Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 10.12.2023
Betrug
Smith, Zadie

Betrug


ausgezeichnet

»Was können wir je über andere wissen? Wie viel vom Geheimnis eines anderen Menschen kann der eigene Scharfsinn ergründen?« |167
»Was für ein unergründliches etwas ein Mensch doch ist!« |396
»Doch kann man nicht auch aufrichtig falsch liegen? Mit anderen Worten: falsch liegen, ohne es zu wissen?« |445
»Menschen belügen sich selbst. Die ganze Zeit über belügen Menschen sich selbst.« |446

Die ingeniose Witwe Touchet, die im Haushalt des sich selbst für virtuos haltenden Schriftstellers Aintsworth untergekommen ist, bildet das Zentrum des historischen Romans von Zadie Smith, der in der viktorianischen Zeit angesiedelt ist. Ihre sich über Jahre erstreckende Suche nach gerechter Wahrheit und ihr Finden der vielen Schichten von »Betrug«, eingeschränkten Perspektiven und Selbsttäuschung umspannen den sich auf 500 Seiten erstreckenden Roman, dessen Figuren aus realhistorischen Vorbildern erschaffen wurden.

Was umfasst den »Betrug«? Die Liebschaften der Hauptfigur Eliza Touchet? Das Geheimnis ihres verstorbenen Mannes? Die Leidenschaften ihres Cousins Aintworth? Ihr Begehren für seine erste Frau Frances? Das Suchen von Geschichten, das Klauen von Romanideen, das Romanschreiben selbst? Die Intrigen und Eitelkeiten der feinen Gesellschaft, die Freundschaft lobt und Loyalitäten löst? Der soziale Aufstieg von Sarah, der zweiten Frau Aintsworths? Die Behauptung eines nahezu offensichtlich aus der Unterschicht stammenden Mannes, der verschollene Sohn der wohlhabenden Lady Tichborne und damit ihr Erbe zu sein? Die leidenschaftliche Verfolgung des Tichborne-Prozesses der Massen, der Wunsch "den Oberen" eins auszuwischen? Der Glaube an die Wahrheit des klar und direkt auftretenden Mr. Bogle, der ein Sklave war und nun an "Tichbornes" Seite für eine Gerechtigkeit kämpft? Die Sehnsucht nach Verbundenheit mit Mr. Bogle? Der Profit von- und der Kampf gegen Sklaverei? Der Kolonialismus, der abseits der Insel stattfindet und alles durchdringt?
Dass er den Reichtum der Oberen begründet, auch derjenigen, die für den Abolismus kämpfen, löst sich auch nicht auf, wenn geschwiegen oder eine Witwenrente nicht abgerufen wird.

»Betrug« ist mit gewohntem Tempo und Witz geschrieben. Die Kapitel sind kurz, die vielen Figuren und Szenerien springen, auch in den Zeiten, was manchmal verwirrt, aber stets in souveränen Fäden wieder auf den Kern der Geschichte geführt wird. Aussparungen und das Einstreuen von Zusammenhängen reichern bis in die heutige Zeit erstreckende Diskurse über Reichtum, Erbschaften, Kolonialismus, Rassismus, Class, Gender, Allyship und Othering an, ohne platt, direkt anklagend oder diskutabel zu sein. Smith arbeitet mit wachsenden Erkenntnissen einer komplexen Weißen wohlhabenden Frauenfigur, ihrem fragenden Rütteln an Gewisstheiten und stellt ihr das gegenüber, was die Schwarze von Sklaverei geprägte Männerfigur Mr. Bogle preisgeben möchte. Smith mutet den Leser:innen eine Nichtlinearität von Geschichten, Lebensläufen, Perspektiven und Positionen zu, die eine romantisch-eindeutige Lesart unterwandert. Jede der vielen Figuren ist mit Bedacht gewählt, zeigt sich in vielschichtigen Facetten, wie die erst dumm und naiv erscheinende Sarah, der manchmal einfältig, manchmal klug erscheinende Ainthsworth, der Stolz und Klugheit ausstrahlende Mr. Bogle und sein ebenso stolzer und kluger Sohn, der das wohltätige Weiße Mitgefühl von sich weist, oder die zentrale Randfigur Charles Dickens, der stets sich selbst im Blick behält und aus einer vampirischen Beobachtungsgabe schöpfen kann. Auch stilistisch erinnerte mich »Betrug« an Dickens, besonders in der Beschreibung der armen Viertel von London, soweit das durch die Übersetzung hindurch beurteilbar ist. Aber ohne seine Moral von Gut und Böse. Ich revidiere mich, denn genauer betrachtet, ist »Betrug« voll von Moral, in einer Smithschen Provinienz, modern, sich niemals sicher seiend, vielschichtig und voller Fallstricke.

Bewertung vom 10.12.2023
Ich?
Flamm, Peter

Ich?


ausgezeichnet

»ɴɪᴄʜᴛ ɪᴄʜ, meine Herren Richter, ein Toter spricht aus meinem Mund. Nicht ich stehe hier, nicht mein Arm, der sich hebt, nicht mein Haar, das weiß geworden, nicht meine Tat, nicht meine Tat.« |5

Mit diesen Worten beginnt eine Konfession eines Angeklagten, die sich in einem verzweifelten Monolog über 120 Seiten ergießt. Wer geständig ist und was gestanden wird, bleibt schwankend. Unscharf ist der Bericht vom ersten Weltkrieg, von Gewalt, die durchbricht, von Isolation, dem Versuch der Liebe, der Normalität, von der erkennenden und heilenden Kraft eines Hundes und der Aussichtslosigkeit der menschlichen Existenz.
Der Proletarier Bettuch klaut dem gefallenen Berliner Chirurgen Stern seinen Ausweis und kehrt in dessen Leben ein. Möglich ist auch, dass Stern zurückkehrt, verändert, entfremdet vom alten Ich. Dass er imaginiert ein Anderer zu sein, der nicht mit seinen Fehltritten in der Vorkriegszeit in Verbindung steht. Der Geständige wandert hinein und hinaus aus dem Ich, wird meist erkannt und oft gezogen von den Motiven der Anderen. Gewalt, Begehren und Verantwortlichkeiten schwappen hoch, werden mit Hilfe des allgegenwärtigen Hundes besänftigt und befeuert, bis der Druck von außen und innen so groß wird, dass er einen Meineid begeht, sich auf eine Reise begibt, mordet und sich auf der innerlichen oder äußerlichen Anklagebank wiederfindet.
Seine ruhelosen Ausführungen über den Hergang, den Sinn, die Triebe und das abhanden gekommene Gewissen bleiben in ihrem Versuch der Aufrichtigkeit diffus, rastlos, vergessend, vermischend und lösen sich auf. Sie sind mit Freuds »seelischen Röntgenbildern« |142 gemalt und lesen sich existentialistisch.

1926 veröffentlichte der publizierende Mediziner Erich Mosse unter dem Pseudonym Peter Flamm sein beachtetes Debüt »Ich?« bei S. Fischer, bevor er aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1933 zunächst nach Paris, dann nach New York emigrierte. Dort praktizierte er als Psychotherapeut und Psychiater. Zu seinen Patienten zählte u.a. William Falkner, zu seinem Bekanntenkreis Einstein und Chaplin.

Seine bemerkenswerte, vielschichtige und konfrontierende Rede von 1959 bei einem internationalen PEN Kongress in Frankfurt am Main hat der Verlag in die Neuveröffentlichung integriert. Hier thematisiert Flamm|Mosse sein Verhältnis zu Deutschland mit allen Ambivalenzen und Schichten, auch des Schmerzes und der ihm lebenswichtigen Abwehr des Unbewussten. Er betont die auch in seinem Roman »Ich? « verhandelte konstruktive Funktion des "Vergessens" und seine Motivation zu verstehen, das er dem Verurteilen vorziehe.
»Man wirft über Bord, was stört – soweit das möglich ist. Noch einmal denn: je n'accuse personne! Psychiatrie hat mich gelehrt zu verstehen, nicht zu richten.« |140
Das Nachwort von Senthuran Varatharajah fokussiert die sprachliche und metaphorische Tiefe des lesenswerten Werkes, das sich abgesehen von der subtilen Gewalt gegen Frauen und ihrer in meinen Augen mitunter unerträglichen Objekthaftigkeit sehr gegenwärtig liest. Ich empfehle die Lektüre trotz dieser Einschränkung sehr.

Bewertung vom 10.12.2023
Irgendetwas dazwischen
Kennel, Odile

Irgendetwas dazwischen


ausgezeichnet

»Irgendetwas Dazwischen« liegt zwischen Sex und Text, zwischen den Altern, den Straßen, den U-Bahnen, den Betten und den Körpern. Zwischen Sprachen, Formen, Orten, binären Bildern von Weiblichkeit und ihrer Negierung, zwischen der Lust auf und der Liebe zu Frauen, Männern und sich selbst.
Wo gegenwärtliche Lyrik der Vergangenheit sich oft von Kitsch abzugrenzen versuchte, die Liebe, den Kummer in ihr mied, Lust, Körperlichkeit, die Verletzlichkeit darin umschiffte, sucht »Irgendetwas Dazwischen« genau diese Inhalte auf.
Gegen Regeln will »Irgendetwas Dazwischen«. Es liest sich wie ein Tagebuch, ein gekonntes. Es ist Essay, illustrierte Kunst, Lyrik und Prosa. Kennels Gedichte folgen und beziehen sich aufeinander, auch ein Spannungsbogen ist zu finden und - obwohl andersherum gelesen- liegen die Gedanken des Essays »Lust« in einem Vorraum von »Irgendetwas Dazwischen«.

Bewertung vom 10.12.2023
Die liegende Frau
Vogt, Laura

Die liegende Frau


sehr gut

»Nora liegt da, als wäre sie eine Attrappe, und sie selbst ist sonst wo, weit weg; ich fühle mich wie gelähmt. Bleibe einen Moment so stehen. Setze mich dann neben die Matratze auf dem Boden.« |31

Anstatt mit ihren Freundinnen Szibilla und Romi nach Berlin zu verreisen, hat Nora sich hingelegt und schweigt fast den ganzen Roman. Widerstereitende Gefühle zwischen ihrer Mutter Anni und ihr hängen in der Luft und trotzdem ist die um die 30jährige Nora in ihr beklemmendes Jugendzimmer zurück. Hätte Anni Nora besser nicht bekommen sollen? Hätte sie die Freiheit gehabt, das zu entscheiden?
Vier Tage verhandelt der multiperspektivische selbstgespräch- und dialogreiche Debattenroman, in dem vorrangig Szibilla und Romi mit sich selbst und miteinander ringen. Sie reisen zur liegenden Nora und verfangen sich in Diskussionen. Szibilla verteidigt Théophile de Girauds Thesen zum Antinatalismus und Klima. Der zum zweiten Mal schwangeren Romi wirft sie das sich abhängig machen, Vernachlässigung ihrer selbst und der Umwelt vor. Über ihre Einsamkeit, Bindungswünsche und - Ängste schweigt sie lieber, auch wenn sie sich entwickelt und sogar verliebt. Romi verteidigt ihre Suche nach einer Öffnung ihrer Beziehung. Sie sucht nach neuen Modellen, in denen, anders als bei ihren Eltern, auch eine neue Liebe Platz findet. Innerlich hadert sie mit ihren Eltern, mit dem Umzug in die Provinz, dem Wunsch auszubrechen und zu schreiben.

Mitunter wirkt die Konstellation der »Liegenden Frau« sehr absichtsvoll. Der in seinen Brüchen gezeichnete Versuch, Fragen der Lebensentwürfe kategorisch zu verhandeln, strengte an. Doch erscheint mir genau das typisch für die verhandelte Lebensphase, in der sich die Ahnung einschleicht, dass Weichen des Lebens gestellt worden sind, Freiheiten und Verantwortlichkeiten sich setzen, Themen der Eltern nahekommen und nach neuen Wege gesucht wird.

Bewertung vom 22.11.2023
Minihorror
Markovic, Barbi

Minihorror


ausgezeichnet

Mini und Miki in ihren alltäglichen und immer wieder ins Absurde reinschlitternden Dialogen machen Spaß. Sie haben Angst, Angst und Angst, und das ist verständlich. Sie treffen eine fleischfressende Cousine, haben Spaß wie ein Paar in der Werbung, denken an Roxette, eine deutsche Camperin aus der Kindheit, an Bettwanzen, Ikea, regen sich würdevoll auf, geben Kopfnuss, treffen einen flüchtigen Freund, der tot ist, sind sich des eigenen Todes nicht sicher, erleben Chaos und Würgereiz, begegnen Staub, sind im Haus nebenan, beschäftigen sich mit unerwünschten kriechenden Mitbewohner:innen, Gurkenfliegern, trennen sich, weinen im Shared-Office-Space, finden ein großes Plüscheinhorn, suchen Kitzelmonster, essen drei Snickers am Tag, schließen sich einer obstessenden Gruppe mit Sendebewußtsein an, werden von einer Frau in Barfußschuhen behelligt und sehen aus wie ein 13jähriger Hund... Also, nicht immer beide.

Wie Humor noch beschreiben? Minihorror von Barbi Marković trifft meinen. Ich zeranalysiere mal nicht, denn der Humor funktioniert so gut, da Marković genau an den richtigen Stellen ertappt und zuspitzt. Ich musste beim Lesen lächeln, laut auflachen und weiterlesen, fast an einem Stück und nun wünsche mir dringend eine Fortsetzung. Nein, ich brauche sie.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.11.2023
Das Wetter Buch für Text und Musik

Das Wetter Buch für Text und Musik


ausgezeichnet

Das Wetter feiert mit »Das Wetter Buch« Das Wetter... Spannend ist dieses Magazin für Text & Musik, das den Anachronismus schafft. Musikjournalismus findet fast nicht mehr statt im Print, abgesehen von einigen Nischen im klassischen Feuilleton der großen Zeitungen, aber wer liest das nochmal? Klar, es gibt noch ein paar andere Magazine und vieles verlagert sich ins Netz, verbubbelt sich und verhindert damit einen geweiteten Blick auf die Gegenwart und Popkultur. Gibt es das eigentlich, 𝑑𝑖𝑒 Gegenwart, 𝑑𝑖𝑒 Popkultur? Wenn dich sowas interessiert, bei den vielfältigen mit Herz, Energie und Integrität verfassten Beiträgen in »Das Wetter« wirst du fündig und einiges für Literaturaffine ist auch zu finden.

»Das Wetter« gründete sich vor 10 Jahren, mitten in einer Zeit, in der das Gejammer groß schien, das Sterben des Prints in aller Munde war und es hat sich trotzdem etabliert. Jedem Trend wohnt ein Gegentrend inne, denn so ganz stimmt diese Erzählung auch nicht, gab es in der Gründungszeit nicht einen Boom der spezialisierten Zeitschriften? Egal, zehn Jahre sind trotzdem beachtlich, »Das Wetter« ist toll und das hat sich herumgesprochen, soweit sogar, dass das Feuilleton kommentiert und fischt, dass Kiwi zum Zehnjährigen »Das Wetter-Buch« herausgibt, das Sound und Vielfalt des Magazins in Form, Genres und Stimmen einfängt.

Gern hab ich die Stücke und Einblicke gelesen. Das zu einer Erzählung vearbeitete missglückte Interview mit Taktlo$$ ist mir besonders im Gedächtnis, das Interview mit Maxim Biller mir das liebste Stück. Es versöhnt mich mit ihm, ich nehm ihm Esra noch übel... Kracht und Sebastian Hotz, das ist eher gähn... Dafür mag ich Lin Hierse für den Satz »Ehrliche Arbeit ist eine Erfindung reicher Leute«, Jovana Reisinger für »Gespräche waren Unfälle«, Charlotte Kraft für »Hyperironie«. Korbinian, eh..., wahrgenommen hab ich den dem Magazin nahen Verlag natürlich schon, aber es wird Zeit, auch mal ein Korbinianbuch zu lesen. Meine Begeisterung für die Intensität eines Senthuran Varatharajahs muss ich nicht betonen. Beim Lesen beschleicht mich auch der Gedanke, ein Buch zu einem Magazin? Besiegelt das nicht sein Ende?
Oder ist es Teil einer Transformation? Ich bin gespannt, wie sich »Das Wetter« weiter entwickelt, ein Good Ager wird es, so mein Gefühl.

Bewertung vom 19.11.2023
Mutter (Ein Gemurmel)
Zambreno, Kate

Mutter (Ein Gemurmel)


ausgezeichnet

»Meine Mutter ist der Text. Ich kann sie nicht betreten.« |34

»DIE GESCHICHTE MEINES LEBENS IST DIE GESCHICHTE DES LEBENS MEINER MUTTER. Eine zwanghafte Autobiographie, eine unmögliche Geschichte. Schachteln voller Schnipsel, Entwürfe, Versuche.« |39

»Mutter (ein Gemurmel)« ist das erste in Deutsch übersetzte Werk der in Amerika etablierten New Yorker Autorin Zambreno, die bereits neun Bücher davor veröffentlichte. Mit den entliehenen Texten und der Kunst Anderer, etwa Roland Barthes, Dickinson, Kafka, Woolf, Henry Derger oder Louise Bourgeouis, spinnt Zambrano essayistische Passagen. Hinzu dichtet, verdichtet und verliert sie ihre Repräsentanz von Mutter.
Zwanzig Jahre braucht das Schreiben an Zambrenos Muttertext, in dem sie sich einer verinnerlichten Frau annähert, die sie nicht mehr fragen kann, denn der »prägende Umstand meines Lebens ist es, dass meine Mutter tot ist.« |39. Früh ist Mutter gestorben, mit Veröffentlichung von »Mutter (ein Gemurmel)« befreit sich Zambreno von den Muttergeistern und der drängenden Sehnsucht nach inniger Verbundenheit mit dem Mutterlaib. Sie nabelt ihren Muttertext ab und legt ihn mit Lücken, Fragen und Offenheit vor. Stets bleibt beim Aufnehmen des Textes Luft für eigene Gefühle, Erfahrungen und Gedanken zu Mutter in Nähe und Trennung.
»Mutter (ein Gemurmel)« ist ein lyrischer, fragiler, sich überdenkender, essayistischer nichtlinearer Trauertext, der sucht, auffindet und auf Schranken stößt, die er zu akzeptieren lernt. Er könnte nicht besser zum AKI-Verlag passen mit seiner Liebe zu Sprache, Details und Grenzgängen zwischen den Genres und Disziplinen.

Bewertung vom 19.11.2023
Quallen haben keine Ohren
Rosenfeld, Adèle

Quallen haben keine Ohren


ausgezeichnet

»An der Kasse verstand ich "Bulgur" oder "Burur" . "Sie (𝑅𝑎𝑢𝑠𝑐ℎ𝑒𝑛), oder?", 1x sagte ich "ja", ohne zu verstehen, 2x sagte ich "nein", ohne zu verstehen, 3x sagte ich "ich weiß nicht", ohne zu verstehen. Die Stimmung wurde angespannter, ich zahlte und wir gingen verärgert auseinander, der Kassierer und ich.« |29

Louise weiß noch nicht, was sie will, was sie kann, wie sie sich sieht und wo sie hingehört. Bisher schaffte sie es, mit ihrem schlechten Gehör unter dem Radar zu bleiben. Doch nun entsteht Handlungsdruck, ihr Gehör droht ganz zu verschwinden. Fürs Erste zieht es Louise in poetisch aufgeladene Zwischenwelten. Sie beschäftigt sich dort mit dem Hören, mit der Stille, mit dem Licht und mit der Dunkelheit. Zwanghaft versammelt sie die sich verlierenden Töne in einem Klangherbarium. Ein Hund erscheint ihr und begleitet sie treu. Ein Soldat, leidenschaftlich vereinnahmend, nüchtern, operativ planend und schlussfolgernd, kommt ihr immer wieder. Etwas entfernter gesellt sich eine Botanikerin dazu, sie blickt verdächtig begehlich auf den Soldaten und er blickt zurück.
Doch auch die Außenwelt dringt durch. Im Job wird Louise ins Untergeschoss beordert, ins Sterbeurkundenarchiv, das ist nicht die letzte Station ihrer Verdrängung. Ein Cochlea-Implantat steht im Raum. Es könnte ein neues Hören in anderer Qualität ermöglichen, doch ob es klappt oder nicht, ihr Restgehör müsste dafür sterben. Ihre Freundin lehnt das Implantat ab, denn sie braucht eine Komplizin in der Zwischenwelt. Louisas neuer Freund und ihre besitzergreifende Mutter möchten sie auf die Seite der Hörenden zerren, sie reden die Operation herbei. Begegnungen mit anderen Betroffenen wecken Hoffnungen, doch auch hier dockt sie nicht an, sie findet nur Differenzen um Differenzen.

Das Passing eines Menschen von kaum wahrnehmbaren Beeinträchtigungen zur sichtbaren Schwerhörigkeit mit drohender Taubheit vollzieht die Protagonistin naiv schwebend zwischen allem und für sich.

Wie die Welt mit ihr umgeht oder gerade dies versucht zu vermeiden, erschließt sich, ebenso die Möglichkeiten vom Verstecken, von Implantaten, Hilfsmitteln und Anpassungen, vom Eintreten in die Gebärdenwelt und dem Entgleiten in innere isolierte Traumwelten.
Sprachlich driftet Rosenfelds Debüt von Prosa in fragmentarisch, von fragmentarisch in einen Berichtstil, vom nüchtern betrachtenden Berichtstil in eine fließend-überbordende Traumwelt mit von Synästhesie gespickter Ästhetik, vom Bewussten, ins Vorbewusste und bereit für den Abstieg in unbewusste Sphären. »Quallen haben keine Ohren« ist ein starkes Debüt, das auch in der sicherlich herausfordernden Übersetzung von Nicola Denis hervorragend funktioniert. Es stand auf der Shortlist des Prix Goncourt du Premier Roman und wurde 2022 ausgezeichnet mit dem Prix Fénéon.

Bewertung vom 19.11.2023
Brief vom Vater
Kögl, Gabriele

Brief vom Vater


ausgezeichnet

»Er hat sich einen Plastiksack über den Kopf gezogen, sagte der Feuerwehrhauptmann. Rosa wollte ihn nicht sehen, und der Feuerwehrhauptmann sagte auch, es sei besser so. Ein schöner Anblick sei es nicht. Rosa blieb draußen stehen, vor der aufgebrochenen Tür. Ob es ein Unfall gewesen sei, fragte sie. Sie können besser damit leben, wenn es ein Unfall gewesen wäre.« |7

Mit einem Knall steigt der leise und melancholische Töne anschlagende Roman »Brief vom Vater« ein. Der Sohn der Protagonistin Rosa hat sich wahrscheinlich das Leben genommen, in der Hand einen Brief seines Vaters, der sich ebenfalls das Leben nahm. Dabei hatte Rosa immer gehofft auf das gute Leben. Sie hat sich bewegt innerhalb der Möglichkeiten, die ihre Kleinstadt einer Friseurin bietet und nun ist es so gekommen. Sie lebt allein in dem Haus, das heruntergekommen ist, wie ihr Leben, in einer Kleinstadt, die verwaist, wie sie.

Lakonisch-nüchtern setzt die Figur Rosa an, ihre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, nach der im Ort, abgesehen von, "hast du schon gehört, die alte..." niemand genau fragt. Ihr erster Mann Sigi, attraktiver Schützenkönig, weckte alle Hoffnungen auf ein gutes aufregendes Leben und den Aufstieg. Doch ist er stumpf, um den gemeinsamen Sohn kümmert er sich weniger, als um den Fussball, im Fernsehen, während sie alle Arbeit macht. Im Friseursalon wird Rosa umworben von Männern von Welt. Und als der von seiner Frau verlassene Drogerist Klaus um sie wirbt, lässt sie sich ein. Endlich ist sie wer, darf Teil der Eliten der Kleinstadt sein, auch wenn ein Preis zu zahlen ist. Weit entfernt die anderen Frauen, besitzergreifend und einengend der Mann und seine Freunde begrapschen die im Vergleich viel jüngere Frau, als wäre sie Ware. Und ihr Sohn Severin muss nehmen, was ihm gelassen wird, geduldet von Klaus, von Klaus Kindern drangsaliert und vom Vater übersehen, vom Vater immer übersehen, der seiner neuen Familie und seinem neuen Sohn alle Liebe zu schenken scheint.

Kögl schafft es, dieser tragischen Konstellation Lockerheit, Witz und einen liebevollen Blick hinzuzufügen, wie es der österreichischen
⤵️⤵️⤵️⤵️⤵️
... Erzähltradition innewohnen zu scheint. Die Sprache wirkt einfach, der Blick ist direkt und nüchtern. Die Fäden der Themen sind locker gespannt, so dass sich in eigenen Gedanken der ganze Raum der Geschichte und ihrer gesellschaftlichen Bezüge entfaltet.
Der Wandel der steierischen Kleinstadt dient als Spiegel des Werdegangs der Figur Rosa und die Figur Rosa dient als Spiegel für den Wandel der Kleinstadt. Lebhaft und hoffnungsvoll im Beginn, hat alles seinen Platz, es gibt unten und oben. Eine attraktive Frau von unten scheint diese Grenzen überwinden zu können, doch sie wird sich stoßen und Anstoß nehmen. Sie kann sich unterordnen oder gleich Schaden nehmen und auch in der Unterordnung wird der Schaden sie einholen. Die Grenzen und der Kern des Oben verändert sich, manche Eliten kommen mit dem Wandel mit, andere bleiben auf der Strecke, wie Klaus, dessen Drogerie in der Innenstadt der Konkurrenz des Einkaufszentrums nicht standhalten kann. Und schließlich ist es vorbei, der anspruchslose Siggi doppelt verlassen und tot, der Drogerist Klaus gefallen und tot, der Sohn Serverin, der seinen Platz nie fand, tot und Rosa bleibt, überlebend. Sie erscheint nicht mehr hoffnungsvoll, nicht mehr attraktiv, sondern leer, wie das heutige Zentrum vieler sterbender Innenstädte. Sehr lesenswert und mit Sicherheit nicht mein letzter Roman der Autorin.

Bewertung vom 19.11.2023
Reisehandbuch Europa mit dem Zug
Ruch, Cindy;Reisedepeschen

Reisehandbuch Europa mit dem Zug


ausgezeichnet

»Mit der Bahn kommt ihr klimafreundlich und entspannt durch Europa...Dieses Reisehandbuch zeigt euch die schönsten Zugfahrten und die Streckennetze von 43 Ländern in Europa und wie ihr von Deutschland, Österreich und der Schweiz dorthin gelangt.«

Dieses Jahr hab ich alles mit der Bahn gemacht. Gerade in Deutschland lief es selten wie geplant, was meist gelang, mit Gleichmut hinzunehmen. Zu schön war es, aus dem Fenster zu schauen, ins Buch, okay, ins Telefon auch und so einige Szenen und Versatzstücke anderer Menschen mitzubekommen. Und ich mag die Idee, einfach einzusteigen, ohne festen Plan. Ziele hatte ich oder meine Mitreisenden schon, doch solltet ihr so unorganisiert sein wie ich, geplante Routen sind schon hilfreich. Es empfiehlt sich zum Beispiel nicht in den Niederlanden in den Sprinter statt in den gebuchten IC zu steigen. Mit Zugbindung sind sie in den Niederlanden entspannt, nur ist der Sprinter der Bummelzug und hat meine Reise fast mit einer Übernachtung im verregneten Groningen enden lassen. Vor meiner Verpeiltheit hätte mich »Europa mit dem Zug« vielleicht retten können, ebenso vor Buchungschaos des Nachtzuges nach Bern; dass der Schlafwagen dann einfach ausfiel, ist eine andere Geschichte.

In »Europa mit dem Zug« werde ich nun immer als erstes schauen, ob ich ein Rad mitnehme, mit anderen reise, lange Strecken, kurze Strecken, ob es eine gute Idee ist, nach Dänemark oder Schweden mit den Zug zu fahren, oder wieder in die Schweiz, nach Italien weiter, nach Österreich, nach Belgien, nach Frankreich, in die Niederlande, alles erscheint durch »Europa mit dem Zug« übersichtlich und gut machbar. Ich bekomme Hinweise auch schöne Strecken, Buchungstipps und eine Vorstellung über Zeiten und Kosten. Auch was eher nicht gut erschlossen ist, erfahre ich. Russland, Belarus, Ukraine, sind auch aus bekannten Gründen derzeit keine gute Idee, aber auch Südosteuropa ist eher schwierig mit dem Zug. Nach Serbien hatte ich tatsächlich schon geschaut und beschlossen, nein das ist so gut wie nicht möglich. »Europa mit dem Zug« passt wunderbar als Coffeetablebook, oder als Toilettenbuch, den es macht einfach Lust auf das Reisen und inspiriert zu neuen Ideen.