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luisa_loves_literature
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NRW

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Insgesamt 120 Bewertungen
Bewertung vom 13.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


gut

Die Lyrikerin Doireannn Ní Ghríofa beschreibt in ihrem autofiktionalen Erstlingswerk, wie sie während der Still- und Kleinkindzeiten ihrer Kinder über das Leben und Dichten der Irin Eibhlìn Dubh stolpert, welches sie in der Folge nicht mehr loslässt. Fast obsessiv fühlt sich die junge Mutter zu der Frau aus dem 18. Jahrhundert hingezogen, besonders weil über diese so wenig bekannt ist. Die Erzählerin beginnt eine Spurensuche, die zwischen Imaginiertem und Fakten angesiedelt ist, dreht jede noch so kleine Porzellanscherbe um und lernt in dem Prozess immer mehr über sich selbst, den Fluch und Segen von Weiblichkeit und Mutterschaft.

„Ein Geist in der Kehle“ ist unbestritten ein innovatives und sehr kluges Buch. Das durch den Roman refrainartig hallende „Dies ist ein weiblicher Text“, das auch recht werbewirksam auf dem Cover vermerkt ist, umschreibt das Anliegen der Autofiktion: es ist eine Studie weiblicher Beschränkung, Marginalisierung und Pflichtverbundenheit, die sehr deutlich den Fokus auf die Tatsache richtet, wie viele weibliche Stimmen und Texte uns im Verlauf der Jahrhunderte wohl verloren gegangen sind. Frauen waren eher den mündlichen Überlieferungen (wie z.B. bei Märchenerzählungen) als der Verschriftlichung verbunden – nicht zuletzt aus Mangel an (Frei-)Zeit und Bildung. Auf diese Unstimmigkeit richtet die Autorin ihr Augenmerk und verbindet sie mit der Wahrnehmung ihrer selbst, während der sie feststellt, dass sie aus sehr viel Körper und Körperlichkeit besteht. Für sie ist z.B. das Gebären und das Stillen auch eine Form des weiblichen Textes. Sie misst der Funktionstüchtigkeit ihres weiblichen Körpers viel Bedeutung bei, reflektiert über das Ende ihrer Fruchtbarkeit und ihres Lebens.

All diese Gedanken sind in Episoden der Selbstbeschreibung, kleinerer und größerer Ereignisse und natürlich in die Forschung zu Eibhlìn Dubh eingebunden. Sie bilden den roten Faden des Textes, können aber leider nicht verhindern, dass man sich als Leser über weite Teile des Romans langweilt. Die fortdauernde und nicht immer ganz schlüssig verbundene Introspektion und Selbstreflexion ermüden und können nur selten fesseln – zumal der Gedanke weiblicher Marginalisierung und Sprachlosigkeit überhaupt nicht neu ist. So gerät der Text zum Denkmal einer möglicherweise zu Unrecht vergessenen Dichterin und zum Ausdruck der Selbstbespieglung einer Frau, die einen nicht unerheblichen Teil ihres Selbstwerts an ihrer Funktionsfähigkeit als nährende Mutter bindet.

Sprachlich ist der Roman gelungen. Doireann Ní Ghríofas lyrisches Talent scheint auf jeder Seite durch, es hat seinen eigenen melodischen Fluss, der von den Übersetzern grundsätzlich gut eingefangen wurde. Allerdings muss man die Übersetzer/das Lektorat bei diesem Roman ganz ausdrücklich kritisieren. Ich finde es gelinde gesagt unsäglich und unerträglich, einem aus dem Englischen übersetzten literarischen Text die deutsche Gendermanie aufzuzwingen. Im Englischen gendert man nicht – es ist eine germanische Sprache, die ebenso wie das Deutsche übrigens – inklusiv ist. „Reader“ sind alle Leser – egal welchen Geschlechts. Und so findet sich im Original des Romans, der ja sogar eine sehr ausdrückliche Beschäftigung mit Weiblichkeit und ihren Implikationen ist, folgende Passage: „I know I should be grateful to the many translators and scholars…“ Ich sehe hier kein Gendern, kein „male and female translators and scholars“ (diese Möglichkeit hat das Englische ja durchaus!). Trotzdem macht die deutsche Übersetzung daraus: „Ich weiß, dass ich den vielen Übersetzer:innen und Wissenschaftler:innen dankbar sein sollte…”. Nicht nur, dass das so im Original tatsächlich nicht steht, hier wird eine durchaus fragwürdige deutsche Formulierung genutzt und einem literarischen Text eine Lesart aufgezwungen, die so schlichtweg nicht gegeben ist. Das ist ärgerlich, überflüssig und äußerst störend – zumal dies nicht das einzige Bespiel ist. Egal, ob Anhänger des Genderns oder nicht: beim literarischen Übersetzen sollte doch der Ursprungstext bestimmen, wie gelesen wird.

Bewertung vom 15.02.2023
Andere Sterne
Rishøi, Ingvild H.

Andere Sterne


sehr gut

„Andere Sterne“ ist die etwas andere Weihnachtsgeschichte, die den Traum von Weihnachten dennoch sehr eindrücklich einfängt. Ronja wünscht sich ein paar einfache Dinge: dass ihr Vater weniger trinkt, nicht in Bars geht, sich um sie kümmert, eine Arbeit hat und ihr Geborgenheit schenkt. All diese Dinge sollten mehr oder weniger selbstverständlich sein, doch Ronjas Vater scheitert regelmäßig daran und so sind sie und ihre Schwester auf sich selbst gestellt.

Ingvild H. Rishoi ist eine nachdenklich stimmende, berührende, völlig kitschfreie und sehr moderne Weihnachtserzählung gelungen, die nicht nur das heutige Oslo überzeugend in Szene setzt, sondern auch auf wenigen Seiten das Seelenleben einer Grundschülerinnen, die täglichen Herausforderungen im Umgang mit dem immer wieder hinweggleitenden und unzuverlässigen Vater und die Sehnsucht nach dem kleinen bisschen Glück sehr stimmungsvoll darstellt. Besonders auch die Darstellung der Hilfsbereitschaft verschiedener Männerfiguren ist ihr geglückt, unterläuft sie damit doch auch gängige Handlungskonzeptionen und Lesererwartungen. Ebenso gelungen ist auch der verantwortungsvolle Zusammenhalt des Schwestern-Duos – in Abwesenheit von elterlicher Fürsorge spendet man sich gegenseitig Trost und Nähe.

Für mich ist „Andere Sterne“, das mit seinem wunderbaren Schluss bei mir Erinnerungen an H.C. Andersens „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ weckte, eine sehr gelungene zeitgenössische Erzählung für einen ganz besonderen Blick auf den Zauber von Weihnachten.

Bewertung vom 18.12.2022
Voll aufgedreht! / Gregs Tagebuch Bd.17
Kinney, Jeff

Voll aufgedreht! / Gregs Tagebuch Bd.17


sehr gut

Auch im 17. Band von Gregs Tagebuch geht es wieder rund. Dieses Mal kommen Rockfans voll auf ihre Kosten, denn Greg wird zum Helfer der Band „Folle Vindl“ seines Bruders Rodrick befördert, wo er eine kleine Karriere vom Träger bis zum Gitarristen durchläuft. Auch wenn Greg in diesem Band natürlich mit von der Partie ist, geht es in dem Roman sehr viel um Rodrick und seinen Traum vom Erfolg, der mit viel Werbung und Tipps von seinen Idolen wahr werden soll.

Zwar spielen Rupert und Manny fast keine Rolle in diesem Roman, was etwas schade ist, aber das Buch sorgt dennoch für viel Lesespaß, vor allem weil man als Leser so sehr viel Einblick in Rodricks Leben bekommt. Gewohnt witzig ist der Roman auf jeden Fall, er gehört unbedingt zu den guten Tagebüchern von Greg. Unvergesslich lustige Szenen spielen sich z.B. ab, wenn die Band zu streiten beginnt oder sich auf ungewöhnliche Weise versucht, sich Drumsticks zu verbessern.

Wie üblich ist auch diese Gregs Tagebuch mit zahlreichen sehr passenden und kreativen Zeichnungen geschmückt, die die Handlung zusätzlich illustrieren und das Vergnügen noch vergrößern.

„Voll aufgedreht“ ist eine große Leseempfehlung für alle Greg-Liebhaber und Rodrick-Freunde. Schön, dass hier einmal der Fokus auf dem großen Bruder liegt – dies sorgt für Abwechslung in Gregs Welt.

Bewertung vom 16.12.2022
Aquitania
Garcia Saenz, Eva

Aquitania


gut

Eleonore von Aquitanien, die wohl schillerndste weibliche Persönlichkeit des Mittelalters, steht im Mittelpunkt des Romans von Eva García Sáenz, der sie durch ihre jungen Jahre begleitet. Der Leser erlebt Eleonore als willensstarke, sehr entschlossene, berechnend planende und hochintelligente Frau, die sich ihres Erbes und Standes in jeder Sekunde bewusst ist und verpflichtet fühlt. Tiefere Einsichten in ihre Gedanken und Motive werden durch die Wahl der Erzählweise ermöglicht, die zwischen der Ich-Perspektive Eleonores und der ihres Gemahls Louis wechselt. Bezeichnenderweise befassen sich auch die Kapitel, die aus der Sicht von Louis geschildert werden, hauptsächlich mit Eleonore, ihrem Wirken und vor allem ihrer Wirkung. Unterbrochen wird diese sich abwechselnde Erzählweise von Rückblicken, in denen sich nach und nach ein Geheimnis entfaltet, das eng mit der gesamten Handlung verbunden ist.

Der Roman ist ausgezeichnet recherchiert und mit viel Begeisterung für Eleonore geschrieben, davon zeugt der wirklich vorzügliche Anhang, der umfassende, weiterführende Literatur aufführt und von die Liebe der Autorin zum Detail zeigt. Leider spiegelt sich dieses Herzblut nur bedingt im Text wieder. Zwar versucht der durchaus anspruchsvolle Roman sich auf jeder Ebene Eleonore anzunähern, aber die Geschichte und Figuren bleiben doch seltsam blutleer und ist auch nicht so üppig und detailliert ausgestaltet wie der Rechercheaufwand vermuten lässt. Auch wenn ich den Roman mit großem Interesse gelesen habe und seine Erzählweise für kurzweilige und faszinierende Lesemomente sorgte, konnte er mich leider nicht vollends mitreißen. Bisweilen entstand für mich der Eindruck, dass die Aufklärung des Geheimnisses sowie die Erläuterung und Einbindung realer historischer Figuren und Ereignisse Vorrang vor einer schlüssigen und nachvollziehbaren Charakterentwicklung und einem fesselnden Erzählfluss hatte. So hielt mich der Text doch stets auf Distanz, da hätte ich mir einfach ein packenderes Leseerlebnis gewünscht. Insgesamt ist „Aquitania“ dennoch ein lehrreicher historischer Roman, der sich für alle eignet, die sich eine gut recherchierte Romanbiografie zu Eleonore von Aquitanien wünschen.

Bewertung vom 05.12.2022
Meine bessere Schwester
Wait, Rebecca

Meine bessere Schwester


sehr gut

Rebecca Waits frecher, humorvoller und bedrückender Roman “Meine bessere Schwester” enthüllt toxische Familiendynamiken und belastete Geschwisterbeziehungen. Schonungslos und mit sehr feiner Beobachtungsgabe werden die Rivalitäten zwischen Kindern und die einzigartigen, sehr unterschiedlichen Beziehungsgeflechte zwischen Eltern und Kindern ausgelotet. Die Autorin schreckt nicht vor unangenehmen Wahrheiten zurück. Es gelingt ihr hervorragend sich in jede ihrer Figuren ausgiebig einzufühlen, herauszuarbeiten, warum diese so fühlt und wieso sie sich nur so verhalten kann. Bezeichnenderweise wirbt sie bei aller Empathie nicht um die Sympathie des Lesers für ihre wirklich sehr beladenen Figuren. So gelingt ihr eine faszinierende Balance zwischen scharfsinnigen Einzelporträts und einem umfassenden Familiengemälde, beherrscht von starken Charakteren mit sehr unterschiedlichen Einzelinteressen. Durch die zwischen neutral und ironisch-distanziert schwankende Erzählweise werden hochdramatische Momente vermieden, dafür gibt es zahlreiche humorvolle Beschreibungen und lustige Situationen, die den Leser zum Lachen bringen.
Handlungstechnisch ist der zeitliche Verlauf bisweilen etwas verwirrend, die Handlung springt zwischen Gegenwart und Rückblicken munter hin und her, es gibt sehr viele Personen, die die Handlung bevölkern, insgesamt hätte sicherlich etwas gestrafft werden können, auch wenn die Rückbliche natürlich absolut unerlässlich sind, um z.B. das Verhalten und die Handlungsoptionen der Mutter Celia zu verstehen.
Im Übrigen hätte ich mir im Klappentext einen deutlichen Verweis darauf gewünscht, dass dieser Roman als wesentliches Thema psychische Erkrankungen/Störungen behandelt (u.a. Schizophrenie und Psychosen). Ich weiß, dass dies Bereiche sind, mit denen viele Leser auch nicht konfrontiert werden möchten, selbst ich fühlte mich da etwas überrumpelt, als der leichte Ton in die Untiefen von Paranoia und Wahnvorstellungen glitt.
Insgesamt ist „Meine bessere Schwester“, dessen Originaltitel „I’m Sorry You Feel That Way“ eigentlich sehr viel besser umschreibt, worum es in diesem Roman geht – um Dominanz, Desinteresse, Ausnutzen von Beziehungen zum eigenen seelischen Vorteil, Oberflächlichkeit und falsches Mitgefühl – eine unterhaltsame, bissige, psychologisch detaillierte und überzeugende Familiengeschichte, in der wir alle etwas von uns wiederfinden können.

Bewertung vom 13.11.2022
Der Pfirsichgarten
Fu, Melissa

Der Pfirsichgarten


ausgezeichnet

Wer auf der Suche nach einem wunderbaren, gut erzählten und mitreißenden Schmöker für graue Herbsttage ist, der sollte sich von Melissa Fu in den „Pfirsichgarten“ entführen lassen. Ich bin ein großer Fan von Lisa Sees Romanen, die das Schicksal von chinesischen Auswanderern in den USA betrachten, und daher war für mich thematisch vorab eigentlich schon klar, dass „Der Pfirsichgarten“ das Zeug zum Volltreffer hat. Umso begeisterter bin ich, dass es sich tatsächlich so verhält.

Der Roman ist ein großangelegtes Familienepos, das in den Wirren um den Zweiten Weltkrieg in China und in der Bedrohung durch die Japaner seinen Ausgangspunkt nimmt. In sehr anschaulichen, teilweise auch erschütternden Szenen begleitet man Meilin bei der Suche nach einer Zuflucht für sich und ihren Sohn Renshu. Immer wieder vertrieben und beständig zu einem Neuanfang gezwungen, liegt die Heimat der beiden letztlich in einer kunstvollen bemalten Seidenrolle, die Meilin zu vielen traditionellen Geschichten inspiriert, die sie mit ihrem Sohn und dem Leser teilt. Besonders dieser Teil der Wanderschaft durch China, der auf elegante Weise mit der chinesischen Kultur verbunden wird, ist sehr überzeugend. Das Schicksal der Figuren wird greifbar und nachvollziehbar dargestellt, dazu gehören sowohl die Rivalitäten zwischen Meilin und ihrer Schwägerin als auch die schwer einzuordnende Fürsorge durch ihren Schwager oder auch das Mitgefühl und der Zusammenhalt unter Frauen in der Fremde.

Ebenso gelungen ist kontextuell die Einbeziehung der politischen Ereignisse Chinas. An keiner Stelle des Romans gibt es referatsartige Informationspassagen, stattdessen werden die Figuren persönlich zum Spielball der chinesischen und internationalen Politik, bekommen am eigenen Leib die Entscheidungen und Geschehnisse auf der obersten Ebene zu spüren, werden durch Landsleute selbst im Ausland in ihren Freiheiten eingeschränkt – Renshus/Henrys Ängste an der Uni in den USA können hier als Sinnbild gelten. Ohne dass mir auch nur an einer Stelle ganz konkret die Auseinandersetzungen zwischen Chiang Kai-Shek und Mao Zedong bzw. den Kuomintang und den Kommunisten erläutert wurden, bin ich doch nach der Lektüre des Romans in der Lage zumindest in groben Zügen die heute bestehenden Differenzen zwischen Taiwan und China historisch zu erklären. Die Autorin versetzt einen immer wieder in die Lage, sich durch die von ihr nur begleitend eingesetzten historischen und politischen Ausführungen, einen umfassenden Reim auf das Geschehen zu machen. Das halte ich für absolut gut gelungen. Hier wird nichts erklärt, man ist an der Seite der Figuren ein Teil der Geschichte. Wie sie erfährt man die Zusammenhänge nur allmählich. Die Unsicherheit angesichts kleinerer und großer Veränderungen wird so auch für den Leser äußerst spürbar.

Spannend ist auch der Wechsel des Fokus des Romans. Da er mehrere Generationen umspannt, rücken die verschiedenen Teile und Jahrzehnte auch einen jeweils anderen Protagonisten mit zeitlich und lokal sehr passenden, typischen und überzeugenden Herausforderungen in den Fokus. Dieser Wechsel von Generation zu Generation geht äußerst harmonisch in einem sanften, fließenden Übergang vonstatten.

„Der Pfirsichgarten“ ist ein sprachlich schönes, gelungenes, sehr lehrreiches und begeisterndes Familienepos – darüber, dass es literarisch nicht zu allerhöchster Form aufläuft, kann ich sehr gut hinwegsehen, denn es ist faszinierend, lebendig, spannend, interessant, in seiner Kontextualisierung überaus elegant, verliert nie sein Ziel aus den Augen und hat mich einfach vollkommen abgeholt. Eine absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 28.10.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


sehr gut

„Intimitäten“ – ein Wort, das wie eine leicht verniedlichende Beschönigung daherkommt, entwickelt in Katie Kitamuras ruhigem und faszinierenden Roman eine besondere Dynamik. Denn auch wenn „echte“ Intimitäten durchaus eine Rolle spielen, wird Intimität in diesem feinen und stilistisch vorzüglichen Roman durch Kommunikation und – ganz besonders –Sprache erzeugt. Die Protagonistin, Dolmetscherin am Strafgerichtshof in Den Haag, fühlt sich fremd in der Stadt, fremd in der niederländischen Sprache, die sie aber zu entschlüsseln versucht, fremd in der Beziehung zu Adriaan, einem verheirateten Mann, dessen Frau ihn verlassen hat. In ihrer Arbeit wird ihr die komplexe Bedeutung des Wortes ebenso jeden Tag vor Augen geführt, wie die intime Bindung des Wortes an Aussprache und Intonation. Als Übersetzerin ist sie stets auf der Suche nach der geeigneten Entsprechung, muss aber die Herausforderung der Nuancen und der Intonation täglich anerkennen.

So wird der Roman zu einem Meisterstück der Ausleuchtung von Möglichkeiten und Grenzen der Übersetzung, Sprache und Kommunikation, wobei mit zunehmendem Handlungsverlauf immer deutlicher wird, wie außerordentlich intim und beredt vor allem die nonverbalen Signale sind. Während der Roman immer stärker ins Ungesagte gleitet, das Schweigen immer prominenter wird, werden Gesten, Blicke, die ersten zehn Sekunden einer Begegnung, ein Kopfnicken und das äußere Erscheinungsbild zu unüberhörbaren , sehr persönlichen und vertraulichen Signalen – und man stellt fest, wie viel Information (und Wahrheit) auch jenseits der verbalen Äußerungen liegt, wie viel Nähe und Intimität auf dieser Ebene vergeben wird. Der Text wird so zur überaus intelligenten Reflexion über das Zwischenmenschliche, das Beobachtbare. Während der Roman auf der Handlungsebene äußerst ruhig und zurückhaltend durch die nicht sonderlich spektakuläre Handlung gleitet, lauert doch stets unter Fassade eine intensive Spannung, die einen gebannt den Fortgang des Geschehens verfolgen lässt. Dabei entzieht sich der Roman weitestgehend der Politisierung, die man vielleicht bei dem Setting des Strafgerichtshof erwarten würde, es geht vielmehr um Themen wie Heimat, Entwurzelung, Beziehung, Freundschaft und Zugehörigkeit – auch hier bezeichnend, dass schon eine kommunizierte Geschichte Wurzeln und Nähe schaffen kann.

„Intimitäten“ ist ein äußerst kluger Roman, faszinierend, einnehmend und fesselnd, der mit seinen ruhigen Zwischentönen Intimität mit dem Leser schafft. Sprachlich sehr beherrscht und stilistisch hervorragend konsequent schlägt er in seinen Bann und wirbt für mehr Aufmerksamkeit in Bezug auf Sprache und Kommunikation.

Bewertung vom 06.10.2022
Matrix
Groff, Lauren

Matrix


sehr gut

In „Matrix“ überstrahlt die junge, unansehnliche Marie alles. Von ihrer angeheirateten Halbschwester Eleonore von Aquitanien (die Familienverhältnisse werden von Lauren Groff alles andere als nachvollziehbar dargelegt, sodass es in mir immer wieder rief „Falsch!“ bis in der zweiten Hälfte des Romans schließlich doch deutlich gemacht wurde, dass die Verwandtschaft über Eleonores Ehemann, den Plantagenet-König Henry II. gegeben war) mit siebzehn Jahren in ein heruntergekommenes Nonnenkloster verbannt, macht sich Marie daran, ihre (Führungs-)Qualitäten zu entdecken und das Leben und die Gemeinschaft der frommen Frauen zu einer neuen Blüte zu führen. Im Fokus ihrer Bemühungen steht der maximale Schutz der ihr anvertrauten Frauen und die größtmögliche Unabhängigkeit und Autonomie von der männlich dominierten Kirche und Außenwelt. Geleitet von Visionen, in denen die Jungfrau Maria ihr den Weg zeigt, erschafft sie fantastisch anmutende Bauten, erdenkt strategische Winkelzüge und entwickelt sich zur allseits von Frauen verehrten Lichtgestalt des weiblichen Mittelalters. Prägend für ihren Lebensweg bleibt die komplexe Liebe für Königin Eleonore.

Der Roman ist die Geschichte eines weiblichen Traums von Selbstbestimmung, fern von männlichen Hierarchien, patriarchalischer Unterdrückung und Bevormundung. Lauren Groff setzt mittelalterliches female empowerment mitreißend und in einem ganz eigenen Stil in Szene – ich habe den Roman verschlungen und mit sehr viel Freude gelesen, denn das Klosterleben ist bei Groff alles andere als langweilig und alltäglich, eine Gemeinschaft von Frauen birgt so manche Herausforderung. Die Figuren, die den Roman bevölkern, werden häufig eher stereotyp charakterisiert, ihre Rolle (Priorin, Infirmarin, Herbergsmutter etc.) steht über einer eigentlichen Auseinandersetzung mit ihrem Wesen, nicht zuletzt weil die Protagonistin Marie alles überstrahlt – sie dient als Fokalisierungsinstanz und kommt in ihren Berichten über ihre Visionen auch selbst zu Wort. Großartiger Weise befasst sich der Roman über weite Strecken mit Maries mittleren Lebensjahren, also ihrem persönlichen „Mittelalter“ - auch das eine sehr besondere, gute Leseerfahrung. Männerfiguren, die tatsächlich als solche bezeichnet werden können, sucht man in diesem Roman vergeblich. In einem feinen Kniff, der die Message ihres Romans unterstreicht, verbannt Groff alle Männer an den Rand des Geschehens. Mir fällt keine einzige männliche Figur ein, die namentlich erwähnt wird oder überhaupt einen Satz sagen dürfte – hier wird die Marginalisierung des Mannes auf die Spitze getrieben und dies auf eine unfassbar elegante und feine Art, dass der Roman in keiner Weise plakativ und hyperfeministisch (wie andere Werke der jüngeren Zeit) daherkommt, sondern auf sehr subtile Art deutlich macht, wie eine Welt, die von (mehr) Frauen geführt werden würde, aussehen könnte. Nicht ganz so gelungen sind die immer wieder aufkommenden Kommentare des Romans zum Klimawandel, sie wirken doch leicht anachronistisch und übertrieben visionär in ihrer offensiv didaktischen Absicht. Darauf hätte ich leichten Herzens verzichten können.

Sprache und Stil des Romans passen hervorragend zur Materie, der Roman wurde ganz ausgezeichnet von Stefanie Jacobs übersetzt. Man fliegt trotz der sehr niveau- und gehaltvollen Sprache nur durch die Seiten, an keiner Stelle knirscht es und der Text hat seinen ganz eigenen Klang. Ein großes Kompliment an die Übersetzerin!

Insgesamt ein absolut empfehlenswerter Blick auf das weibliche Mittelalter, den Anfang einer neuen Ära und eine faszinierende Frau, deren Schicksal Lauren Groff auf bravouröse Weise ausmalt und erlebbar macht.

Bewertung vom 27.09.2022
Susanna
Capus, Alex

Susanna


sehr gut

Oh! Susanna! Was für ein Lebensweg, was für eine Geschichte! Alex Capus greift sich aus dem Fundus der weniger geläufigen historischen Figuren die Porträtmalerin Susanna Faesch heraus, die heute hauptsächlich für ihr (unter künstlerischen Aspekten eher wenig herausragendes) Porträt von Sitting Bull, einem der berühmtesten Sioux bekannt ist. Aus den verbürgten Fakten webt Capus einen faszinierenden historischen Roman, der unfassbar modern wirkt, da er auf vollkommen auf geschraubte Plüschigkeit verzichtet und auch ohne gespreizte, hochtrabende Dialoge auskommt – im Gegenteil: das Buch „Susanna“ ist auf beeindruckende Weise so rational und no-nonsense wie seine Protagonistin, deren Wille zur Rebellion und drängende Durchsetzungskraft sich schon in den ersten Kapiteln bemerkbar macht, als sie sich gegen den „Wilden Mann“ in Basel zur Wehr setzt (ein Ereignis, dass im Hinblick auf ihr weiteres Leben prägend erscheint).

Mit sehr viel Feingefühl und ergänzt durch wohldosiert eingesetzte Kommentare der auktorialen Erzählinstanz wird Susannas ungewöhnliche Reise nach und durch Amerika in Szene gesetzt. Der Text macht den Pioniergeist des 19. Jahrhunderts erlebbar und nutzt die Aufbruchsstimmung und den Wandel der Zeit um Susannas Leidenschaft für Selbstbestimmung und ihre Neugier auf Abenteuer reizvoll und sehr lesbar aufzubereiten. Selbst in den Passagen, in denen Susannas Leben nicht mehr vom Fleck zu kommen scheint, bietet der quirlige Kontext des aufstrebenden New Yorks des 19. Jahrhunderts, in dem gerade an der Brooklyn Bridge gebaut wird, seine kulturelle Szene mit den Dandys und den Wild West Shows von Buffalo Bill eine Fülle von Ablenkungen, sodass auch der Leser keine Chance hat, sich zu langweilen. Neben Susannas Werdegang liefert Capus auch sehr detaillierte Einblicke in die Vergangenheit ihres Vaters, der einst in der französischen Fremdenlegion diente, und die ihres Stiefvaters, vermeintlicher Aufrüher aus Dortmund. Bei all den bunten Beschreibungen aus der Lebenswelt dieser Figuren, bleibt die Erzählinstanz auf fast unnachahmliche Weise stets elegant-distanziert zurückhaltend und bietet recht wenig Einblick in das Seelenleben der Figuren – die Handlungsmotive bleiben bisweilen etwas opak. Dies würde mich bei fast jedem anderen Roman mit Sicherheit ziemlich stören, hier passt es einfach ganz famos ins Gesamtkonzept, denn es verhindert ausufernde Spekulationen über das Seelenleben der Figuren, macht Susanna zu einer mysteriöseren Figur, verleiht ihr mehr Eigenleben und Stärke und lässt dem Leser noch Raum für eigene Mutmaßungen. Mit diesem Roman betritt man quasi ein ausgezeichnetes Museum, das einen inspiriert sich mehr mit Susanna Faesch, ihrer Zeit und den Ereignissen, die ihr Leben bestimmten, auseinanderzusetzen.

„Susanna“ wäre ein rundum lesenswerter, empfehlenswerter Roman über eine Frau und ihren eigenen Weg, wenn nicht das sehr enttäuschende Ende wäre. Sicherlich hat der so gestaltete Schluss seine interpretatorische Berechtigung, aber im Vergleich zu dem Wirbelwind aus erzählerischer Kraft, den das Buch über so viele Seiten entfaltet hat, verflacht das Ende doch sehr antiklimaktisch - wie ein laue Brise über dem sonnenverbrannten Gras der weiten Prärie.

Bewertung vom 23.09.2022
Abgrund
Quintana, Pilar

Abgrund


sehr gut

Das kleine Mädchen Claudia lebt mit ihrer Mutter gleichen Namens und ihrem Vater, der um viele Jahre älter als seine Frau ist, in einer Wohnung voller Pflanzen. So wie ihr Zuhause einem Dschungel gleicht, so undurchdringlich und voller Gefahren erscheint ihr auch das Leben der Erwachsenen. Dies wird besonders in dem Moment deutlich, in dem Claudias Mutter und der jüngere Lebenspartner ihrer Tante sich füreinander zu interessieren beginnen und das dem Kind bekannte, so verlässliche Konstrukt aus Vater-Mutter-Tochter mehr und mehr zu einem Tanz entlang des Abgrunds wird.

Der Roman zeichnet sich dadurch aus, dass er Claudias Perspektive und ihre begrenzten Erkenntnishorizonte mit ihrer unzuverlässigen Erzählstimme geradezu perfekt ausleuchtet. Vieles wird nicht gesagt, ausgelassen, nicht weiter erörtert – einfach deshalb, weil es Claudias Fassungsvermögen völlig übersteigt. Das ist sehr eindrucksvoll und gibt dem Leser nicht nur sehr viel Raum zu eigenen Interpretationen, es erzeugt auch ein bedrohliche Grundstimmung: denn die Situationen, die Claudia nicht versteht, die am Rande ihrer Wahrnehmung liegen, erschaffen in ihr eine latente Angst und Sorge, besonders hinsichtlich ihrer Mutter, die immer wieder mit psychischen Problemen zu kämpfen hat, die sie „Heuschnupfen“ nennt. Dadurch dass Claudia mit der familiären Situation, aber auch mit einem grundlegenden Verständnis der Lage ihrer Eltern überfordert ist, bleiben die erwachsenen Figuren recht mysteriös. Trotz aller Hintergrundinformationen zu Herkunft und Werdegang, die recht detailliert dargeboten werden, kommt Claudia ihren Eltern nie wirklich nahe – und so geht es dann auch dem Leser.

„Abgrund“ ist ein faszinierender Roman, der den Dschungel des Lebens dem Abgrund der Krankheit und des Todes gegenüberstellt und auf feinfühlige Weise einen Einblick in eine Kinderseele gewährt, die sich Sprachlosigkeit und einer depressiven Mutter gegenübersieht und mit der Problematik sehr allein gelassen wird. Eine authentische Erzählstimme in einer eindrücklichen Geschichte, die allerdings nicht vollends zu berühren vermag.