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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 182 Bewertungen
Bewertung vom 19.03.2024
Wir werden jung sein
Leo, Maxim

Wir werden jung sein


gut

Das hatte sich Professor Martin Mosländer nun wirklich anders vorgestellt. Sein an der Berliner Charité neu entwickeltes Medikament sollte doch eigentlich nur Herzinsuffizienzen beheben und für eine Erneuerung der lebensnotwendigen Zellen sorgen. Doch siehe da: Die vier Proband:innen erfreuen sich nicht nur immer besserer Gesundheit, sie verjüngen sich auch. Problematisch wird das Ganze erst, als absehbar ist, dass sich dieser Prozess nicht ohne Weiteres stoppen lässt. Und plötzlich merken auch die Patient:innen, dass so ein ewig sprudelnder Jungbrunnen vielleicht doch nicht die Rettung der Menschheit ist...

"Wir werden jung sein" ist der neue Roman von Maxim Leo, der jüngst bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Leo erzählt darin von den unbegrenzten Möglichkeiten der Medizin und was diese für die Gesellschaft bedeuten würden. Die Idee ist zweifelsohne genial und wurde meines Wissens nach so in der deutschen Gegenwartsliteratur noch nicht behandelt. Der Autor fokussiert sich dabei auf sechs verschiedene Hauptfiguren. Das sind neben dem Professor die vier Patient:innen Jakob, Wenger, Jenny und Verena sowie Miriam, wissenschaftliche Beraterin der Regierung. Gut gelingt es dem Autor, die Erzählstimmen rund um die einzelnen Figuren auch völlig unterschiedlich klingen zu lassen. So sind beispielsweise die Texte rund um den 16-jährigen Jakob jugendlich-flapsig, während beim 80-jährigen Immobilienmagnaten Karl Wenger stets eine gewisse Autorität mitschwingt. Positiv hervorheben muss man zudem, wie Maxim Leo es schafft, ein vordergründig wissenschaftliches Thema unterhaltsam, spannend und mit einem Augenzwinkern so zu vermitteln, dass der Roman durchaus eine breite Leserschaft ansprechen dürfte.

Womit wir beim Aber wären. Denn so genial diese Idee auch ist, so wirkt die literarische Umsetzung manchmal ein wenig unterkomplex. Dies ist vor allem bei der Figurenzeichnung zu spüren. Wir folgen den Charakteren in wortreichen Dialogen, Konflikte und Probleme werden fast ausschließlich darüber gelöst. Über das Innenleben der Figuren erfährt man viel zu wenig. Ein paar innere Monologe der Figuren, gerade in Bezug auf Ethik und Moral, hätten hier in meinen Augen eine größere Wirkung erzielt. Am stärksten sticht noch Verena heraus, ihrerseits Leistungsschwimmerin und Olympiasiegerin. Als die Folge der Tablettenneinahme ein neuer Schwimm-Weltrekord im fortgeschrittenen Alter ist, sieht sie sich plötzlich mit Dopingvorwürfen konfrontiert. Bei ihr spürt die Leserschaft noch am stärksten, was solche Vorwürfe bewirken können. Zudem gewinnen die Patient:innen allesamt im letzten Drittel unvermittelt an Kontur, als sie - leider jedoch aus recht absurden Gründen - dazu gezwungen sind, plötzlich zusammenarbeiten zu müssen.

Misslungen sind hingegen der Professor und insbesondere Miriam, die wissenschaftliche Beraterin. Martin nimmt selbst die von ihm kreierten Kapseln und verabreicht sie auch seinem geliebten Hund, was jedoch anders als bei den Patient:innen keine große Rolle spielt. Der eigentliche Protagonist, bei dem die wissenschaftlichen und erzählerischen Fäden zusammenlaufen sollten, ist eher eine Mischung aus albernem Hanswurst und nettem Onkel und lässt bis kurz vor dem Ende jegliche Haltung vermissen.

Miriam ist gar ein echtes Ärgernis. Die Figur wird offenbar nur eingeführt, um den Leser:innen mit dem Holzhammer die gesellschaftlichen Auswirkungen der Verjüngungskapseln einzutrichtern. In einer ermüdenden Szene diskutiert sie darüber mit den Politiker:innen und man hätte Maxim Leo hier mehr Vertrauen in die mitdenkende Leserschaft gewünscht. Letztlich verliert selbst der Autor sein Interesse an Miriam, im Finale findet sie schlichtweg nicht mehr statt.

Wobei das Finale insgesamt eher recht wirkungslos verpufft. Zwar werden bis auf Miriam noch einmal die Erzählstränge der einzelnen Charaktere recht warmherzig aufgenommen, doch die große Überraschung oder gar ein Aha-Effekt bleiben aus. So bleibt die Kooperation der vier Patient:innen zugleich erzählerischer wie auch Spannungshöhepunkt.

"Wir werden jung sein" ist insgesamt ein moderner und flott erzählter Unterhaltungsroman, dem eine große Aufmerksamkeit und Leserschaft gewiss sein sollte. Allerdings kratzt das Buch vor allem in den ethisch-moralischen Fragen und bei der Figurenzeichnung nur an der Oberfläche.

Bewertung vom 14.03.2024
Das Schweigen des Wassers
Tägder, Susanne

Das Schweigen des Wassers


ausgezeichnet

"Das Schweigen des Wassers" ist der Debütroman der gebürtigen Heidelbergerin Susanne Tägder, der jetzt bei Tropen erschienen ist. Es ist ein bemerkenswert souverän erzähltes Debüt, das vor allem durch seine starken Figuren, die melancholische Atmosphäre und die pointierten Dialoge glänzt. Doch auch auf der Handlungsebene weiß "Das Schweigen des Wassers" zu überzeugen. Denn der ertrunkene Eck ist nur der Pfeiler eines elf Jahre zurückliegenden Verbrechens. 1980 wurde im Tannenkruger Forst nämlich die Leiche der 19-jährigen Jutta Timm gefunden. Der Mord blieb unaufgeklärt, obwohl Eck seinerzeit bereits ein Geständnis abgelegt hatte, vor Gericht aber freigesprochen wurde.

Das größte Plus sind aber die Figuren. Neben Protagonist Groth gibt es eine ganze Reihe an Charakteren, die den Leser:innen lange im Gedächtnis bleiben werden. Da ist beispielsweise Gerstacker, Groths nächster Kollege, der alles ganz genau nimmt und sich von niemandem reinreden lässt. Schon gar nicht von jemandem, der aus Westdeutschland kommt. Da ist Hennemann, Fotograf und Reporter der lokalen Zeitung, der zum Fall der ermordeten Jutta Timm eine ganz besondere Verbindung hat. Da ist Regine Schadow, Kellnerin eines zweitklassigen Lokals am See, die mehr über Eck weiß, als es anfangs scheint. Und da ist Ecks Vater, ein nach außen hin stoisch wirkender Hinterbliebener. Sie alle haben ihre Verletzungen erlitten und gemeinsam bilden sie so etwas wie ein Panorama der Versehrten. Tägder nähert sich diesen Verwundeten mit großer Empathie und Mitgefühl, nie verrät sie sie, welche Fehler sie auch begehen mögen. Hervorstechend ist aber tatsächlich Arno Groth. Der Kafka lesende Kommissar musste einige Schicksalsschläge verkraften. Er trauert noch immer um seine Tochter Saskia und auch beruflich hat er Hamburg nicht ohne Grund verlassen. Tägder widmet ihren Roman allen, "die ein rauer Wind aus ihrer Heimat fortgeweht hat" und bezeichnenderweise trifft dies auch auf Groth und viele ihrer Figuren zu. Groth ist ein herausragendes Beispiel an Menschlichkeit, ein Ermittler, der trotz seiner Probleme nie so verkorkst wirkt wie seine literarischen Kolleg:innen aus Schweden.

Atmosphärisch erinnert "Das Schweigen des Wassers" in seiner Melancholie ein wenig an die Fälle von Friedrich Anis Ermittler Jakob Franck, die bedauerlicherweise seit 2017 auf eine Fortführung warten. In den Dialogen agiert Tägder aber ohne die Francksche Tristesse, sondern lockert den in seiner Gesamtheit eher düsteren Grundton immer wieder pointiert und feinsinnig auf. Beispielsweise, wenn Groth sich in einer Dorfkneipe auf die Suche nach einem ehemaligen Bandkollegen von Siegmar Eck begibt. Oder wenn Regine Schadow, die die zweite Hauptfigur in diesem Kriminalroman ist, ihre Oma im Pflegeheim besucht.

Toll sind auch die plastischen Beschreibungen der fiktiven Stadt Wechtershagen, deren geographisches Vorbild Neubrandenburg ist, Herkunftsort von Susanne Tägders Eltern. So erfahren wir es in der Danksagung ganz am Ende des Buches. In dieser schildert die Autorin auch, woher die Idee des Krimis stammte. Die Geschichte basiert nämlich auf einem wahren Fall, den die Journalistin Renate Meinhof 2002 in der Reportage "Das eisige Echo des Verdachts" für die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte. Ich empfehle eindringlich die Lektüre dieser Reportage, die sich einfach und kostenfrei im Archiv des Reporter-Forums finden lässt. Allerdings erst nach der Lektüre von "Das Schweigen des Wassers", denn es wäre schade, sich die bis zum Ende bestehende Spannung möglicherweise dadurch zu verderben, wenn man schon zu viel weiß.

Im Klappentext meint Schrifstellerkollege Andreas Pflüger über Susanne Tägder: "Diese Autorin ist gekommen, um zu bleiben." Wünschenswert wäre es auch, wenn man sagen könnte "Dieser Kommissar ist gekommen, um zu bleiben", denn man fühlt sich dem Protagonisten am Ende so verbunden, dass man ihn schwer wieder loslassen möchte. Mit "Das Schweigen des Wassers" gelingt Susanne Tägder jedenfalls ein bemerkenswert großer Schritt in Richtung des bislang rein männlichen Triumvirats der höchsten Klasse der deutschen Kriminalliteratur, bestehend aus Friedrich Ani, Matthias Wittekindt und Jan Costin Wagner.

Bewertung vom 11.03.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


gut

Trophäenjäger Hunter White hat sein Ziel fast erreicht. Von Afrikas "Big Five" fehlt ihm nur noch das Spitzmaulnashorn. Löwe, Leopard, Büffel und Elefant zieren längst die heimischen Räume seiner Villa. Nun möchte er seiner Frau noch dieses letzte fehlende Geschenk machen. Unterstützung erhält er dabei von seinem Freund und Jagdpartner Van Heeren, der mit der Großwildjagd in Afrika schon seit längerer Zeit ein äußerst lukratives Geschäft betreibt. Doch mit dem prähistorisch anmutenden Dickhäuter ist nicht zu spaßen. Als ein erster Angriff auf das Nashorn schief läuft, macht ihm Van Heeren ein perfides Angebot, das Hunter an dessen moralische Grenzen führt. Wie wird er sich entscheiden?

"Trophäe" ist der neueste Roman der flämischen Autorin Gaea Schoeters, der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem Niederländischen von Lisa Mensing bei Zsolnay erschienen ist. Er dürfte zweifellos einer der polarisierendsten Romane des Jahres werden und auch auf der bevorstehenden Leipziger Buchmesse mit dem Gastland Niederlande & Flandern und dem Motto "Alles außer flach" für Aufregung sorgen. Und flach ist "Trophäe" keinesfalls. Dennoch ist das Buch insgesamt eher eine Enttäuschung, wenn man bedenkt, wie hoch die Vorschusslorbeeren aus den Niederlanden und Belgien waren - inklusive Literaturpreis der belgischen Sabam, dem Pendant zur deutschen GEMA.

Die erste kleinere Enttäuschung liefert dabei tatsächlich schon ein Blick aufs Cover. Dieser Blick des Nashorns, die kleinen Härchen am Ohr, das beeindruckende Horn. Was für ein prächtiges Foto! Denkt man zumindest auf den ersten Blick. Wer war denn dieser talentierte Fotograf? Werfen wir einen Blick auf den Schutzumschlag. Oh, es war die KI! Schade!

Alles andere als artifiziell oder enttäuschend ist hingegen von Beginn an Gaea Schoeters' Sprache. Es ist bemerkenswert, wie es der Autorin gelingt, dieses aus guten Gründen namentlich nicht näher benannte afrikanische Gebiet zum Leben zu erwecken. Diese drückende Hitze, die Geräusche und Gerüche. Die Schilderung der Landschaft. Die Beobachtung der Tiere. Dazu die plastische und authentisch wirkende Vorbereitung der Jagd. Das alles hat ganz große Sogkraft. In Frankreich wurde "Trophäe" auf dem Buchmarkt als Thriller verkauft. Es ist eine weise Entscheidung, dass Zsolnay das Buch im deutschsprachigen Raum als literarischen Roman herausgebracht hat. Die Intensität der Sprache hätte bei einem typischen Thriller-Publikum wohl nicht die ausreichende Würdigung erfahren.

Wobei sich "Trophäe" in seinen schwachen Momenten dann doch den Thriller-Konventionen bedenklich nähert. Da ist zum einen die unerhörte Grausamkeit, die der Roman aufweist. Wer explizite und detaillierte Tötungen von Tieren verachtet und wessen Magen rebelliert, wenn sich ein "schmunzelnder Büffel" auf einen Menschen setzt, um ihm den Bauch mit den Hörnern aufzureißen, der mache besser einen Bogen um "Trophäe". Noch schwerwiegender ist allerdings der Zynismus, den Schoeters ihren Figuren entgegenbringt. Es ist schwierig, diesen näher zu erläutern, ohne auf den - etwas reißerisch - auf dem Klappentext so zitierten "ethischen Mindfuck" (Dimitri Verhulst) einzugehen. Es ist kein guter Umgang der Autorin mit ihren Figuren. Nicht einmal mit Dawid, einem Einheimischen, der so etwas wie der Good Guy des Romans und somit der Gegenpart des widerwärtigen Protagonisten Hunter White - der Name ist natürlich Programm - sein soll.

Was Schoeters hingegen hervorragend gelingt, ist die subtile Vereinnahmung ihrer Leserschaft. Es ist im positiven Sinne bemerkenswert perfide, wie sie diesen Hunter White vor allem zu Beginn des Romans darüber philosophieren lässt, warum die Großwildjagd doch eigentlich Naturschutz sei und warum auch das Land nicht nur finanziell, sondern auch ökologisch von seinem perversen Hobby profitiere. Zudem zwingt die Autorin die Leser:innen dazu, sich zu hinterfragen. Wo sind eigentlich die Grenzen von Ethik und Moral?

Schwach hingegen ist, dass sich "Trophäe" 250 Seiten lang thematisch wenig bewegt. Eine Jagd folgt der anderen. Mal wird ein Nashorn gejagt, mal ein Büffel, mal ein anderes Raubtier. Natürlich ist dies neben der Moral das Grundthema des Buches, aber etwas weniger monothematisch hätte es schon sein dürfen.

Gaea Schoeters' "Trophäe" ist ein Buch, das auf der einen Seite provozieren und wehtun möchte und auf der anderen Seite eine Haltung einfordert zu großen Themen wie Tier- und Naturschutz und Postkolonialismus. Ein legitimes Ansinnen, das letztlich aber daran scheitert, literarisch zu wenig abwechslungsreich zu sein und durch seinen Zynismus und die Grausamkeiten im Laufe des Romans immer mehr abzustumpfen. So ist die Aufregung um das Buch dann doch so ein wenig wie das Nashorn auf dem Cover: auf den zweiten Blick ein wenig künstlich.

Bewertung vom 06.03.2024
Mein Name ist Estela
Trabucco Zerán, Alia

Mein Name ist Estela


gut

Das Kind ist tot. Sieben Jahre lang hat sich das Kindermädchen Estela um Julia gekümmert, ihr das Essen gemacht, ihre Wäsche gewaschen. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Davon erzählt Estela in einem Verhör - und Alia Trabucco Zerán in ihrem neuen Roman "Mein Name ist Estela", der jüngst in der deutschen Übersetzung aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy bei Hanser Berlin erschienen ist.

Es ist ein merkwürdiger Roman. Das liegt zunächst einmal an der ungewohnten Erzählform, bei der Estela sich direkt an ihr Publikum richtet. Das ist einerseits die Zuhörerschaft beim Verhör, offenbar versteckt hinter einer nur einseitig einsehbaren Glasscheibe und andererseits ist es natürlich die Leserschaft. Wenn Estela also im ersten Satz fragt "Mein Name ist Estela, können Sie mich hören?", so fühlt man sich direkt von ihr angesprochen. Und auf den nächsten 240 Seiten wird man keine andere Erzählstimme vernehmen.

Grundsätzlich ist es eine originelle Erzählstimme, schließlich kommt es in der Literatur immer noch selten vor, von der Hauptfigur so unmittelbar konfrontiert zu werden. Allerdings ist die Umsetzung ein wenig holprig. Ständig unterbricht Estela sich selbst, um sich an die Zuhörerschaft zu wenden. Fast hat man das Gefühl, als existierte diese nur als Mittel zum literarischen Zweck. Das Erstaunliche daran ist, dass Estela die Schwächen ihrer Erzählung - und somit des Romans - selbst bemerkt. "War das ein Gähnen?", fragt sie an einer Stelle, "das ist reines Gelaber", befindet sie später. Und man kann ihr durchaus zustimmen, denn der Roman hat merkliche Längen. Hinzu kommt, dass diese Ausbrüche recht stark den Erzählfluss stören. So, als müsste Zerán die Leser:innen immer und immer wieder daran erinnern, dass Estela gerade verhört wird.

Dabei ist die Ausgangssituation durchaus spannend. Natürlich möchte man wissen, warum das Hausmädchen verhört wird. Hat sie den Tod des ihr anvertrauten Kindes verschuldet? Ist sie gar eine Mörderin, wie das Kindermädchen in Leïla Slimanis "Dann schlaf auch du"? Zerán gelingt es in diesen Momenten gut, die Spannung subtil aufzubauen. Die Abschweifungen, die Estela unternimmt, sind nachvollziehbar, werden aber zu häufig eingesetzt. Immer wieder gibt sie Hinweise darauf, dass die folgenden Aussagen sehr wichtig für die Aufklärung des Todesfalls seien. Letztlich entpuppen sich diese im Finale aber als leere Versprechungen, ohne genauer darauf eingehen zu können.

Was der Autorin misslingt, ist die Mischung aus Kriminalfall und Gesellschaftskritik. Letztere wird im Roman überdeutlich und bisweilen plakativ dargestellt. Julias Eltern - der Vater ist Arzt, die Mutter arbeitet in einem führenden Holzunternehmen - glänzen einerseits durch Abwesenheit, andererseits durch ihre Oberflächlichkeit. Zwar behandeln sie ihre Angestellte gut, wie Estela hinreichend erklärt, doch sowohl ihr, als auch ihrer Tochter gegenüber mangelt es an Empathie. Passend zum Beruf der Mutter wirkt die Zusammenführung der beiden Stränge im Finale hölzern und nicht konsequent. Zwar muss nicht alles auserzählt werden, aber 240 Seiten lang, etwas zu versprechen, was nicht eingehalten wird, ist dann doch recht enttäuschend.

Sprachlich ist der Roman vor allem dann interessant, wenn Estela aus ihrem Dienstmädchen-Alltag ausbricht und sich beispielsweise an ihre Kindheit erinnert. Plötzlich wirkt die Sprache berauschend und frei, so wie es Estela als Kind zu dieser Zeit wohl auch noch war. In das Korsett des Verhörs eingeschnürt, erzählt die Protagonistin ansonsten oft recht nüchtern, manchmal philosophisch. Wenn man sich über mangelnde Authentizität beklagen möchte, dass eine Angestellte eines eher niederen Ranges so daherreden kann, liefert die Autorin nach einigen Seiten gleich die Erklärung dazu: Estela hat als Kind Unmengen an Büchern gelesen.

Insgesamt ist "Mein Name ist Estela" ein nur in Ansätzen gelungener Roman, der in seiner Mischung aus Krimi und Gesellschaftskritik vielleicht zu viel will und letztlich daran scheitert. Ambitioniert ist das Ganze aber in jedem Fall, so dass man das Buch zuschlägt und der Protagonistin zurufen möchte: "Ja, Estela, wir haben dich gehört!"

2,5/5

Bewertung vom 27.02.2024
Hotel Amerika
Leitner, Maria

Hotel Amerika


ausgezeichnet

Die irische Wäscherin Shirley ist sich sicher: Heute ist ihr letzter Tag im Hotel Amerika. Ihr heimlicher Freund wird sie herausholen aus diesem 30-stöckigen Luxushotel in New York, in dem die Gäste hofiert werden, die Angestellten aber von der Hand in den Mund leben. Das glitzernde Kleid für ihr neues Leben liegt jedenfalls schon bereit. Der deutsche Küchenjunge Fritz hingegen ist gerade erst angekommen und muss sich erst einmal zurechtfinden in diesem Wirrwarr und Trubel. Er wünscht sich nichts sehnlicher als einen eigenen Schlafplatz. Als die niederen Angestellten in ihrer Pause faule Kartoffeln vorgesetzt bekommen, ist das Maß voll. Nach und nach füllt sich die Kantine. Dem Hotel droht ein veritabler Aufstand...

In der Reihe "Reclams Klassikerinnen" gibt der Reclam Verlag teils komplett in Vergessenheit geratenen Schriftstellerinnen den literarischen Raum, den sie verdienen. Jüngst ist mit "Hotel Amerika" der deutschsprachigen ungarischen Autorin Maria Leitner (1892 - 1942) ein Klassiker aus dem Jahre 1930 erschienen, der seinerzeit im Neuen Deutschen Verlag veröffentlicht wurde. Es ist eine eindrucksvolle Neuveröffentlichung.

Bemerkenswert ist zunächst, wie es Maria Leitner gelingt, die Leser:innen unmittelbar hineinzuwerfen in diesen einen Tag im Leben verschiedener Hotelangestellter. Sofort ist man mittendrin in diesem Luxushotel, das einem Bienenstock gleicht. Alles ist in Bewegung, der neue Tag beginnt und mit ihm eine weitere höchst anstrengende Arbeitsschicht, an deren Ende man sich vielleicht über ein paar zusätzliche Dollar Trinkgeld freuen darf - wenn man Glück hat. Shirley, eine junge Irin, die seit sechs Jahren in der Hotelwäscherei beschäftigt ist, hat dieses Glück auf ihrer Seite. Voller Zuversicht blickt sie auf ihren offenbar letzten Arbeitstag, die letzten Schindereien, das letzte schlechte Essen. Ihr neuer Freund, der gerade als Gast im Hotel abgestiegen ist, hat ihr versprochen, an so viel Geld zu kommen, um ein gemeinsames neues Leben beginnen zu können.

"Hotel Amerika" erinnert in gewissen Sequenzen an eine zugänglichere Variante von Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway". Eine Gemeinsamkeit ist, dass sich die Handlung an genau einem Tag abspielt. Zudem setzt auch Leitner auf einen erzählerischen Bewusstseinsstrom, der mal bei Shirley, mal bei Fritz oder anderen Figuren ist oder einfach die verschiedenen Etagen und Zimmer des Hotels passiert. Ein Unterschied ist jedoch, dass es bei Maria Leitner viel mehr direkte Rede gibt. Gerade in den zwei zentralen Momenten des Romans, in denen ein Aufstand der Angestellten droht, gibt ein Wort das andere und aus der Vielzahl der Stimmen ist gar nicht mehr herauszuhören, wer da jetzt eigentlich gerade was fordert. Das ist ganz hervorragend umgesetzt und gibt diesen Szenen einerseits eine hohe Intensität, andererseits fühlt man als Leser:in genauso überfordert wie die Angestellten in diesem Raunen und Rufen.

Ein weiteres Plus ist, dass Leitners Sympathie immer auf Seiten der Armen und Schwachen ist. Es sind Figuren wie das schwedische Zimmermädchen Ingrid oder eben der idealistische Fritz, der die Chancen vor allem in einer organisierten Arbeiterschaft sieht, die lange im Gedächtnis bleiben. Der wichtigste und gelungenste Charakter ist aber Shirley, die den Roman eröffnet und beschließt. Scheinbar furchtlos ob der guten Aussichten, ist es ausgerechnet ein junges Mädchen, das die Fäden in die Hand nimmt. Und auch wenn Shirleys eindringliche Rede bei den Vorgesetzten wegen des fehlenden Rückhalts verpufft, ist sie eine starke Frauenfigur, in der sowohl die feministischen als auch die sozialistischen Ideale Maria Leitners aufblitzen.

Neben der im Vordergrund stehenden Sozialkritik ist "Hotel Amerika" auf einer untergeordneten Ebene fast so etwas wie ein Kriminalroman. Im Hotel übernachtet nämlich gerade ein einflussreicher und berühmter Verleger, dessen Tochter kurz vor der Traumhochzeit an diesem besonderen Ort steht. Gäbe es da nicht jemanden, der ein paar pikante Details über den mächtigen Mann weiß.

Bereichert wird die auch optisch gelungene Neuausgabe durch ein ausführliches und informatives Nachwort der Historikerin Katharina Prager. Hier erfährt man nicht nur traurige Details über die letzten Monate im Leben der Maria Leitner, sondern auch, dass diese den Roman sozusagen aus erster Hand erzählte. Denn Leitner selbst arbeitete als Scheuerfrau in diversen New Yorker Hotels.

Maria Leitners "Hotel Amerika" ist ein spannendes und eindringliches Plädoyer für Solidarität und das Sichtbarmachen eines Prekariats, das in den Schilderungen der Arbeitsbedingungen erstaunlich aktuell wirkt. Das Buch war 1933 eines der ersten, das der Bücherverbrennung durch die Nationalsozialisten zum Opfer fiel. In Bonn erinnert nur noch ein Gedenkstein daran. Es ist Reclam und Maria Leitner zu wünschen, dass sie durch die Neuveröffentlichung künftig in einem Atemzug mit ungleich bekannteren Zeitgenoss:innen wie Anna Seghers oder Bertolt Brecht genannt wird.

Bewertung vom 26.02.2024
Oben in den Wäldern
Mason, Daniel

Oben in den Wäldern


ausgezeichnet

Da ist das flüchtige Pärchen, das in höchster Not eine Lichtung in den Wäldern Massachusetts' erreicht. Da ist Charles Osgood, ein englischer Soldat, der von den Äpfeln eines Baumes so begeistert ist, dass er kurzerhand zum Apfelbauern wird. Und da ist William, ein Maler, der sich auf der Suche nach den passenden Motiven in die Wälder zurückzieht und von dort den Briefwechsel mit einem befreundeten Autoren pflegt. Sie alle sind Bewohner:innen eines Hauses im Wald. Und sie alle sind zentrale Figuren in Daniel Masons neuen Roman "Oben in den Wäldern", der kürzlich in der deutschen Übersetzung von Cornelius Hartz bei C.H. Beck erschienen ist.

Es ist ein Buch, das vor allem in formaler Hinsicht sämtliche literarische Grenzen der Gattung "Roman" sprengt. Denn Daniel Mason experimentiert mit zahlreichen erzählerischen und bildhaften Elementen, und es gleicht fast einem Wunder, dass dennoch alles wie aus einem Guss wirkt. Zudem gelingt es ihm, kaum einmal Ähnlichkeiten im Sprachstil aufkommen zu lassen. Nahezu jeder Text hat seinen eigenen Tonfall, seine eigene Erzählstimme. Das ist gerade zu Beginn des Romans auffällig. Mason konzipiert ein Gesamtkunstwerk, bei dem nichts beliebig ist. Neben erzählenden Texten gibt es beispielsweise Briefe, Tagebucheinträge, Gedichte, Balladen, Zeichnungen, Fotos und Reden.

Überwältigend schön und von Cornelius Hartz kongenial ins Deutsche übertragen sind vor allem die Naturbeschreibungen Masons. Diese sind so plastisch, dass man sich als direkten Teil der Wälder Massachusetts' wähnt. In Verbindung mit den Gedichten und Bildern sorgen sie für eine erzählerische Intensität, die bisweilen an Lars Myttings Glockenschwestern-Trilogie erinnert. Eine weitere Besonderheit ist, dass Daniel Mason auf den knapp 430 Seiten des Buches nicht weniger als einen Zeitraum von etwa 300 Jahren berücksichtigt. So hangelt man sich fast nebenbei gerade zu Beginn des Werks auch an der amerikanischen Geschichte entlang. Von den Kämpfen der Kolonien mit der indigenen Bevölkerung über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bis zum Abolitionismus lässt Mason nichts aus.

Der Star des Romans - und die einzige Konstante - ist das gelbe Haus in den Wäldern von Massachusetts. Während die Menschen dort leben und sterben, bleibt es immer bestehen, auch wenn es manchmal ausgebaut wird oder gar teilweise einstürzt. Das erinnert in seiner Emotionalität an den großartigen Film "A Ghost Story" von David Lowery. Auch in "Oben in den Wäldern" kommen im Verlaufe des Buches einige Gespenster zu ihrem großen Auftritt. Wobei dies nicht die einzigen filmischen Bezüge bleiben. Im ersten Drittel lugt Alfred Hitchcocks "Psycho" recht unvermittelt um die Ecke, in der zweiten Hälfte veralbert Mason in einer Szene die zahlreichen Séance-Filme, deren Verlauf immer gleich scheint - inklusive betrügerischem Medium.

Möchte man an "Oben in den Wäldern", dessen Originaltitel "North Woods" ungleich träumerischer wirkt, etwas kritisieren, so ist es die Tatsache, dass Daniel Mason die hohe Messlatte der ersten Hälfte im zweiten Teil des Buches reißt. Einerseits stellt sich so etwas wie ein Gewöhnungseffekt ein, auf der anderen Seite übertreibt es Mason ein wenig mit dem Spuk-Faktor. Unbestritten hoch bleibt allerdings der Unterhaltungsfaktor, auch wenn die Intensität in recht hohem Maße nachlässt.

Insgesamt ist "Oben in den Wäldern" dennoch eine Ausnahmeerscheinung, gerade mit Blick auf die zahlreichen Übersetzungen aus dem Amerikanischen. Es ist unglaublich kreativ, abwechslungsreich, unterhaltsam und berührend - und in der ersten Hälfte gar überwältigend groß. Verlag und Autor ist zu wünschen, dass sich auch auf dem deutschen Markt eine entsprechende Zielgruppe findet, die sich auf dieses erzählerische Experiment vorbehaltlos einlassen wird.

Bewertung vom 16.02.2024
Krummes Holz
Linhof, Julja

Krummes Holz


sehr gut

Sommer 1987, irgendwo im Sauerland: Als der 19-jährige Jirka nach fünfjährigem Aufenthalt in einem Internat erstmals wieder den väterlichen Hof besucht, fühlt er sich nicht gerade willkommen. Sein Vater Georg glänzt durch Abwesenheit, Schwester Malene begrüßt ihn nicht einmal, Großmutter Agnes ist mittlerweile dement und erkennt ihn schwerlich. Und auch Leander, der Sohn des ehemaligen Gutsverwalters, wirkt nicht sonderlich begeistert über Jirkas Rückkehr. Der Hof im Krummen Holz hat seine besten Zeiten hinter sich und steht kurz vor dem Verkauf. Doch je länger sich Jirka dort aufhält, desto intensiver werden die Gedanken an seine Kindheit.

"Krummes Holz" ist der Debütroman von Julja Linhof, der jetzt bei Klett-Cotta erschienen ist. Sprachlich zieht Linhof darin alle Register ihres Könnens. Die flirrende Atmosphäre auf dem Gutshof, die Farben, Geräusche und Gerüche des Sommers sind so eindringlich und plastisch beschrieben, dass man fast glaubt, selbst Teil dieser unglücklich wirkenden Familienzusammenführung zu sein. Stets lauert in der Sprache eine Melancholie, der man sich schwer entziehen kann und die hervorragend zum gelungenen Cover der goldgelben Kornfelder passt. Der Titel des Romans ist dabei mehrdeutig. Einerseits heißt so der Ort, in dem der Hof von Jirkas Familie liegt. Auf der anderen Seite beruft sich Linhof auf das wunderbar treffende vorangestellte Motto des Romans von Immanuel Kant: "Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden." "Ganz gerade" ist nämlich keine der Figuren. Zu viel Leid tragen sie mit sich herum, zu viele Verletzungen und Wunden der Kindheit. Sollten Malene und Jirka "gerade" zur Welt gekommen sein, haben spätestens die Gewaltausbrüche von Vater Georg dafür gesorgt, dass sie mittlerweile krumm sind.

Ohnehin müssen sowohl die Figuren als auch die Leser:innen einiges aushalten. Ich-Erzähler Jirka spart nicht an grausamen Details seiner traurigen und trostlosen Kindheit. Seien es die Schläge des Vaters, das Einsperren im Hundezwinger, die Tötung von Hunden und Katzenbabys, die gefühlskalte Großmutter - hier wird nichts ausgelassen, was in seiner Gesamtheit ein wenig klischeehaft und wie des Schlechten zu viel wirkt. Zeitweise fühlte ich mich dabei an die etwas reißerische DVD-Edition "Tales From The Orphanage" erinnert, bei der die Zuseher:innen auf dem Cover stets gefragt wurden: "You think, you had it rough?"

Sehr gut gelingt Linhof hingegen die Vermischung der Zeiten. Hier fordert es höchste Aufmerksamkeit der Lesenden, denn diese verschwimmen teilweise übergangslos und lediglich die kursive Schrift weist darauf hin, dass man sich wieder in einem Rückblick auf die Kindheit befindet. Insbesondere beim emotionalen Höhepunkt des Romans, der den Figuren Jirka und Leander vorbehalten ist, experimentiert die Autorin äußerst erfolgreich mit diesem Zeitenwechsel. Ein Plus ist zudem der Handlungsort. Dieser verlassene Gutshof bildet nämlich einen ganz eigenen Mikrokosmos. Fast fühlt man sich auch als Leser:in in ihm gefangen, wie Jirka, wie Malene. Nicht umsonst sieht Jirkas Schwester in einer Klassenfahrt die "Zuflucht im Außen".

Ein wenig ärgerlich ist hingegen, dass das Schweigen der Figuren, die Sprachlosigkeit untereinander lediglich als Mittel zum Zweck eingesetzt werden, um nichts von dem finalen Twist verraten zu müssen. Dabei kommt dieser Twist gar nicht mehr überraschend, und auch Jirka hätte ihn erahnen können, wenn er denn mehr geredet hätte. Überraschend ist hier eher die Naivität des Protagonisten. Man möchte diese Figuren zeitweise schütteln und zum Dialog auffordern. Glücklicherweise fällt das jedoch nicht nur der Leserschaft auf, auch Jirka kritisiert auf S. 99: "Wir schweigen, bis es unangenehm wird."

Gemeinsam mit Jirka ist Leander die zentrale Figur der Erzählung. Er ist der einzige, der den Gutshof noch nie für längere Zeit verlassen hat. Der Sohn des ehemaligen Verwalters ist auch im komplizierten Beziehungsgeflecht der Geschwister das verbindende - und manchmal auch trennende - Element. Er ist der wohl gelungenste Charakter des Romans in seiner gediegenen Mischung aus Härte und Zerbrechlichkeit, aus Verletzung und Stolz.

Neben der hervorragenden Atmosphäre mit zahlreichen ganz starken Szenen sticht die Vielfalt des Vokabulars hervor. Ob "Roggenmuhme", "Kruppe" oder "Korngeist" - "Krummes Holz" zeigt allein schon anhand der Wortauswahl das außergewöhnliche Talent Julja Linhofs. Ein wenig enttäuschend ist hingegen das recht vorhersehbare Finale, das zudem symbolisch überladen wirkt, ohne näher darauf eingehen zu können.

Mit Julja Linhof erhält die deutschsprachige Gegenwartsliteratur eine aufregende neue Stimme, bei der man gespannt sein darf, was da noch folgen wird. "Krummes Holz" ist trotz kleinerer Schwächen jedenfalls ein lesenswertes Debüt, das auch bei Freunden der Coming-of-Age-Literatur hoch im Kurs stehen dürfte.

Bewertung vom 14.02.2024
Arctic Mirage
Kokkonen, Terhi

Arctic Mirage


sehr gut

Nach einem Autounfall sitzen Karo und Risto leicht verletzt in einem eingeschneiten Hotel in Lappland fest, dem exorbitant teuren "Arctic Mirage". 700 Euro pro Nacht muss das kriselnde Pärchen, für das Geld jedoch keine Rolle spielt, dafür berappen. Während Karo sich in der ungewohnten Umgebung zunehmend unwohl fühlt, scheint Risto den Aufenthalt gern auf unbestimmte Zeit verlängern zu wollen. Als Karos persönliche Gegenstände nach und nach verschwinden, spitzt sich die Situation zu. Ist das alles wirklich auf ihre leichte Gehirnerschütterung zurückzuführen? Und wieso bestreitet Risto eigentlich vehement, dass in den Unfall ein blauer Lieferwagen involviert war, an den Karo sich nur zu gut erinnert? Während der Schnee alles verdecken will, macht sich Karo daran, ihren Zweifeln auf den Grund zu gehen...

Ein verlassenes Hotel, ein Pärchen in Krisenstimmung und seltsame Ereignisse mit Wahnfaktor. Wie es schon Stephen King in "The Shining" und Peter Cameron in "Was geschieht in der Nacht" bewiesen, braucht eine gute Geschichte eigentlich nicht viel mehr, um zu funktionieren. Die finnische Autorin Terhi Kokkonen tritt in ihrem Debütroman "Arctic Mirage", der kürzlich bei Hanser Berlin in der deutschen Übersetzung von Elina Kritzokat erschienen ist, thematisch in große Fußstapfen. Zwar kann sie diese noch nicht ganz ausfüllen, meistert ihr Debüt aber ähnlich raffiniert wie der kleine Danny im Labyrinth des Overlook-Hotels. Nur auf der Zielgeraden geht dem knapp 200 Seiten starken Roman ein wenig die Luft aus.

Der Beginn hingegen ist eine Wucht. "Nachdem Karo Risto umgebracht hat, steht sie auf", heißt es im ersten Satz und wohl selten ist ein Debütroman so schnell in die Vollen gegangen. Die Vorwegnahme der Katastrophe ist dem Spannungsverlauf im weiteren Geschehen jedoch nicht abträglich, ganz im Gegenteil. Unmittelbar wird die Leserschaft hineingezogen - in die Kälte, den Schnee und die vergiftete Beziehung der beiden Hauptfiguren. Doch bei der zunehmenden Flatterhaftigkeit und Unzuverlässigkeit der Erzählstimme, die sich ganz auf Karo konzentriert, fragt man sich Schritt für Schritt einerseits, wie es zu dieser Tat kommen konnte, andererseits aber auch, ob es überhaupt wirklich dazu gekommen ist. Vielleicht spielt sich alles auch nur im Kopf einer der Figuren ab?

Das Rätsel um Wahrheit und Lüge und die Raffinesse der Romankonstruktion sind die großen Vorzüge von "Arctic Mirage". Terhi Kokkonen spielt mit den Leser:innen, die mit zunehmender Dauer nicht mehr wissen, was sie glauben und wem sie trauen können. Der Roman entfaltet in diesen Momenten eine subtile Spannung, der man sich schwer entziehen kann. Die von Beginn an bedrohliche Atmosphäre erreicht nach etwas mehr als zwei Dritteln ihren Spannungshöhepunkt.

Sprachlich passt sich Kokkonen dabei der Kälte des Settings an. Bis auf kurze poetisierende Ausbrüche zu Beginn und am Ende des Buches zeichnet sich "Arctic Mirage" durch Klarheit ohne große Abschweifungen aus. Dies ist einerseits durchaus angemessen, andererseits verhindert die Sprache dadurch auch, dass so etwas wie Empathie oder Mitgefühl bei den Leser:innen entstehen kann. Risto und Karo wirken in ihren stets von Wutausbrüchen oder Lamentieren geprägten Handlungen immer ein wenig abgehoben und fremd.

Ohnehin ist die Figurenkonzeption eher eine Schwäche des Romans. Neben den nicht greifbaren Protagonist:innen verschwendet die Autorin zu viel Zeit für Nebenfiguren, deren Wirken im letzten Drittel des Werks bisweilen einfach verpufft. Die zunächst als Kontrapunkte zu den Beziehungsgeschädigten eingeführten Hotelangestellten werden am Ende entweder nicht mehr berücksichtigt oder sie nehmen zu viel Raum ein - wie die Rezeptionsangestellte Sinikka, dessen zur Schau gestelltes Schicksal der eigentlichen Handlung kaum Impulse gibt und sich für die Dramaturgie des Romans sogar nachteilig auswirkt.

Ebenfalls nicht besonders gelungen ist die Auflösung im Finale, dessen Dialoglastigkeit nicht recht zu der zuvor doch so subtilen Spannung passen mag. Hinzu kommt, dass es "Arctic Mirage" hier doch ein Stück weit an Originalität fehlt, denn ähnliche Konstruktionen gibt es in der Literatur doch recht häufig.

Trotz aller Schwächen habe ich "Arctic Mirage" insgesamt aber gern gelesen, was vor allem an den ersten 130 Seiten lag. Und letztlich hat sich ja auch Danny im Overlook-Hotel aus den Fußstapfen seines Vaters befreien können. Mit Terhi Kokkonen, die für "Arctic Mirage" 2020 übrigens den Helsingin-Sanomat-Literaturpreis erhielt, gewinnt die ohnehin so vielfältige skandinavische Literaturszene jedenfalls eine weitere interessante Stimme.

3,5/5

Bewertung vom 23.01.2024
Lichtungen
Wolff, Iris

Lichtungen


sehr gut

Maramuresch, im Norden Rumäniens: Lev und Kato sind seit Kindheitstagen eng miteinander befreundet. Doch nach dem Ende des Ceauşescu-Regimes trennen sich ihre Wege. Während Kato gemeinsam mit ihrem Freund Tom als Straßenkünstlerin durch Europa zieht, sieht sich Lev noch nicht bereit, die Heimat zu verlassen. Als ihn eines Tages eine Nachricht von Kato erreicht, gerät er ins Grübeln. Der Inhalt: die drei folgenschweren Worte "Wann kommst du?"

Was hält eine Freundschaft aus, wenn einer den anderen verlässt? Wie viele Verluste kann man ertragen? Und wie definiert man eigentlich Heimat? Von diesen und anderen bedeutsamen Fragen schreibt Iris Wolff in ihrem neuen Roman "Lichtungen", der kürzlich bei Klett-Cotta erschienen ist.

Kennt man mehrere Werke der siebenbürgischen Autorin, sticht einem das Herzensthema Iris Wolffs unmittelbar ins Auge. Es ist der Umgang mit der Heimat, das Finden der Identität, die Auseinandersetzung mit der Sprache. So war es beispielsweise in "So tun, als ob es regnet" und so ist es auch in "Lichtungen". Protagonist Lev ist dabei eine Art Prototyp dieser Zerrissenheit, er ist die Minderheit innerhalb einer Minderheit. Da gibt es die siebenbürgisch-sächsische Mutter, den rumänischen Vater und den österreichischen Großvater. Und während Großvater Ferry, die wohl schillerndste Figur des Romans, glaubt, Zugehörigkeit sei vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung, kann oder will Lev genau diese nicht treffen. "Er verweigerte sich der Zuteilung in Deutsch oder Rumänisch", schreibt Wolff fast ein wenig lapidar relativ früh im Roman und setzt im Hinblick auf ihre Hauptfigur damit gleich einmal ein Ausrufezeichen.

Eine Überraschung im Hinblick auf die Erzählstruktur erfährt man sogar noch früher, denn "Lichtungen" beginnt mit Kapitel neun - und wird rückwärts erzählt. Wer sich nun etwas erschrocken an Inger-Maria Mahlkes Buchpreis-Gewinner "Archipel" erinnert, dem sei zur Beruhigung gesagt: Bei Iris Wolff funktioniert dieses rückwärtsgewandte Erzählen gut und gibt "Lichtungen" einen Originalitätsbonus, denn diese Art des Erzählens ist noch immer selten. Wobei der Roman gleichzeitig auch die Grenzen dieser Erzählart offenlegt. Denn tatsächlich gehen einige Nebenfiguren zu Beginn des Buches ein wenig unter, weil man sie als Leser:in schlicht noch nicht auf dem Schirm hat und sie erst viel später besser kennenlernt. Zudem nährt sich die Spannung nicht wie sonst üblich aus dem fortschreitenden Verlauf der Handlung, sondern aus dem Wissen, was bereits geschehen ist und wie es dazu kommen konnte.

Sprachlich glänzt "Lichtungen" durch die Mischung aus Poesie und feinsinniger Empathie der Autorin. Diese ist einerseits im liebevollen Umgang mit ihren Figuren zu erkennen, vor allem aber auch in den Szenen, in denen sich Lev als eine Art Anti-Kato auf den Weg in das Land Rumänien hineinbegibt, während Kato durch Europa reist. Die Menschen, Farben und Stimmungen, die Wolff hier beschreibt, sind nichts anderes als eine literarische Liebeserklärung an dieses vielfältige Land. Es sind ohnehin vor allem die leisen und melancholischen Momente, die sprachlich überzeugen und darüber hinwegsehen lassen, dass einige Szenen und poetischen Vergleiche vielleicht etwas zu bedeutungsschwer geraten sind.

Die titelgebenden "Lichtungen" sind die jeweiligen Erinnerungen, die dem Roman die inhaltliche Struktur vorgeben. So reisen wir gemeinsam mit dem anfangs erwachsenen Lev und dessen Wiedersehen mit Kato in Zürich zurück bis zum fünfjährigen Lev und einem ganz besonderen Moment mit seinem Vater, der dem Buch einen sprachlich und inhaltlich krönenden Abschluss bietet. Ohnehin sind es die einzelnen Szenen, die inhaltlich überzeugender sind als der Roman in seiner Gesamtheit. Die eigentliche Geschichte ist nämlich nicht sonderlich überraschend, muss sie aber vielleicht auch gar nicht sein, wenn sie insgesamt so warmherzig erzählt wird, wie es Iris Wolff gelingt.

"Lichtungen" ist insgesamt ein vor allem sprachlich gelungener Roman über Freundschaft, Liebe, Verlust und Identität, der zwar nicht ganz die Intensität von "So tun, als ob es regnet" erreicht, derselben Zielgruppe aber ohne Wenn und Aber ebenfalls gefallen sollte.

Bewertung vom 12.01.2024
DUMONT Bildband Orte zum Staunen in Deutschland
Nöldeke, Renate;Wolfmeier, Melanie;Ormo, Nadine

DUMONT Bildband Orte zum Staunen in Deutschland


ausgezeichnet

Nimmt man das neue Buch „Orte zum Staunen in Deutschland“ erstmals in die Hand, gerät man selbst ins Staunen. Zunächst einmal über das Gewicht. Denn der Bildband mit seinen großformatigen Seiten wiegt ganz schön schwer. Nichts also, was man sich mal eben in den Rucksack steckt und einfach drauflos wandert. Zum anderen staunt man über das Cover: eine exotische Pyramide, etwas aus Thailand und die Rocky Mountains - denkt man auf den ersten Blick. Das sollen Orte in Deutschland sein? 336 Seiten später ist man schlauer. Ja, die Fotos stammen tatsächlich aus Deutschland. Sie sind Teil der „52 überraschenden Entdeckungstouren“, die MairDumont im Untertitel verspricht.

Dieses Versprechen wird auf jeden Fall eingehalten, denn die Kategorisierung „Bildband“ greift viel zu kurz. Vielmehr ist das Buch eine riesige Inspirationsquelle. Und das mit dem Gewicht ist auch kein großes Problem, denn die „Orte zum Staunen in Deutschland“ verfügen über einen QR-Code, mit dem man sich sämtliche GPX-Daten der vorgestellten Wanderungen ganz einfach auf sein Smartphone laden kann.

Blickt man auf die Deutschlandkarte zu Beginn des Buches, erkennt man unmittelbar die Ausgewogenheit der Entdeckungstouren. Überraschend ist dabei die geographische Einteilung in die Abschnitte „Im Norden“, „Im Süden“ und – aufgepasst – „Im Herzen“, womit die gesamte deutsche Mitte von West nach Ost gemeint ist. Eine auch aus gesellschaftspolitischer Sicht wunderbare Entscheidung.

Die Texte zu den 52 Touren sind kurz und prägnant, die eigentliche Attraktion sind dann aber doch die hervorragenden Bilder. In den meisten Fällen sprechen diese für sich und machen große Lust, den jeweiligen Ort kennenzulernen. Die Typographie zu den Fotos ist eher Geschmackssache. Mir ist die schnörkelige Schreibschrift etwas zu verspielt, sie könnte jedoch vor allem Blogger:innen oder Influencer:innen durchaus ansprechen. Ergänzt wird jeder Ort um die Rubriken „Hin und weg“ und „Rund um…“. Letztere halte ich für rundum gelungen, da die Leserschaft dadurch weitere Tipps in der Umgebung erhält, wenn man sich beispielsweise für einen Urlaub mit Übernachtungen entscheidet. Die Rubrik „Hin und weg“ liefert Hinweise darauf, wie das Ziel am besten zu erreichen ist. Als Idealist gehe ich davon aus, dass Menschen, die gern in Deutschland Urlaub machen, auch gern nachhaltig reisen wollen. Deshalb ist ein kleiner Kritikpunkt an „Hin und weg“, dass es recht häufig heißt, das Ziel sei „am besten mit dem Auto“ anzusteuern. Ich habe einige der vermeintlich abgelegenen Orte mal in den Bahn-Navigator eingegeben und siehe da: Vieles lässt sich durchaus auch mit Bus und Bahn erreichen.

Ganz besonders gefreut hat mich, dass mein Herzensort, die Insel Neuwerk, den Weg in dieses Buch gefunden hat. Ein Beweis dafür, dass sich „Orte zum Staunen in Deutschland“ tatsächlich nicht auf ausgelatschten touristischen Wegen bewegt, sondern wirklich viele Überraschungen und Geheimtipps parat hat.

„Orte zum Staunen in Deutschland“ ist insgesamt ein beeindruckendes und liebevoll gestaltetes Buch, das nicht nur Deutschland-Urlauber:innen begeistern sollte, sondern auch denjenigen die Möglichkeit bietet, das Land zu erkunden, die bislang glaubten, Deutschland habe touristisch wenig zu bieten.