden von häufigen inneren Monologen des parteiischen Vaters ergänzt in diesem von Aggressionen und Verletztheiten beherrschten, psychologischen Roman.

Als mit suggestiver Dringlichkeit dargestellte Vater-Tochter-Problematik leidet die larmoyante Erzählung nicht wenig darunter, dass sich zu den Protagonisten keine emotionale Nähe aufzubauen vermag, die Figuren bleiben allesamt (nordisch?) unterkühlt. Die betont einseitige Vater-Perspektive unterstreicht den Impetus des Romans, die verkorkste familiäre Konstellation als Folge äußerst konträrer Lebenskonzepte der Beteiligten begreifbar zu machen. Abgesehen davon, dass die rein juristische Problematik inzwischen ja teilweise obsolet geworden ist, bestimmt die psychische Thematik unverändert die Lebenswirklichkeit in jenen Patchwork-Familien, denen wegen tiefer Verletzungen zum friedlichen Miteinander der Wille oder die Fähigkeit fehlt. Dieser Roman mag entsprechende Diskussionen anstoßen, seine Thematik wäre aber besser in einem Sachbuch aufgehoben, als belletristische Lektüre ‹bereichernd und erfreulich› ist dieses Buch jedenfalls nicht

Bewertung vom 27.07.2020
Léon und Louise
Capus, Alex

Léon und Louise


ausgezeichnet

Ein Glücksfall der Gegenwartsliteratur

Man ist bei «Léon und Louise» von Alex Capus an den berühmten Liebesroman von Garcia-Marquez erinnert. In beiden Geschichten finden die Paare erst im Alter zu ihrem späten Glück, dem sie in den beiden jeweils grandiosen Schlussszenen, von der Welt abgeschottet, auf einem Schiff entgegenfahren. Als Handlungsgerüst dienen dem Schweizer Schriftsteller einige Details aus dem Leben seines Großvaters, um die herum er einen klug konstruierten Plot aufbaut, den man treffend auch mit «Die Liebe in den Zeiten der Weltkriege» betiteln könnte, beide politischen Katastrophen lauern als Menetekel über dem schicksalhaften Romangeschehen.

«Wir saßen in der Kathedrale von Notre-Dame und warteten auf den Pfarrer», lautet der erste Satz. Im offenen Sarg liegt Léon Le Galle, der Großvater des Ich-Erzählers, der in einem epilogartigen ersten Kapitel berichtet, wie plötzlich eine kleine graue Gestalt durch eine Seitentür eintritt, zum Sarg eilt, den Toten küsst, eine Fahrradklingel aus ihrer Handtasche nimmt, zweimal damit klingelt, sie in den Sarg legt, sich zur Trauerfamilie umwendet und jedem kurz in die Augen schaut, ehe sie genau so schnell verschwindet wie sie gekommen ist. Es ist der 16. April 1986, die zierliche alte Dame war Louise, die langjährige Geliebte von Léon, die keiner der Hinterbliebenen je gesehen hatte, - er hat ihr genau diese Klingel kurz nach ihrer ersten Begegnung ans Fahrrad montiert.

Im Frühling 1918 lernt der damals 17jährige Léon in der Normandie Louise kennen, ihre kurze Romanze wird jäh beendet, als sie bei einem Fahrradausflug ans Meer von Tieffliegern angegriffen werden. Beide werden schwer verletzt in verschiedene Lazarette gebracht und halten den jeweils anderen für tot, wobei ein eifersüchtiger Bürgermeister seine Hand im Spiel hatte. Zehn Jahre später sieht der inzwischen verheiratete Léon in der Pariser Metro Louise in einem Zug davonfahren. Es gelingt ihm, sie zu finden, nach einer Liebesnacht beschließen sie aber, sich mit Rücksicht auf Léons Ehe nie mehr wiederzusehen. Der Zweite Weltkrieg verschlägt Louise dienstlich nach Afrika. Léon wird noch mehrmals Vater und schlägt sich als Polizei-Chemiker mit den Besatzern herum. Ein schmuckes Hausboot, das eigentlich ungewollt plötzlich sein Eigentum ist, wird nach Kriegsende das behagliche Refugium des sympathischen Mannes.

Aus der Perspektive seiner Figuren wird in diesem ebenso unsentimentalen wie originellen Roman vor allem eine äußerst unruhige politische Epoche geschildert, die sich sehr anschaulich in den Begebenheiten und Schicksalen spiegelt, von denen die kleinen Leute in Frankreich betroffen waren. Besonders die Figurenzeichnung des eher gegensätzlichen Liebespaares mit dem gutmütigen, in sich gekehrten und phlegmatischen Léon und der burschikosen, selbstbewussten, lebenslustigen Louise ist überzeugend gelungen. Ihre Beziehung ist völlig frei vom schnulzigen Herz-Schmerz-Chaos gängiger Genre-Romane, wobei man trotzdem deutlich spürt, wie tief die Beiden über Jahrzehnte hinweg emotional verbunden bleiben, allen Widrigkeiten zum Trotz. Es sind nicht so sehr ihre individuellen Charaktere, die den Leser beeindrucken, es ist vielmehr die Unbedingtheit, mit der sie scheinbar gottgewollt zueinander gehören. Sogar Léons Frau, der er bis zu ihrem Tod unverbrüchlich verbunden bleibt als verlässlicher Ehemann, erkennt diese adhäsiven Kräfte und entscheidet sich nach anfänglichen Protesten schließlich lebensklug, sie zu akzeptieren. Beeindruckend ist die klare Haltung des Ehepaares, das nach so langer Gemeinsamkeit am Sakrament der Ehe festhält. Aber Léon kann nun mal seiner Vergangenheit nicht entfliehen, die Liebe zu Louise ist sein Schicksal und bestimmt auch ganz entscheidend ihr Leben. Mit großem Einfühlungsvermögen in einer angenehm lesbaren Sprache geschrieben, gewürzt mit einer wohldosierten Portion Humor, ist dieser Roman einer der seltenen Glücksfälle unserer höhepunktarmen Gegenwartsliteratur.

Bewertung vom 24.07.2020
Georgs Sorgen um die Vergangenheit
Faktor, Jan

Georgs Sorgen um die Vergangenheit


weniger gut

Éducation sentimentale

Schon der monströse Doppeltitel des Romans «Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag» von Jan Faktor reizt zum Widerspruch. Sorgen macht man sich um die Zukunft, aber gerade die sieht der Ich-Erzähler als Alter Ego des tschechischen Autors ja in blühenden Farben, sie wird phantastisch sein, da ist er sich sicher. ‹Sex sells› wusste schon Charlotte Roche, die mit ihrem unappetitlichen Roman «Feuchtgebiete» dem Leser ihre Thematik aber wenigstens nicht dermaßen obszön und plakativ schon im Titel aufdrängt, wie es hier geschieht. Andererseits vermag ein Coming-of-Age-Roman aus Prag, - einziges Wort dieses unsäglichen Titelungeheuers, das aufhorchen lässt -, der zudem auch noch in bester Schelmenroman-Tradition geschrieben ist, ja durchaus die Neugier zu wecken.

Georg wächst in einem prominenten Prager Viertel bei seiner geschiedenen Mutter auf, die für eine liberale Zeitschrift arbeitet. Mit Großmüttern, diversen Tanten und Cousinen bewohnen sie gemeinsam eine provisorisch unterteilte, ehemals hochherrschaftliche Altbauwohnung. Einziger Mann in dieser femininen WG ist sein Onkel, ein unermüdlicher, aber nicht immer erfolgreicher Do-it-yourself-Handwerker, der bei der Spionageabwehr arbeitet. Durch die weibliche Dominanz ist der Pubertierende schon früh sexuell geprägt. Seine erste - und einzige - Geliebte wird die zwanzig Jahre ältere Dana, eine gute Freundin seiner Mutter, die als naturbegeisterte Objektkünstlerin in einem Bauernhaus auf dem Lande lebt. In der Adoleszenz bestimmen brutale Jugendbanden Georgs rebellischen Alltag, er lernt Kampfsport und sieht die Welt fast ausschließlich in ihrer rein materiellen Dimension. Wobei ihn besonders jede Form von Schmutz und Unrat fasziniert, er arbeitet folglich für einige Zeit als Müllmann, nachdem er seine schulische Ausbildung vorzeitig beendet hat. Später sattelt er auf Schlosser um und verbringt schließlich zwei Jahre als Bergführer und Hüttenwart in der hohen Tatra.

Prägendes Element dieses satirischen Romans in bewährter Nachfolge von Hasek oder Hrabal ist die unbändige Fabulierlust des Autors, der aus postsozialistischer Sicht hemmungslos die triste Lebenswirklichkeit seines Volkes anprangert. Dass er dabei häufig über das Ziel hinausschießt ist eine der Schwächen dieses ständig ins Groteske abdriftenden Romans. Ein weit schlimmeres Manko aber ist das Fehlen jedweden politischen Hintergrundes, Umbrüche wie der Prager Frühling 1968 und der Einmarsch der Roten Armee werden nur nebenbei erwähnt, Georg trifft auf keinen Panzer, selbst Alexander Dubček kommt nicht vor. Auch der Versuch, den Holocaust in Form einer Reise zu den polnischen Munitionsfabriken einzubinden, in denen Georgs Mutter für die Nazis arbeiten musste, bleibt unkommentiert und wenig überzeugend. Stattdessen gerät der Weg dorthin mitten durch die DDR zu einer Schilderung der grotesken Gastronomie dieses sozialistischen Bruderlandes. Weitaus bester Teil der Erzählung ist zweifellos das zufällige Zusammentreffen mehrerer befreundeter Intellektueller verschiedenster Couleur, die auf der Straße stehend eine hochinteressante Diskussion zu kulturellen und politischen Themen führen. Georg wendet sich vehement gegen das lustige Verschwejkeln der tschechischen Misere und fasst seinen politischen Frust in dem Satz zusammen: «Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden».

Diese eher traurige Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, sie bewegt sich vielmehr in ständig wechselnden Zeitebenen, die eine altersmäßige Einordnung des «Kindes» Georg manchmal schwierig macht. Jan Faktor erzählt in einem geradezu übermütigen Stil, der mit kreativen Wortgebilden und unkonventionellen Gedankensprüngen eher an Hrabal als an Hasek erinnert. Eine tragische Éducation sentimentale im Flaubertschen Sinn also, die allerdings kaum bereichernd, wenig unterhaltend und viel zu lang geraten ist.

Bewertung vom 18.07.2020
Gutgeschriebene Verluste
Cailloux, Bernd

Gutgeschriebene Verluste


weniger gut

Selbstgefälliges Palaver

Mit «Gutgeschriebene Verluste» hat Bernd Cailloux das hauptsächlich für Deutschland spezifische Genre der 68er-Romane um ein Werk bereichert, dessen Klassifizierung als «Roman mémoire» allerdings unzutreffend ist. Denn es handelt sich dabei nicht um einen in Form von Erinnerungen erzählten fiktionalen Lebenslauf, sondern um eine fiktional mehr oder weniger ausgeschmückte, ansonsten aber reale Autobiografie. Ein heute bei vielen Autoren sehr beliebter, narrativer Typus übrigens, der gemeinhin als Autofiktion bezeichnet wird.

Das Alter-Ego des Verfassers wird gleich zu Beginn bei einer Verabredung mit seinem besten Freund durch dessen «so schwerwiegend wie beiläufig» vorgebrachte Bemerkung geschockt: «Dieses Café ist das Café der Übriggebliebenen». Der 60jährige Ewige Hippie ist nach mehr als zehnjähriger, anfangs erfolgreicher Tätigkeit in Hamburg als Hersteller von Discokugeln und ähnlichem Equipment 1979 wieder in Berlin gelandet. Er schlägt sich nun als Autor von Rundfunk-Kommentaren und mit anderen Gelegenheitsaufträgen durchs Leben. Als Rahmenhandlung des Romans dient dem Autor die seit zwei Jahren bestehende Beziehung seines Protagonisten zu einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau, die kurz vor dem Scheitern steht. Hella neigt zu starken Gefühlsausbrüchen und erhofft sich mit ihm ein spätes Glück. Der angestrebte gemeinsame Nestbau aber erweist sich als Illusion, er scheitert an der geradezu pathologischen Bindungsunfähigkeit des Helden. Daran kann auch eine gemeinsame Reise zum KZ Buchenwald nichts ändern, in dessen Nähe er als Kind lebte, einige der Leerstellen in seiner Vita können jedoch dank einer alten Nachbarin dort geklärt werden. Diese gemeinsame Unternehmung ändert aber nichts an dem ständigen Zank des Paares, der sich zum Krieg der Geschlechter hochschaukelt. Nicht von ungefähr sehen sich die Beiden 2005 im Deutschen Theater Edward Albees Drama «Wer hat Angst vor Virginia Woolf» an. Ein Erbe aus der Drogen-Vergangenheit ist die nicht überwundene Hepatitis-Infektion des Protagonisten, die er nach dreißig Jahren mit unsicherem Ausgang durch eine mit reichlich Nebenwirkungen belastende Interferon-Therapie bekämpfen muss, - die 68er-Vergangenheit holt ihn wieder ein. Und bei einer Podiumsdiskussion trifft er dann auch noch auf das RAF-Mitglied Peter Jürgen Book, der 25 Jahre im Zuchthaus gesessen hat und ihm inzwischen äußerst unsympathisch ist.

Als melancholische Lebensbilanz erzählt der Autor in Rückblenden von seiner schwierigen Kindheit, die Mutter hatte die Familie 1945 verlassen, als er wenige Monate alt war. Es folgen schlaglichtartige Erinnerungen an seine Jugend, erste Kontakte zum anderen Geschlecht, Erfahrungen mit Drogen, die Firmengründung 1968 und die Rückkehr ins Berlin des New Wave. Als Dauergast porträtiert er mit scharfem Blick für Details die skurrilen Gestalten in seinem Stammcafé, das ihm quasi als ‹ambulantes Wohnzimmer› dient. Seine ironisch-nüchternen Reflexionen aus der Schöneberger Subkultur sind gespickt mit köstlichen Anekdoten, bei denen Sex und Frauen das Hauptthema bilden. Aber auch die diversen Intellektuellen und Künstler aller Couleur und unterschiedlichsten Renommees ergeben reichlich Gesprächsstoff für den unentwegt sinnierenden und schwadronierenden Althippie, der sich im Seinstaumel dieses spinnerten Milieus als Dauergast etabliert hat.

Der Titel des Romans lädt zu allerlei Deutungen ein. Es sind zweifellos Verluste, die der unsympathische Alt-68er in seinem Katzenjammer zu verbuchen hat, gutgeschrieben aber werden sie ihm nicht, er steht am Ende seines Lebens mit leeren Händen da. Stilistisch gut geschrieben aber ist diese Geschichte sehr wohl, Bernd Cailloux schildert das Geschehen in einer saloppen Sprache, die besonders in den Dialogen durchaus überzeugen kann. Weniger überzeugend ist der schleppende Fortgang der Geschichte, die durch ein Übermaß an selbstgefälligem Palaver des grandios gescheiterten Helden sehr schnell sehr langweilig wird.

Bewertung vom 16.07.2020
Die Verlobten
Manzoni, Alessandro

Die Verlobten


ausgezeichnet

Faktenbasierte Horizonterweiterung

Im Jahre 1827 erschien als wegweisendes Werk der Romantik die erste Fassung des Romans «I Promessi Sposi» von Alessandro Manzoni, es wurde auf Anhieb ein Publikumserfolg. Vorbild für den italienischen Schriftsteller war Sir Walter Scott, dem er bei einem Treffen gestand, «dass er sich durchaus als sein Schuldner fühle». Noch im gleichen Jahr ins Deutsche übertragen, folgten dann mehr als ein Dutzend weitere Übersetzungen dieses ersten dem Realismus zuzurechnenden historischen Romans, er gehört unbestrittenen zum Kanon der Weltliteratur. Einst von Goethe hoch gelobt, auch von Reich-Ranicki euphorisch zur Lektüre empfohlen, ist er in Italien als bester Prosa-Klassiker heute noch Pflichtlektüre an höheren Schulen.

«Die Verlobten» ist die Geschichte eines Liebespaares aus einem Dorf am Comer See, das heiraten will. Es beginnt protokollartig: Am 7. November 1628 wird der Dorfpfarrer bei einem abendlichen Spaziergang von Schergen des Lehnsherren aufgefordert, die geplante Hochzeit von Renzo und Lucia keinesfalls vorzunehmen, widrigenfalls ihm Schlimmes drohe. Der brutale Don Rodrigo hat selbst ein Auge auf die schöne Braut geworfen, die Beiden müssen fliehen. Lucia versteckt sich in einem Kloster, Renzo flüchtet nach Mailand. Er gerät dort in einen Volksaufstand wegen der hohen Brotpreise, wird als Aufrührer verhaftet, kann entkommen und findet jenseits der Grenze Unterschlupf bei einem Cousin in Bergamo. Lucia jedoch wird im Auftrag von Don Rodrigo von einem verbrecherischen Feudalherrn auf dessen Ritterburg entführt. Als aber der charismatische Mailänder Erzbischof sich persönlich für sie einsetzt, geschieht die wundersame Bekehrung des grausamen Tyrannen zum christlichen Wohltäter. Er bringt Lucia bei einer wohlhabenden Mailänder Familie in Sicherheit. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges schleppen 1630 marodierende Soldaten dort die Pest ein, verzweifelt macht sich Renzo trotz Haftbefehl auf die Suche nach ihr.

Die in 34 Kapiteln erzählte Geschichte widmet am Ende zwei Kapitel allein der Ausbreitung der Pest in Mailand, fast die Hälfte der damaligen Bevölkerung fielen ihr zum Opfer. Von der Corona-Pandemie geschädigte Leser werden in dieser exzellenten Darstellung vieles wiederfinden, was heute allenthalben die Schlagzeilen bestimmt. Alessandro Manzoni streut häufig auch eigene Gedanken zu den historischen Ereignissen ein, erläutert die ökonomischen Bedingungen, die zum ‹Mailänder Brotaufstand› geführt haben, oder zitiert aus Dokumenten der Zeit von den erfolglosen Maßnahmen der spanischen Fremdherrscher zur Bekämpfung des Angst und Schrecken verbreitenden Raubrittertums. Mit versteckter Ironie kommentiert er gelegentlich aber auch das fiktionale Geschehen und die allzumenschlichen Motive seiner lebensechten Figuren.

Ein Verdienst dieses berühmten Romans ist zweifellos der Verzicht auf die übliche Heroisierung des Rittertums, die hier vielmehr als Märchen entlarvt wird angesichts des unsäglichen Terrors, mit dem brutale Feudalherren erbarmungslos Tod und Elend verbreitet haben. Insoweit bietet die tragische Geschichte der Verlobten lediglich die narrative Basis für eine umfassende Analyse der komplizierten Stände-Gesellschaft jener Zeit und der nicht minder komplizierten politischen Verhältnisse. Sprachlich hat der Autor mit seinem sozialkritischen Werk Maßstäbe gesetzt für die italienische Literatur Anfang des 19ten Jahrhunderts. Er erzählt seine Geschichte gemächlich, mit üppigen Ausschmückungen und in langen, brillant formulierten Satzgebilden, denen man als Leser genüsslich folgt, - dafür sollte man allerdings die nötige Muße haben. Die damals neuartige Vermischung von historischen Fakten und Fiktion, von Goethe seinerzeit noch beanstandet, ist als literarischer Genretyp seit Sir Walter Scott jedoch fest etabliert. Sie erfreut all jene nach Belesenheit strebenden Buchfreunde, die neben fiktionaler Unterhaltung auch eine faktenbasierte Horizonterweiterung erwarten.

Bewertung vom 07.07.2020
Da sind wir
Swift, Graham

Da sind wir


weniger gut

Rhetorische Floskel

Eigentlich sollte der Bestseller «Ein Festtag» sein letzter Roman bleiben, drei Jahre später nun ist vom britischen Erfolgsautor Graham Swift mit «Da sind wir» erneut ein Kurzroman erschienen, in dem er sein Zentralthema des Erinnerns aus anderen Blickwinkeln und in einem anderen Milieu nochmals aufgreift. Wie beim Vorgänger handelt es sich hier eher um eine Novelle, es ist nämlich eine ‹unerhörte Begebenheit› im Sinne Goethes, auf die diese neue Geschichte hinsteuert, was im Milieu des Varietés mit einem Zauberer als Held schon fast vorgezeichnet scheint. Ein weiteres literarisches Highlight?

Jack und Ronnie gelingt nach ihrer gemeinsamen Militärzeit der Sprung ins Showbusiness, sie bekommen 1959 im mondänen Seebad Brighton ein Engagement in einer berühmten Bühnenshow auf den Piers. Jack, der dort als Entertainer arbeitet, holt seinen Freund Ronnie erstmals als Zauberer auf die Bühne, und der verpflichtet als publikumswirksame Ergänzung für seine Show eine attraktive Assistentin. Die Drei haben großen Erfolg, sie ergänzen sich optimal, Ronnie und Evie rücken als ‹Pablo und Eve› immer mehr ins Rampenlicht, sie reüssieren als Zugnummer ihres Theaters, werden schon bald ein Paar und verloben sich. Bis passiert, was passieren muss in solcherart Konstellation, der berüchtigte Womanizer Jack bekommt Evie schließlich doch ins Bett, und völlig überraschend ist es für Beide die große Liebe. Sie heiraten, und ihre Ehe hält schließlich bis zu Jacks Tod fünfzig Jahre später. Ronnie aber ist damals, während seines letzten Auftritts, wie von Zauberhand spurlos von der Bühne verschwunden und blieb trotz intensiver polizeilicher Nachforschungen für immer unauffindbar.

Geschickt verknüpft Graham Swift in diesem neuen Roman das Schicksal seines Helden mit dem historischen Geschehen des Zweiten Weltkriegs. Wegen der ständigen Bombardierungen Londons musste der achtjährige Junge von seiner Mutter zu Pflegeeltern aufs Land evakuiert werden und wurde bei einem wohlhabenden, kinderlosen Ehepaar liebevoll großgezogen. Sein Pflegevater war vor dem Krieg ein erfolgreicher Zauberer gewesen, hat auch ihn für seine Kunst begeistern können und dem Pflegesohn bei seinem frühen Tod eine größere Summe hinterlassen. Die konnte Ronnie schließlich als unbedingt erforderliches Startkapital für seine eigene Bühnenshow mit Evie einsetzen. Mit einem melancholischen Grundton erzählt der Autor vom Leben im Varieté, das damals seinen beginnenden Niedergang erlebte, von Ronnies freudloser Kindheit und den glücklichen Jahren bei den Pflegeeltern.

Dabei springt er in diversen Rückblenden in die Vorgeschichte seiner Figuren zurück, erzählt seinen Plot zudem in stark fragmentierter Form und benutzt zuweilen das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers, was im Zusammenspiel mit Zauberei und Magie nicht wenig zur Verunsicherung des Lesers beiträgt. Seine Figuren wirken wenig empathisch und entsprechen diversen gängigen Klischees, vom draufgängerischen Frauenschwarm Jack über die kühl berechnende und leicht zu erobernde Evie in ihrem Glitzerkostüm bis zum hochsensiblen Zauberkünstler Ronnie, der sich seine treulose Verlobte kommentarlos ausspannen lässt. Zu den häufig verwendeten Metaphern im Roman zählt der Spiegel als trügerisches Symbol oder der bunte Papagei als krasser Gegenpol zur weißen Taube als dem typischen Überraschungstier beim Zaubern. Wenig erhellend sind auch die Erinnerungen der fünfundsiebzigjährigen Evie, die ein Jahr nach dem Tod von Jack, der mit ihr als seiner Managerin erfolgreich Karriere im Showbusiness gemacht hatte, immer wieder von Ronnie phantasiert. Der könne jeden Moment zur Tür hereinkommen, als Wiedergänger quasi. Gleiches denkt sie auch von ihrem toten Mann, derartige Illusionen begleiten sie also noch auf ihre alten Tage. «Hier sind wir» mag als rhetorische Floskel beim selbstbewussten Auftritt auf der Bühne funktionieren, dieser Roman jedoch kann mit dem Niveau seines Vorgängers nicht annähernd mithalten!

Bewertung vom 30.06.2020
Middlemarch
Eliot, George

Middlemarch


ausgezeichnet

Der Weg ist das Ziel

In Deutschland bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist «Middelmarch», das 1871/72 in acht Fortsetzungen unter dem Pseudonym George Eliot erschienene Opus magnum von Mary Anne Evans mit dem Untertitel «Eine Studie über das Leben in der Provinz». Zum zweihundertsten Geburtstag der englischen Schriftstellerin sind 2019 gleich zwei Neuübersetzungen dieses nach Meinung von 82 internationalen Literatur-Experten bedeutendsten britischen Romans erschienen, was manchen Leser denn doch animieren dürfte, sich an die Lektüre dieses berühmten, dickleibigen Klassikers der Weltliteratur heranzumachen.

Handlungsort der mehrsträngig erzählten Geschichte ist die titelgebende, fiktive Kleinstadt Middelmarch, Erzählzeit der Beginn der Industrialisierung im ersten Drittel des 19ten Jahrhunderts. In einem familiär eng verflochtenen Figurenensemble werden vor allem die Beziehungen der verschiedenen Charaktere untereinander thematisiert, wobei dem Individuum hier übermächtig die rigide viktorianische Gesellschaft gegenübersteht, an der viele scheitern. Besonders Liebesnöte und unglückliche Ehen nehmen dabei einen breiten Raum ein, aber auch ökonomische, politische und soziale Aspekte werden im historischen Kontext äußerst facettenreich beleuchtet. Es beginnt mit der schönen Dorothea, die zum Entsetzen der Familie und gegen alle Vernunft einen doppelt so alten, verschrobenen Theologen heiratet und erwartungsgemäß in einem albtraumartigen Ehedrama landet, aus dem sie nur der frühe Tod ihres drögen Mannes errettet. Scheitern muss auch der zweite Protagonist, der ehrgeizige, aber mittellose Landarzt Lydgate, der die verwöhnte Tochter des Bürgermeisters ehelicht, sich in Schulden stürzt und schließlich resigniert alle wissenschaftlichen Ambitionen aufgeben muss. Er geht nach London und wird dort widerwillig Modearzt, um seiner Frau das komfortable Leben bieten zu können, auf das sie Anspruch zu haben meint.

Größte Stärke dieses grandiosen Gesellschaftsromans sind seine psychologisch tiefgründigen Charakterstudien. Das üppige Figuren-Ensemble besteht aus diversen ebenso liebevoll wie ironisch beschriebenen Archetypen, von denen viele ebenfalls scheitern. Den frömmelnden, unredlichen Bankier zum Beispiel holt seine fragwürdige Vergangenheit ein, gesellschaftlich geächtet muss er Middelmarch verlassen. Ein fauler Tunichtgut muss erkennen, dass er keine Chance hat, seine Liebste zu ehelichen, wenn er sein unstetes Lotterleben nicht radikal ändert, - was er dann notgedrungen auch tut. Amüsanteste Figur ist Mrs. Cadwallader, die gleich zu Beginn in einer köstlichen Szene versucht, die sich abzeichnende Mesalliance von Dorothea im letzten Moment doch noch zu verhindern. Der Nachbar, Pfarrer Farebrother, verkörpert den grundgütigen, selbstlosen Menschen, der sich immer wieder helfend und schlichtend einbringt in den intrigenreichen Mikrokosmos dieses Romans, der von naiver Religiosität, Standesdünkel und doppelter Moral geprägt ist, die ständig neue menschliche Schwächen offenbaren.

Unübersehbar ist bei alledem die kritische, feministische Sichtweise der Autorin, die ja schon damit beginnt, dass sie unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichen musste, um literarisch ernst genommen zu werden. Die Frauen in diesem viktorianischen Epos sind allesamt ungebildete Weibchen, dem Manne untertan. Häufig schweift George Eliot zu kontemplativen Exkursionen über politische, künstlerische, philosophische und auch wissenschaftliche Themen ab. In ihrem komplexen Handlungsgeflecht nimmt dabei auch die Medizin breiten Raum ein und zeugt von ihren erstaunlichen Kenntnissen auf diesem Gebiet. Zum Lesegenuss des intellektuell äußerst anspruchsvollen und raffiniert konstruierten Romans trägt nicht wenig auch die kongeniale Übersetzung von Melanie Walz bei, in der subtil der köstliche englische Humor zum Tragen kommt. Die mehr als zwölfhundert Buchseiten vergehen somit wie im Fluge, denn auch hier gilt mal wieder: «Der Weg ist das Ziel».

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Bewertung vom 30.06.2020
Sweetest Fruits
Truong, Monique

Sweetest Fruits


weniger gut

Heimatloser Literat

In ihrer literarischen Biografie «Sweetest Fruits» erzählt die in den USA lebende Schriftstellerin Monique Truong vom wechselvollen Leben des irisch-griechischen Reiseschriftstellers Lafcadio Hearn. Die erste Biografie über ihn erschien schon 1906, zwei Jahre nach dem Tod des 54jährigen Journalisten, geschrieben von Elisabeth Bisland, die damals insbesondere durch ihr spektakuläres Wettrennen auf den Spuren von Jules Vernes rund um die Welt bekannt war. Aus dem zweibändigen Werk dieser amerikanischen Journalistin über ihren Freund und Kollegen Hearn werden, als Zwischenberichte quasi, den drei fiktionalen Teilen des Romans jeweils einige Seiten mit Zitaten beigefügt, wodurch ein authentisches Erzählgerüst entsteht.

Monique Truong erzählt aus den Perspektiven dreier Frauen vom Leben ihres Helden, beginnend auf einer griechischen Insel, wo Rosa ihrem bedrückenden Leben durch die Ehe mit einem dort stationierten irischen Stabsarzt zu entkommen sucht und mit ihm nach Dublin geht. Als die Ehe scheitert, lässt sie notgedrungen ihren kleinen Sohn Patricio in der Obhut der Familie und kehrt mittellos auf ihre Insel zurück. Im zweiten Teil erzählt Alethea, eine ehemalige Sklavin, die in einer billigen Pension als Köchin arbeitet, wie sie Patricio Hearn als Gast kennenlernt. Er war nach seiner Schulzeit in Irland von den Verwandten, die ihn großgezogen hatten, mittellos nach New York geschickt worden, hat sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und später in Cincinnati eine schlechtbezahlte Stelle als Journalist gefunden, der Anfang seiner literarischen Karriere. Alethea heiratet Pat, wie sie ihn nennt, aber die Ehe hält nur drei Jahre, ehe Hearn sich schließlich in Richtung New Orleans absetzt und sich scheiden lässt. Das Paar hat nur noch sporadisch Briefkontakt, zuletzt kommt ein Brief aus Martinique, wo der Weltenbummler inzwischen wohnt. Setsu, die Tochter eines Samurai, erzählt im dritten Teil schließlich, wie sie in der japanischen Hafenstadt Matsue den Englischlehrer Patrick Hearn kennenlernt, der sie heiratet, japanischer Staatsbürger wird und den Namen Yakumo annimmt. Sie haben vier Kinder miteinander, Hearn schreibt mehrere Bücher und wird Professor an der Universität von Tokio.

Es sind ganz unterschiedlichen Frauen, die diesen Globetrotter und Literaten porträtieren, wobei Monique Truong ihnen eine stilistisch jeweils ganz eigene Stimme verleiht. Rosa, die Mutter Hearns, diktiert auf dem Schiff einer Mitreisenden ihre Geschichte von der frühen Kindheit ihres Sohnes. Alethea, die gutgläubige Analphabetin, erzählt im Interview der Biografin naiv von ihrer Ehe, die letztlich scheiterte, als ihr Mann seine Stellung verlor, weil er mit einer Farbigen verheiratet war. Setsu schließlich rekapituliert nach dem Tod ihres Mannes sprachlich blumig in Du-Form das unstete Leben mit Hearn. Die auf drei Kontinenten lebenden Frauen offenbaren dabei mehr über sich selbst als über den Romanhelden. Sie hatten in der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts mit vielerlei Anfeindungen zu kämpfen, die nicht nur sexistischer Art waren, auch gesellschaftliche Unterdrückung, Standesdünkel und Rassenhass trübten ihr Leben. Hearn selbst bleibt als Figur seltsam farblos, er war nach einem Unfall als Kind auf einem Auge fast blind, liebte die Natur über alles und verabscheute das hektische, moderne Leben, dessen dunkle Seiten er als Journalist bestens kannte, über das er immer wieder seine Reportagen schrieb.

Die fraktionelle Erzählweise des Romans eröffnet einerseits interessante Perspektiven, erfordert aber auch die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Der sieht sich zudem vielen fremdsprachigen Begriffen gegenüber, mit denen er mangels Register allein zurechtkommen muss. Es sind drei liebende Frauen, die diesen Roman prägen, die Kinder aber sind es letztendlich, die als «Süßeste Früchte» den Lebensbaum veredeln. Sie stehen auch für Beständigkeit als Gegenpol zum unsteten Leben eines heimatlosen Literaten.

Bewertung vom 25.06.2020
Der Russe ist einer, der Birken liebt
Grjasnowa, Olga

Der Russe ist einer, der Birken liebt


gut

Seelisches Chaos

Die in Baku geborene, jüdische Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die 1996 als Zwölfjährige in Folge des Berg-Karabach-Konflikts mit den Eltern nach Deutschland emigrierte, verarbeitet in ihrem 2012 erschienenen Debütroman mit dem ironisch gemeinten Titel «Der Russe ist einer, der Birken liebt» eigene Lebenserfahrungen. Ihre autobiografisch inspirierte Protagonistin leidet nicht nur unter den Traumata der ethnischen Kämpfe in dieser krisengeschüttelten Kaukasus-Region, sie ist zudem von den latenten Problemen der Migranten in Deutschland betroffen und letztendlich auch noch von der Dauerkrise vieler multikultureller Gesellschaften, hier am abschreckenden Beispiel Israels.

Maria Kogan aus Aserbaidschan hat nach anfänglichen sprachlichen Problemen in der deutschen Schule ihr besonderes Talent für Fremdsprachen entdeckt und sich für ein Dolmetscher-Studium entschieden. Die hochbegabte Mascha, wie ihre Freunde sie nennen, erhält diverse Auslandsstipendien, und ehrgeizig wie sie ist strebt sie mit ihrem exzellenten Studienabschluss eine Anstellung bei der UNO an, wo ihr eine glanzvolle Karriere winkt. Die emanzipierte junge Frau wohnt mit ihrem deutschen Freund Elias in dessen Wohnung in Frankfurt, - es ist für Beide die große Liebe. Als er sich bei einem Fußballspiel das Bein bricht, entwickelt sich aus dieser Verletzung eine ernsthafte Erkrankung, bis Elias schließlich qualvoll an einer Sepsis stirbt. Verzweifelt flieht Mascha daraufhin nach Israel und nimmt dort eine deutlich unter ihrer Qualifikation liegende Stellung bei einer NGO an.

Nach dieser Zäsur, mit der sie ihre schwere emotionale Krise zu überwinden hofft, holt sie ihre Vergangenheit in voller Härte wieder ein. Die Pogrome in Baku, die sie als Kind miterleben musste, haben bisher tief verdrängte Traumata in ihr Bewusstsein zurückgerufen, und auch ihre jüdische Herkunft wird in Israel mit seinen unversöhnlichen ethnischen und religiösen Gegensätzen plötzlich zu einem handfesten Problem für sie. Ihre verzweifelte Identitätssuche erweist sich für die entwurzelte Frau als äußerst schwierig. Sie ist nicht mehr bindungsfähig, nach einer kurzen Affäre mit einem palästinensischen Soldaten kann sie auch zu ihrer politisch engagierten, lesbischen Freundin keine dauerhafte Beziehung mehr aufbauen. Der tote Elias beherrscht ihr ganzes Denken, sie macht sich sogar Vorwürfe, ihn nicht aufmerksamer gepflegt und die gesundheitliche Krise nicht rechtzeitig bemerkt zu haben. Von solchen Selbstzweifeln geplagt zeigen sich bei ihr schließlich physische Symptome, völlig appetitlos magert sie ab, wird von Beruhigungstabletten abhängig und erleidet schließlich einsam und hilflos einen Nervenzusammenbruch.

Es ist nicht nur der alltägliche Wahnsinn des von Gewalt beherrschten Staates Israel, dieser ewige Tanz auf dem Vulkan, mit dem die Ich-Erzählerin im zweiten Teil des Romans an ihrem vermeintlichen Zufluchtsort auf Schritt und Tritt konfrontiert wird. Olga Grjasnowa berichtet mit scharfem Blick für Details auch von den menschlichen Schwächen ihrer verschiedenen Figuren. Ihre Beschreibungen der absurd scheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse an beiden Handlungsorten, - in Deutschland mit seiner hysterischen Fremdenangst und in einem von religiösem Wahn beherrschten Israel -, werden temporeich und sprachlich schnörkellos in einem sachlichen, nüchternen Stil erzählt. In kurzen Sätzen werden hier, illusionslos und aus der Innensicht, kosmopolitische Multikulti-Fantasien als solche entlarvt. Denn hartnäckig erweist sich letztendlich immer die menschliche Natur mit ihren unausrottbaren Ressentiments als entschieden stärker. Es ist alles ein wenig zu dick aufgetragen, was sich in diesem Roman an Katastrophen ereignet, wobei die auch im Klappentext angedeutete, schreckliche Hasenszene ganz besonders hervorsticht. Narrativ eigensinnig wird hier von einer toughen jungen Frau berichtet, die in einer pseudo-globalen Welt an ihrem seelischen Chaos scheitert.