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ninchenpinchen
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Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 85 Bewertungen
Bewertung vom 18.08.2023
Nichts in den Pflanzen
Haddada, Nora

Nichts in den Pflanzen


schlecht

Wirr und unausgegoren

Bis Seite 169 bin ich gekommen, dann habe ich endgültig aufgegeben. Schade um die Zeit, wo so viele – sicher lesenswertere – Romane auf mich warten. Ich begreife nicht, warum Ecco dieses Machwerk unter seine Fittiche genommen hat. Denn Ecco hat so viele wunderbare Romane veröffentlicht, an dieser Stelle seien nur „Was wir wollen“ von Meg Mason genannt oder von Katja Kettu „Die Unbezwingbare“, die ich beide mit dem allergrößten Vergnügen gelesen habe.

Aber, um was geht es hier? Die Protagonistin Leila treibt sich in verschiedenen Kneipen herum, trinkt Modegetränke und davon reichlich, wie z. B. Espresso Martini, und im Suff wird dann wirres Zeug von sich gegeben, dem man – ich zumindest – nicht folgen kann. Die Zeiten sind so durcheinander gewürfelt wie die Liebhaber, manchmal sind bei den sexuellen Spielchen auch Frauen dabei. Hin und wieder wird dann noch das Puzzleteil „Klimawandel“ in die ständig betrunkene Sippschaft geworfen, muss ja heutzutage wohl so sein.

Leila jedenfalls hat eine Schreibblockade, die Autorin Nora Haddada hatte sie wohl auch, ansonsten wäre sicher nicht so ein wirres Geschreibsel dabei herausgekommen. Dem kann ich absolut nichts abgewinnen und muss dann leider anmerken, dass ich von so jungen Autoren nichts mehr lesen werde, auch wenn ich – möglicherweise – dem einen oder anderen damit Unrecht tue. Ich habe mich buchstäblich durch die Seiten gequält, bis ich dann beschlossen habe, endgültig abzubrechen. Auch eine Struktur fehlte völlig. Denn nur andauernde Schreibblockaden, surrealistisch verunglückte Fliegen und Alkoholkonsum mit wirrem Gelaber sind für mich kein roter Faden.

Der Anfang, bzw. die Leseprobe, war ja noch ganz spannend. Aber mit der Zeit hat mich nicht mal mehr interessiert, warum denn dieses unschuldige Katzentier dran glauben musste. Vermutlich, um dem armen Herrchen eins auszuwischen, warum auch immer.

Fazit: Ein unerträgliches, wirres Geschreibsel, dem ich weder folgen, noch dass mich irgendwie abholen konnte. Mögliche surrealistische Anleihen à la David Lynch (hier die Fliegen …) sind gründlichst danebengegangen. NEIN DANKE.

Bewertung vom 06.08.2023
Scurry 1
Smith, Mac

Scurry 1


ausgezeichnet

Die große Not der kleinen Nager

Auf dem entzückenden Cover sehen wir den kleinen Wix im Wald auf einem Totenkopf sitzen. Im Hintergrund lauert eine unbekannte Gefahr. Der süße Wix mit seinem gespaltenen Öhrchen ist im ersten Teil „Anhaltendes Licht“ mit seinem Rattenfreund Umf auf der Suche nach Futter.

Im Haus, das leider von den Menschen verlassen wurde (denn bei den Menschen ist immer viel Nahrung zu finden), wartet der Rest der Bande auf die Heimkehr des Duos. Natürlich in der Hoffnung, dass die Zwei mit gefüllten Futtertaschen zurückkehren. Aber es gibt nicht viel, leider.

Im zweiten Teil „Bestien des Winters“ beratschlagen die Hausmäuse, wie sie an Futter kommen sollen, denn die Vorräte gehen zur Neige. Und sie erwarten die Heimkehr von Umf und Wix. Ich möchte hier nicht viel mehr vom Inhalt verraten, außer, dass es weitere Protagonisten gibt, die eine Hauptrolle spielen: Die junge Pict, eine niedliche weiße Maus mit heilen Öhrchen, und ihr betagter Vater Orim, der sich nur mit Hilfe eines Stocks fortbewegen kann.

Wie in jeder häuslichen Wohngemeinschaft gibt es auch hier Zank und Streit, Verrat und schlimme Gemeinheiten. Draußen lauern die zahlreichen Feinde, und das sind nicht nur äußerst blutrünstige Katzen.

Das Ganze ist so zauberhaft in Szene gesetzt, dass man sich kaum vorstellen kann, dass ein einzelner Mensch so bravourös zeichnen kann. In der Galerie am Ende sehen wir noch einmal detailliert die vielen Figuren und ihre ganzen Feinde.

Fazit: Höchst verdiente 5 Sterne für diese wunderbare Graphic Novel mit dem verheißungsvollen Ausblick des kleinen Wix. Hier stimmt jedes noch so kleine Detail und ich habe allergrößten Respekt vor so viel Können.

Bewertung vom 04.08.2023
Nachts erzähle ich dir alles
Landsteiner, Anika

Nachts erzähle ich dir alles


weniger gut

Lesbisch, was sonst?

Tja, was hatte ich erwartet? Von der einen lesbischen Beziehung der Vergangenheit erfuhr ich ja schon in der Leseprobe, von der anderen dann danach, beim „richtigen“ Lesen. Offensichtlich geht es heutzutage nicht mehr ohne. Schade!

Das Cover ist hübsch, Frankreich-Feeling mit Zikadengesang zur Sommerzeit angenehm lässig, aber der Inhalt bietet nicht viel Neues. Da wird es mich wohl bald zu den literarischen Klassikern der Welt hinziehen, denn da bleiben mir (vermutlich meistens) die gleichgeschlechtlichen Beziehungen erspart, die ja gerade politisch so überaus angesagt sind. Damit wir unnützen Esser möglichst keine Kinder mehr kriegen und aus unserer Mitte kommen. Normale, größere Familien sind vielleicht zu stabil im Geiste und durchschauen gemeinschaftlich zu leicht die ganzen Lügengeschichten um uns herum. Könnte schon so sein.

Zum Inhalt: Léa, die Protagonistin, braucht mal eine Arbeitspause von ihrem Café in München. Sie möchte ihre Auszeit im Familienanwesen an der Côte d’Azur verbringen. Doch aus der geplanten Faulenzerei wird nichts, denn gleich am ersten Abend lernt Léa das Mädchen Alice kennen, die uneingeladen auf dem Grundstück auftaucht. Als Alice plötzlich zu Tode kommt, erscheint dann einige Zeit später ihr Bruder Émile auf der Bildfläche. Diese Konstellation hätte nun reichlich Potenzial geboten, das leider nicht ausgeschöpft wurde. Schade, denn auch das hoch-interessante Leben von Émile in Paris wäre ausbaufähig gewesen. Stattdessen langweilt dann ab der Mitte der ewige Besuch von Léas Mutter Brigitte und die Auffrischung ihrer Beziehung zur frühen französischen Freundin Claire, die sich in Abwesenheit der Kleinfamilie auch ums Haus kümmert.

Claire zu Léa auf Seite 296: „[…] Deshalb fühlt sich die Liebe so oft nach Verlust an. Nach Angst und Enttäuschung, nach Verrat und Betrug. Wie nehmen dieses opulente Gefühl, und packen es in unsere kleine egoistische Erwartungshaltung. Und wenn es dann nicht besteht, wenn wir nicht zurückgeliebt werden, schmeißen wir es aus dem Fenster. Die wenigsten wollen lieben. Aber alle wollen geliebt werden.“

Der Zusammenhang der Playlist vom Anfang mit diesem Roman hat sich mir so gar nicht erschlossen. Einzig Elton Johns „Your Song“ wird zum Ende hin gelegentlich angehört. Dazu den Neusprech: „gebärende Menschen“ statt „Mütter“ im Dankeskapitel fand ich auch voll daneben. Hat AL diese Gaga-Sprache etwa aus der Tagesschau? Die mehr oder weniger positive Erwähnung der Verbrecherorganisation WHO hat m. E. nach auch nichts in Belletristik zu suchen. (S. 200)

Fazit: Seltsam blass und unentschlossen wirkt die Protagonistin Léa. Ich konnte mit ihr wenig anfangen. Da helfen die eingeschobenen Briefe von Claire an Léa auch nicht weiter. Also: Trotz gefällig-nettem Schreibstil und schön-buntem Cover für mich eine herbe Enttäuschung. Ich runde 1,5 Sterne auf 2 auf.

Bewertung vom 02.08.2023
Das Feuer retten
Arriaga, Guillermo

Das Feuer retten


ausgezeichnet

Brachial gut

Wow, was für ein Buch! Guillermo Arriaga kennt sich aus und schafft es tatsächlich über – sage und schreibe – 800 Seiten den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten und sich immer wieder etwas Neues einfallen zu lassen. Und das Ganze mit einem sehr ungewöhnlichen Schreibstil, zumindest mutet es in der Übersetzung aus dem Spanischen so an. OT „Salvar el fuego“. Ich habe fünfzehn farbige Klebchen (Pagemarker) reingepackt, aber bevor ich die durchgehe, möchte ich kurz zum Inhalt kommen.

Die Protagonistin Marina, die einzig in der Ich-Form erzählt, ist Tänzerin und Choreografin, hat drei Kinder und einen verständnisvollen, vermögenden Mann, Claudio, und reichlich Hauspersonal in Mexiko-Stadt. Ihr gehört eine Tanzschule: „Danzamantes“ und sie ist ständig auf der Suche nach ungewöhnlichen Choreografien. „Es [gemeint ist hier Chan Chan] war das Lieblingslied der Truppe, seit wir eine Choreografie zu der Wahnsinnsversion von Compay Segundo auf die Bühne gebracht hatten.“ (S. 173)

Die männliche Hauptfigur des Romans heißt José Cuauhtémoc, oft kurz als JC bezeichnet, ein großer blonder Indio, zu fünfzig Jahren Knast verurteilt wegen mehrfachen Mordes und er sitzt ein im „Reclusio Oriente“. „Der Mann hatte Gesichtszüge wie der Schauspieler >Indio< Fernandez, nur in blond. Seine Physiognomie eines aztekischen Fürsten passte irgendwie nicht zu seiner Wikingermähne und seiner imposanten Statur.“ (S. 174) Schade, dass es kein Hörbuch gibt, denn ich hätte gern gewusst, wie man JCs Namen richtig ausspricht. JC mag auf jeden Fall die Gute-Laune-Music von Celso Piña. (S. 115)

Eines Tages beschließt Marina mit ihrer Tanztruppe im Gefängnis aufzutreten und mehrere ihrer reichen und einflussreichen Freunde unterstützen dieses Vorhaben. Zusätzlich gibt es eine Schreibwerkstatt im Knast, zwei Mal pro Woche, die ein weiterer Freund von Marina leitet. Oft ist sie dann auch dabei. Zahlreiche literarische „Knastschriftstücke“, wilde und harte Prosa, bereichern diesen Roman. Sofort erkennbar am Schrifttyp, unterschrieben jeweils vom Häftling soundso, Nummer soundso, samt Dauer der Haftstrafe und wofür.
In Kursivschrift finden wir dann noch aufschlussreiche „Briefe“ von JCs Bruder Francisco, gerichtet an deren ermordeten Vater Ceferino. Dieser war eine intelligente, aber furchtbar grausame Kreatur.

Marina verliebt sich in JC und der Leser fragt sich natürlich, wie diese von JC erwiderte Liebe, die alle Grenzen sprengt, Erfüllung finden kann, zumal JC zu fünfzig Jahren Haft verurteilt wurde. Oder ist jede zufällige Begegnung eine Verabredung? (Frei nach Borges, S. 552)

Hier werden oft die Zeitebenen gewechselt, das bringt unerwartet viel Schwung in die Handlung und stört keineswegs den Lesefluss. Im Gegenteil, so manches Geschehen erhellt sich noch im Nachhinein. Die Blickwinkel der verschiedenen Protagonisten sind ebenfalls leicht erkennbar, es schreiben Marina, JC, etliche Häftlinge vom Reclusio Oriente, z. T. wird das Gefängnispersonal beschrieben und natürlich berichtet Francisco dem toten Ceferino. Der Leser wird an mehrere Seiten der Medaille herangeführt: Das abgehobene Luxusdasein reicher Familien, wie der Longines; das unbeschreibliche Elend im Knast und die Brutalität der rivalisierenden Banden im Außen, samt korrupter Polizei und Behörden. Sprachgewaltig der Stil, oft das Englische in Lautschrift, um innezuhalten. Kein gutes Haar wird an den USA gelassen: „Die Vereinigten Staaten behaupten, sie seien das Land der Freiheit, dabei sind sie in Wirklichkeit das Land der Repression und der eigennützigen Gesetze.“ (S. 450)

Fazit: Diese 800 Seiten vergehen wie im Flug. Wir bekommen nicht nur eine Liebesgeschichte, so intensiv und von einer Wucht, die einen umhaut, wie ich sie noch nie zuvor gelesen habe, sondern wir erleben auch die gegensätzlichsten Welten Mexikos. Angereichert mit den feinsten Literatur- und Musiktipps, die die Latinowelt so zahlreich zu bieten hat. Beispiele Autoren: Álvaro Mutis oder Jorge Luis Borges. Für hartgesottene Leser überaus empfehlenswert. Von mir höchst verdiente 5 Sterne.

Bewertung vom 28.06.2023
Jahrhundertsommer
Grünfelder, Alice

Jahrhundertsommer


sehr gut

Authentisches 60er-Jahre-Gefühl

Die Hauptperson in Alice Grünfelders Roman „Jahrhundertsommer“ ist Magda. Die Geschichte beginnt etwa da, als Magda vierzig ist und geht über weitere vierzig Jahre und endet in Magdas achtzigstem Lebensjahr. Am Anfang unserer Geschichte hat sie schon zwei Kinder: Jürgen und Ursula. Von Jürgen ist aber wenig die Rede, er zieht weg aus dem Dorf und lässt sich nur noch selten blicken. Deshalb bekommt er auch keine Kapitelüberschrift. Magdas „Alter“ verlässt sie für eine Jüngere und obwohl das Fehlverhalten eindeutig auf seiner Seite liegt, muss sie dafür büßen. Im konservativen Dorf Murrheim (ja, hier ist konservativ mal negativ gemeint) wird sie dafür gemieden und geächtet. Noch schlimmer wird’s, als sich Magda mit einem amerikanischen Soldaten einlässt und ein uneheliches Mädchen bekommt: Ellen. John Miller, der Lover, ist da schon über alle Berge.

Magdas Tochter Ursula wird auch früh schwanger, hat aber das zweifelhafte Glück, dass der Erzeuger sie heiratet. Die Ehe ist aber keineswegs glücklich. Das Paar bekommt drei Kinder, aber nur Viktor spielt hier eine Rolle.

Zwar hatte ich mir dieses Buch ganz anders vorgestellt, so als erotische Sommerromanze, bin aber keineswegs enttäuscht, denn AG versteht es hervorragend, den Leser bei der Stange zu halten. Ich habe nur zwölf Tage dafür gebraucht und war keineswegs gelangweilt. Obwohl das Buch eine echte Minuslektüre ist, denn die Protagonisten kommen (fast) nie auf einen grünen Zweig. Auch nicht im Ausland, denn Ellen geht nach Frankreich und später in die Schweiz. Am Ende ist es dann doch wieder Murrheim, auch für Ellen. Die Familienmitglieder sind überaus kreativ und lassen sich alles Mögliche einfallen, um Geld zu verdienen, doch es reicht nie. Bis Viktor eine Idee hat …

AGs Schreibstil ist sehr ungewöhnlich und doch überaus lesbar. So verschluckt sie oft Satzenden, dennoch weiß man immer, was gemeint ist. Beispiel: "Als sie ausstieg, tat sie es schnell, schloss die Autotür leise, damit die Nachbarn." (S. 27) Die Kapitelüberschriften wechseln zwischen Magda, Ursula, Ellen & Viktor. Einen kleinen Logikfehler habe ich entdeckt auf Seite 237. Da geht es um die Zimmer im oberen Stock von Magdas Haus, die nicht leer standen, seit Ursula ausgezogen war, sondern die Magda an ausländische Männer vermietete, um zusätzliches Geld zu verdienen. Nicht nur so setzte sie sich auch über den Dorftratsch hinweg. AG fängt das jeweilige Zeitgefühl brillant ein und alles passt, von Avon bis Nagelstudio.

Fazit: Ich habe „Jahrhundertsommer“ sehr gern gelesen, hatte zwar was anderes erwartet, bin aber nicht enttäuscht. Eine Familiengeschichte, die zwar den Protagonisten viel abverlangt, aber immer wieder mit unerwarteten Wendungen überraschen kann. Vier Sterne ****

Bewertung vom 01.06.2023
Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)
Boyle, T. C.

Blue Skies (deutschsprachige Ausgabe)


gut

Im Terrarium und auch davor

„Blue Skies“: in dieser Satire (jedenfalls halte ich diesen Roman dafür) von T. C. Boyle geht es um Cooper, seine drei jeweiligen Freundinnen und seine Eltern Ottilie & Frank, die alle in Kalifornien wohnen. Ottilie kocht gern und so probiert sie sich gehorsam durch die Haltungsbedingungen vieler frittierbarer Insekten der Welt. In „diesem“ Kalifornien ist es immer heiß, manchmal brennt es, daher das breit lodernde, grell orangefarbene Feuer auf dem Cover.

Der andere Teil der Familie: Coopers Schwester Catherine, genannt Cat, wohnt in Florida, wo es immer regnet, oft stürmt und alles dauernd überschwemmt ist. Eine klimatische Mischung der beiden Bundesstaaten wäre gut, aber das geht ja nun mal leider nicht. Cat ist mit Todd zusammen, einem Bacardi-Repräsentanten und manchmal hat sie Haustiere. Z. B. einen männlichen, sehr freiheitsliebenden, Tigerpython namens Willie, den sie sich um den Hals legt, wenn sie eine Bar aufsucht, was ziemlich oft passiert. Ebenfalls ziemlich oft passiert es, dass Willie aus seinem Terrarium abhaut.

Und weil Todd weder Tierhaare noch Babys mag, hatte Cat nicht viel Auswahl bei ihrer sonstigen Gesellschaft. Denn er selbst ist meistens auf Reisen und feiert weltweit seine ausschweifenden Bacardipartys. Manchmal darf sie mit, aber meistens nicht, denn das wäre doch eher geschäftsschädigend für seine weibliche Bacardi-Fangemeinde.

Dann passiert etwas so Schreckliches, dass der Leser erstmal nach Luft schnappt. Das Kopfkino springt an und lässt einen tagelang nicht wieder los. Leider – oder zum Glück – kann das hier natürlich nicht verraten werden. Durch das Schreckliche ändert sich alles und die Protagonisten sind beschäftigt. Dabei könnte alles doch so schön sein. Wenn man nur die Zeit ein ganz klein wenig zurückdrehen könnte.

Einiges wird uns allerdings hier untergejubelt, z. B. auf S. 151: „Und sie hatten ja auch einen Wagen mit Elektromotor, was den CO2-Ausstoß reduzierte, aber natürlich brauchte so ein Wagen auch ein Kraftwerk, in dem irgendwas verbrannt wurde.“ Und selbstredend ist Cat gegen Covid geimpft und zweimal gegen Varianten geboostert. (S. 150) Zum Schluss, auf Seite 394, dürfen wir dann noch ein Loblied auf die Chemtrails lesen, folgerichtig hätte dann der Himmel auf dem Cover eher weiß als blau sein müssen.

Fazit: Eine bunte Mischung aus zwei amerikanischen Bundesstaaten. Aber Achtung, auch wenn’s wie Satire klingt, so scheint uns doch das Nach-Corona-Narrativ des Klimawandels immer wieder übergebügelt zu werden. Beim dennoch versöhnlichen Ende dürfen wir dann wieder etwas aufatmen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.05.2023
Zwischen Welten
Zeh, Juli;Urban, Simon

Zwischen Welten


sehr gut

Vom digitalen Kannibalismus

In „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban lesen wir einen digitalen Briefwechsel zwischen dem systemkonformen, mainstream-gerichteten Pseudo-Journalisten Stefan und der stetig auf Krawall gebürsteten Bäuerin Theresa. Deren Positionen könnten unterschiedlicher nicht sein und dennoch reicht die alte Freundschaft aus Studentenzeiten fast über 444 Seiten. Bis Theresa die Nase endgültig voll hat und nicht mehr antwortet.
Ich habe – sage und schreibe – 17 Klebchen (Page-Marker) im Buch verteilt, weil ich die Zitate so spannend fand oder auch etwas nicht wusste, was es nachzuschlagen galt.

Dieser Briefroman liest sich sehr flüssig, was angesichts seiner Form schon erstaunlich ist. Wenn auch die zahlreichen Gendersternchen von Stefan genauso zermürbend sind, wie seine Weltanschauung, obwohl er doch gerade als Journalist alle Seiten im Blickfeld haben sollte. Hat er aber nicht. Theresas Seite ist aus meiner Sicht nachvollziehbar, auch ihre ungeheure Wut auf die deutsche Bürokratie, die offensichtlich die Bauern besonders hart trifft. (Ich gehe davon aus, dass punktgenau recherchiert ist.) Einzig ihren Hang zur E-Mobilität begreife ich nicht, es wird öfters erwähnt, dass Basti, Theresas Ehemann, von einer E-Auto-Werkstatt träumt.

Theresa, die Vollblutbäuerin, liebt ihre Kühe, obwohl der Hof unrentabel ist. „Bei einer Auflösung des Hofs hätte man sie (die Kühe) alle geschlachtet. Man hätte ihre Masse, ihre Wärme und ihre Freundlichkeit restlos ausgelöscht.“ (S. 32)

Manchmal hat sogar Stefan kleine Erleuchtungen: „Wie sehr die politischen Bedingungen eure Familiengeschichte mitbestimmt haben, das finde ich tragisch.“ (S. 41) Oder hier: „Ich saß in Rosi’s Bar und schaute mir an, wie alle permanent mit ihren Smartphones zugange waren. Überall strahlende Devices in der Nacht. Darüber die bleichen Geistergesichter im Displaylicht, erstarrt in Ehrfurcht vor der unendlichen Verfügbarkeit von allem und jedem.“ (S. 68)

Theresa lernt eine junge Frau kennen, Eva, die Tochter des Nachbarn und Bauern Lars. Eva: „Der Staat macht uns systematisch kaputt.“ (S. 110) Oder später sagt Eva: „Dass Politik heutzutage nur noch Verarsche sei und dass ich (gemeint ist hier Theresa) endlich rauskommen müsse aus meiner Komfortzone.“ (S. 205) Theresas Vater zerbrach „an der grinsenden Heuchelei der BRD.“ (S. 226) Und dann wieder Eva: „Das Volk will nicht gendern, es will keine Cancel Culture, keine Lastenfahrräder und keine Pseudoskandale um kulturelle Aneignung …“ (S. 268)

Theresa erwähnt auf Seite 303 den Paragraphen 314 des Strafgesetzbuchs: „Wer Gegenstände, die zum öffentlichen Verkauf oder Verbrauch bestimmt sind, vergiftet oder ihnen gesundheitsschädliche Stoffe beimischt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft.“ Darauf möge sich nun ein Jeder seinen eigenen Reim machen. Und auf Seite 325 schreibt sie an Stefan: „Das System ist ein Witz, über den niemand mehr lacht. Es ist höchste Zeit, aus der Reihe zu tanzen. Kein Schaf in der Herde mehr zu sein. Erstaunliche Erkenntnis: Die Angst verschwindet, sobald man das Heer der Konformisten verlässt. Kaum streift man das Kostüm des Untertanen ab, kehrt Seelenfrieden ein.“ Später, auf Seite 346 schreibt sie: „Kein Vorgang in Deutschland ohne ein Maximum an Papierkram. Geboren werden, sterben oder abbrennen – Hauptsache, ein paar neue Aktenordner werden voll.“

Auf Seite 359 schreibt Theresa: „Während ich hier sitze und meine Kühe betrachte, die so friedlich zurückschauen, so vertrauensvoll, so tapfer, so unglaublich bereit, mir (und überhaupt allen Menschen) zu dienen, und die deshalb Anspruch darauf haben, respektvoll und gut behandelt, ja: geliebt zu werden – dann spüre ich mehr denn je, was meine Aufgabe ist.“
Ich glaube, ich habe noch nie bei einer Rezension so viele Zitate erwähnt, aber hier war es einfach nötig.

Fazit: Ich mochte das Buch sehr und es war wirklich flüssig zu lesen und das trotz des Briefwechsels. Es wurde sehr kontrovers diskutiert, bzw. geschrieben und gerade das vermisse ich in der heutigen Zeit der Meinungsunfreiheit.

Bewertung vom 30.05.2023
Die Verborgenen
Geschke, Linus

Die Verborgenen


gut

Wenn du im Schlaf beobachtet wirst

Bei einer Freundin von mir wurde mal eingebrochen über den etwas erhöhten Balkon im Erdgeschoss und aus dem Wohnzimmer wurden Sachen gestohlen, während sie im Nebenzimmer schlief. Zum Glück hatte sie während der Nacht nichts davon bemerkt, aber ich fand das total unheimlich und gruselig. Allein der Gedanke, dass in den eigenen privaten Räumlichkeiten jemand rumschleicht, ist wirklich beängstigend.

Von den sog. Phroggern hatte ich noch nichts gehört, lediglich in einigen amerikanischen Filmen kamen verborgene Mitbewohner vor. An einen Film erinnere ich mich ganz deutlich, da hatte ein Mann aus finanziellen Gründen sein riesiges Anwesen verkaufen müssen. Er wollte so gern das Haus behalten, aber das ging eben nicht, aber er kannte sich natürlich bestens aus. So war ihm jeder Schlupfwinkel vertraut und die Käufer und neuen Besitzer bemerkten zunächst nichts.

In diesem Thriller: „Die Verborgenen“ von Linus Geschke verhält es sich anders. Das Ehepaar Hoffmann besitzt und bewohnt ein traumhaftes Haus direkt am Wasser. Geld spielt hier keine Rolle, denn die Eltern von Franziska Hoffmann sind reich und haben für ihre geliebte Tochter gern dieses riesige alte Haus angeschafft. Franziskas Ehemann Sven hat sich hier aber noch nie wohlgefühlt, er möchte lieber ganz woanders sein, schwärmt von der Großstadt. Keine gute Basis für diese Ehe, obwohl beide ihre wunderbare Tochter Tabea sehr lieben. Ein Mord im Dorf an einer Schulkameradin von Tabea bringt zusätzliche Unruhe ins Geschehen.

So kommt zunächst niemand auf die Idee, dass hier im Haus irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Autoschlüssel und Lebensmittel verschwinden, Schubladen mit geheimen Inhalten sind plötzlich geöffnet, Dinge tauchen woanders wieder auf. Jeder verdächtigt jeden, was natürlich der ohnehin wackeligen Ehe nicht gut bekommt.

Mit der Protagonistin Franziska konnte ich überhaupt nicht warm werden, sie kam mir vor wie eine Schaufensterpuppe aus Plastik. Mit Sven und Tabea kam ich gut klar, auch wenn mir Tabeas Kapitel nicht gefielen. (Es gibt außerdem noch Sven-, Franziska- und Phrogger-Kapitel.) Dann gilt es den Mord im Dorf aufzuklären, obwohl der m. E. nach nicht wirklich ins Geschehen passt. Oder muss ein Thriller zwingend einen Mord enthalten?

Fazit: Bis zum Mittelteil, als der echte – und wirklich absolut unerwartete – Knaller passiert, liest sich das Buch richtig spannend, flaut dann aber schlagartig ab. Enttäuschend zum Ende. Zweieinhalb Sterne runde ich auf drei auf.

Bewertung vom 26.04.2023
Institut für gute Mütter
Chan, Jessamine

Institut für gute Mütter


sehr gut

Nie gut genug

Schreiben die Autorinnen solche Bücher, weil sie Angst vor einer derartigen Zukunft haben oder folgen sie nur einem Hype? Denn „Institut für gute Mütter“ von Jessamine Chan ist ja nicht der einzige Roman zu dieser Thematik, der zurzeit kursiert. Ein Streaming-Anbieter zeigt eine fünfteilige Staffel nach dem Roman von Margaret Atwood: „Der Report der Magd“, wobei wohl nur die erste Staffel romangetreu ist, die weiteren Staffeln wurden in Absprache mit der Autorin frei zugefügt. Dann gibt es noch den Roman „Mothers“ von Polly Ho -Yen, der sich auch dystopisch mit dem Thema Unfruchtbarkeit der Frauen beschäftigt.

Aber nun zum „Institut“. Frida, die Protagonistin, lässt ihre kleine Tochter Harriet für etwa zweieinhalb Stunden allein in der Wohnung zurück, während sie kurz wegfährt, berufliche Dinge erledigt und sich auch einen Kaffee holt. Das ist der Aufhänger und daraus entwickelt sich der rote Faden dieser Geschichte. Mit Karacho in den Abgrund. Ein übereifriger Nachbar mit Blockwart-Mentalität ruft die Polizei, bzw. den Kinderschutzbund (KSB) an, weil Harriet in der Wohnung schreit. So findet Frida, die Mutter, nach der Rückkehr von ihrer Exkursion das Kind nicht mehr in der Wohnung vor. Und dann nimmt das Unheil seinen Lauf.

Frida verliert ihr Sorgerecht. Baby Harriet kommt zu ihrem Exmann Gust und seiner neuen Flamme Susanna. Frida darf Harriet nur noch selten sehen und dies auch nur in Begleitung einer sadistisch anmutenden Sozialarbeiterin, Ms. Torres. Die sich daran erfreut, Frida und Baby Harriet leiden zu sehen. Sie quält, weil sie’s kann und darf.
Ab jetzt hat Frida eine vermeintliche Wahl. Geht sie für ein Jahr in die sog. Schule für gute Mütter (OT „The School for Good Mothers“), so bekommt sie vielleicht, wenn sie sich gut führt, danach das Sorgerecht zurück. Geht sie nicht, ist das Sorgerecht futsch. Endgültig.

In der Schule für gute Mütter wird Frida ein künstliches Kind zugeteilt. Sie nennt es Emmanuelle und dieses Roboterkind wurde von der Größe und vom Alter so in etwa Harriet angeglichen. Alle anderen Mitmütter bekommen ebenfalls künstliche Kinder, gemäß der verlorenen. Es herrschen strenge Regeln, die oft und immer wieder willkürlich geändert werden. Kommt einem aus der Corona-Zeit alles bekannt vor. Und wir Leser werden auch nicht verschont von dem, was angeblich gut sein soll für uns, wie die Grippeimpfung (S. 286) und, Zitat, Seite 247: „Sie [gemeint ist hier Frida] erzählt Emmanuelle von der Erderwärmung, dass Manhattan irgendwann vielleicht im Meer versinkt, dass Menschen kein Fleisch mehr essen, weniger Auto fahren und weniger Babys machen sollen. – Manche glauben, dass es einfach zu viele Menschen gibt.“

Hat unsere Gesellschaft vielleicht jetzt schon alles Menschliche aus dem Blick verloren? Dem stimme ich zu. Und so ähnlich lautet der hintere Klappentext des Romans.

Ach ja, und das Cover ist genauso leer und trostlos wie die Situation in der Schule. Da hilft das Rosa der Uniformen auch nicht weiter. Passt aber.

Fazit: Diese Dystopie ist deshalb so erschreckend, weil sie schon fast an unsere Realität heranreicht. Bleibt die Hoffnung, dass es nie so weit kommt und dass wir es schaffen, rechtzeitig gegenzusteuern. 4 Sterne, denn für einige Längen in der Mitte ziehe ich einen Stern ab.

Bewertung vom 16.04.2023
Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit / Der Morgenstern-Zyklus Bd.2
Knausgard, Karl Ove

Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit / Der Morgenstern-Zyklus Bd.2


ausgezeichnet

Über die Gier nach Unsterblichkeit

1051 Seiten hat das neue Buch von Karl Ove Knausgård und es ist über fünf Zentimeter dick. Hat mich das abgeschreckt? Nein. Nach dem Morgenstern wollte ich dieses Buch unbedingt lesen, es ist allerdings sehr anders, als ich dachte. Also nicht schlechter, nur anders. Den überwiegenden Teil hier erzählt der junge Protagonist Syvert, als er erst achtzehn Jahre alt ist. Als er später nochmal zu Wort kommt, sind schon vierzig Jahre vergangen und einige andere Erzähler haben sich uns vorgestellt, die fast alle – direkt oder indirekt – mit Syvert zu tun haben. Oder mit dem irren Mittelteil, der wirklich schwer verdaulich ist, und ich denke, ich bin schon hart im Nehmen. Denn da geht es um die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit, die nicht sterben wollen und die – egal wie – nach Unsterblichkeit streben, koste es, was es wolle! Da werden wissenschaftliche oder pseudowissenschaftliche Experimente an lebenden, beseelten Wesen durchgeführt, die so grausam sind, dass es einen durchschüttelt, aber ich fürchte, was geht, wird (oder wurde) gemacht – und das auch in unserer Wirklichkeit. Da sollte unsere Recherche folgen …

Syvert kommt vom Militärdienst, hat dort so kochen gelernt, dass einem echt das Wasser im Mund zusammenläuft. Wieder zu Hause kümmert er sich rührend um seinen kleinen Bruder Joar, denn die Mutter erkrankt schwer und der Vater ist schon lange tot. Syvert träumt vom toten Vater und er ist nicht der Einzige, der von ihm träumt, das ist schon echt gruselig. So traummotiviert findet er Kisten mit Hinterlassenschaften seines Vaters und da kommen Geheimnisse zu Tage, mit denen er nie gerechnet hätte. Denn er findet russische Briefe und lässt sie übersetzen. Syvert ist erstaunlich reif für sein Alter, nicht einverstanden mit der heimischen Politik: „Warum sollen andere über unser Leben bestimmen? […] Aber wir sind nicht frei. Weißt du, es ist durchaus möglich, es gut zu haben und gleichzeitig frei zu sein.“ (S. 27, im Gespräch mit der Mutter)

Syvert macht sich Gedanken, während er durch die norwegischen Wälder fährt, entweder mit Mutters Auto oder mit dem von ihm frisch runderneuerten Moped: „Ein riesiger, mit Baumstämmen beladener Lastwagen war oberhalb von mir auf dem Weg durch die Kurve. Der Leichenwagen des Waldes.“ (S. 155) Er hört auch seinem Onkel Einar (Vaters Bruder) zu: „Dass wir im Grunde nicht älter werden. Es sieht nur so aus. Aber innerlich sind wir neunzehn, alle.“ (S. 186)

Der Russland-Teil ab der Hälfte wird philosophisch und teilweise schwer verständlich und wenn es dann zu den Ewigkeitswölfen geht, ab Seite 837, da geht die Post ab, der Transhumanismus beginnt, im „literarischen“ Text der Russin Vasilisa Baranow. Da bleibt kein Stein auf dem anderen. Von Gier und Macht ist die Rede, von Verrat und Revolution, von dem, wozu Menschen fähig sind, wenn im Kopf alle Grenzen gefallen sind.

Das Ende ist wieder versöhnlich, der Morgenstern übt eine so heilsame Wirkung auf die Erdbewohner aus und bei viel Wodka wird auf Englisch die neue Verwandtschaft gefeiert. Da erschließt sich uns der innere Zusammenhang zum Vorwerk „Der Morgenstern“, von der Verwirrung zur Erlösung, auch dokumentiert durch die Farben und Ordnung der Vögel auf den beiden Covern. Und am Ende grübeln wir über die Frage: „What is the most important thing about you, in your own eyes?“ (S. 1041) Etwa: Was ist das Wichtigste, was wir über uns selbst sagen könnten?

Fazit: Ein bemerkenswertes Werk, das dem geneigten Leser unvergesslich bleiben wird. Und mit Sicherheit nicht mein letztes Buch dieses begnadeten Autors. Und das sage ich nicht oft. *****